Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1

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Europas Brutalität


LeitartikelDer Kontinent scheitert an den eigenen humanitären Ansprüchen.


D


er Ausruf »Nie wieder!« war in Deutschland bisher
mit den dunkelsten Momenten seiner Geschichte
verbunden, es war die historische Lehre aus der
deutschen Schuld. Jetzt gibt es ein neues deutsches
»Nie wieder!«. Die Flüchtlingskrise, heißt es, dürfe
sich nicht wiederholen, die Berliner Politik beschwört
das in diesen Tagen unaufhörlich.
Der Ausruf »Willkommen!« ist aus dem Wortschatz
der deutschen Politik gestrichen. Stattdessen herrscht vor
allem in der Union eine Rhetorik der Abschreckung.
»Wir müssen klarmachen, dass unsere Grenzen nicht
geöffnet sind« (Horst Seehofer), »Es gibt keine Chance,
nach Deutschland zu kommen« (Alexander Dobrindt),
»Wir können euch hier nicht
aufnehmen« (Friedrich
Merz). Die Bundesregie-
rung twittert Nachrichten
der Abwehr in die Welt
auf Arabisch und Persisch:
Bleibt, wo ihr seid! Sogar
die Grünen sprechen von
»Recht und Ordnung«
oder von »Humanität und
Ordnung«, immerhin.
So gut wie niemand hat
Griechenland dafür kritisiert,
dass es das Asylrecht für
Neuankömmlinge vorüber -
gehend ausgesetzt hat,
im Gegenteil, die Politik
begegnet der Gefahr einer
Völkerrechtsverletzung
mit Verständnis. Kommis -
sionspräsidentin Ursula von
der Leyen nennt Griechenland den »Schild Europas«.
»Wir werden die Stellung halten«, sagt sie. Es ist das
Vokabular eines Krieges.
Diese Assoziation wecken auch die Bilder von Europas
Außengrenze, von dem brutalen Abwehrkampf, der
dort mit Stacheldraht und Tränengas, Schlagstöcken und
Gewehren, mit Schüssen in die Luft und ins Wasser
gegen Flüchtlinge geführt wird. Die Mauer, für die wir
US-Präsident Donald Trump kritisiert haben, steht auch
an der Grenze Europas.
Wie soll man das zusammenbringen? Zwischen den
Bildern von den griechischen Inseln und der türkischen
Grenze sowie dem Anspruch von Humanität, für den
Europa steht und ohne den es nicht denkbar ist, klafft eine
riesige Lücke. Das spürt natürlich auch die Politik, manch-
mal schwankt sie deshalb zwischen Abschottung und
Menschlichkeit. Immerhin wollte Seehofer 5000 Kinder
aufnehmen. Doch leider sieht es im Moment so aus, als
werde er das nicht durchsetzen.

Der Preis, den Deutschland und Europa für den Moment
der Humanität 2015 gezahlt haben, war ungeheuer hoch –
die Spaltung der EU, vielleicht sogar bis zum Brexit, das
Erstarken der Rechtspopulisten in vielen EU-Ländern, in
Deutschland hat sich die AfD im Parteiensystem etabliert,
die Volksparteien haben große Teile ihrer Wählerschaft
verloren, auch wegen der Flüchtlingsfrage.
Selbst viele, die nichts dagegen haben, in einem multi-
kulturellen Land zu leben, die persönlich offen dafür sind,
dass Deutschland und Europa mehr, vielleicht sogar viel
mehr Flüchtlinge aufnehmen, sorgen sich, was das für ihre
Gesellschaften bedeutet. Ist es zu verantworten, wenn
die Aufnahme von Flüchtlingen den Zusammenhalt der
EU und vielleicht mancher-
orts sogar die Demokratie
gefährdet?
Der Schock von 2015 hat
das Pendel in Richtung
Abschottung ausschlagen
lassen. Aus Angst, Flücht -
linge zu ermutigen, lässt
Europa eine Brutalität zu,
die es nicht akzeptieren
kann. Und die nicht nötig
ist. Denn Europa kann
viel mehr tun. Das Abkom-
men mit der Türkei war
der richtige Weg, um zu
ver hindern, dass sich Mil -
lionen Syrer auf den
Weg nach Europa machen.
Deshalb muss die EU
die Türkei weiter und
stärker unter stützen, sie
übernimmt da mit noch immer nur einen Teil der Kosten,
die das Land für die Aufnahme von mehr als dreieinhalb
Millionen syrischen Flüchtlingen trägt. Europa muss
Griechenland helfen, damit es endlich in der Europäischen
Union keine Lager mehr gibt, die nicht weniger schlimm
sind als manches, was wir aus den ärmsten Gegenden der
Welt kennen.
Auf die türkische Forderung nach Unterstützung durch
die Nato sollte Europa dagegen nicht eingehen. Es darf sich
nicht in einen Krieg gegen Russland hineinziehen lassen.
Stattdessen muss es auf Russland und die Türkei einwirken,
damit im Norden Syriens eine Schutzzone für humanitäre
Hilfe entsteht. Und es sollte bereit sein, eine solche Zone
notfalls auch militärisch zu sichern, denn eine Schutzzone,
die niemand schützt, kann nicht funktionieren. Und
Deutschland kann mehr Menschen aufnehmen, notfalls
auch in einer Koalition der Willigen. Das können wir
uns schon noch zutrauen: ein Kontingent der Schwächsten
und am schlimmsten Betroffenen.Christiane Hoffmann

UMIT BEKTAS / REUTERS
Syrisches Flüchtlingskind bei Idlib

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DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020
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