auszusetzen, und beruft sich dabei auf eine
»Notlage«, die durch das EU-Recht ge-
deckt sei. Kritiker sehen darin einen rechts-
widrigen Schritt, der die Genfer Flücht-
lingskonvention unterlaufe. Wer die Gren-
ze irregulär überquert, muss mit einer
mehrmonatigen Haftstrafe rechnen.
Premier Kyriakos Mitsotakis konnte die
Griechen mit diesem drastischen Schritt
trotzdem nur bedingt beruhigen. Auf der
Ägäis-Insel Lesbos haben Bürger und
Rechtsextremisten teilweise die Kontrolle
übernommen und üben Selbstjustiz. Sie
hindern Flüchtlinge in Schlauchbooten
gewaltsam daran anzulegen, stecken Un-
terkünfte in Brand, greifen NGO-Mitar-
beiter und Journalisten an.
Der Notstand in Griechenland setzt
auch Bundeskanzlerin Angela Merkel un-
ter Druck, die sich wie keine andere Re-
gierungschefin in Europa für offene Gren-
zen starkgemacht hat. Sie muss nun fürch-
ten, dass nach den griechischen Chaos -
tagen nicht mehr viel von ihrer Flüchtlings-
politik übrig bleibt. EU-Kommissions -
präsidentin Ursula von der Leyen sagte
Grie chenland bis zu 700 Millionen Euro
Hilfsgelder zu.
Erdoğan hat die Europäer durch sein
Grenzmanöver einer Lebenslüge beraubt:
dass mit dem EU-Türkei-Abkommen die
Flüchtlingskrise bewältigt sei.
Europa hatte vor allem auf Merkels Ini-
tiative hin mit dem Türkei-Abkommen zu-
gesichert, bis 2025 sechs Milliarden Euro
für Flüchtlinge in der Türkei zu zahlen.
Lange Zeit ging das mehr oder weniger
gut. Erdoğan verschärfte die Kontrollen,
woraufhin die Zahl der Menschen, die sich
von der Türkei aus auf den Weg nach
Europa machten, einbrach.
Nun jedoch bewahrheitet sich, wovor
Kritiker gewarnt haben: Durch das Ab-
kommen hätten sich die Europäer von Er-
doğan abhängig gemacht.
Wer dem türkischen Präsidenten in den
vergangenen Jahren zugehört hat, den
überrascht es nicht, dass er nun die Gren-
zen öffnet. Immer wieder hat er damit
gedroht, aus dem Flüchtlingsdeal auszu -
steigen, wenn die Europäer nicht spuren.
Überraschen kann allenfalls, wie schamlos
der Autokrat Schutzsuchende für seine
politischen Ziele missbraucht.
Dabei hatten die Europäer genügend
Zeit, sich auf das humanitäre Drama vor-
zubereiten. Doch sie taten nichts.
Die EU-Staaten ließen es geschehen,
dass Syriens Diktator Baschar al-Assad
und seine wichtigsten Unterstützer Russ-
land und Iran die letzte Rebellenhochburg
im Nordwesten Syriens Schritt für Schritt
zurückeroberten; sie sahen tatenlos dabei
zu, als die russische Luftwaffe gezielt
Wohnhäuser, Schulen, Kliniken bombar-
dierte und auf diese Weise Hunderttausen-
de Menschen in die Flucht trieb.
In Ankara sorgte der Vormarsch des As-
sad-Regimes für Aufruhr, doch auch davon
ließ sich Europa kaum beeindrucken. Da-
bei beherbergt die Türkei schon jetzt fast
vier Millionen Flüchtlinge. Die Stimmung
im Land wurde zuletzt immer angespann-
ter. Die anhaltende Wirtschaftskrise führt
dazu, dass viele Türken die syrischen
Flüchtlinge als Konkurrenten auf dem Ar-
beitsmarkt wahrnehmen. Immer häufiger
kommt es zu Übergriffen.
In Erdoğans Umfeld ist man davon
überzeugt, dass die Regierungspartei AKP
die Wahlen in Istanbul und Ankara im vo-
rigen Jahr auch wegen der Unzufrieden-
heit der Bürger mit der Flüchtlingspolitik
des Präsidenten verloren hat. Erdoğan ist
entschlossen, keine neuen Flüchtlinge ins
Land zu lassen, ihm ist aber vermutlich
auch bewusst, dass Hunderttausende Sy-
rer keine andere Wahl hätten, als in die
Türkei zu fliehen, sollte Idlib vollständig
an Assad fallen.
Immer gereizter hat der türkische
Staatschef die internationale Gemein-
schaft beschworen, Assad und Putin im
Nordwesten Syriens zu stoppen. Parallel
dazu schickte er türkische Soldaten
in die Provinz, um die Offensive zu
bremsen.
Der Wendepunkt war für ihn erreicht,
als am Donnerstag vor einer Woche bei
einem Angriff durch die russische oder sy-
rische Luftwaffe in Idlib mindestens 34 tür-
kische Soldaten starben. Am Ende eines
Krisentreffens im Präsidentenpalast in An-
kara standen zwei Beschlüsse: Erstens, die
Türkei weitet ihren Militäreinsatz in Idlib
aus. Zweitens, Erdoğan winkt Geflüchtete
nach Europa durch.
Damit sollen die Europäer und die Nato
dazu gedrängt werden, die Operation
»Frühlingsschild« gegen Assad in Idlib zu
unterstützen. Ankara forderte Anfang der
Woche in Brüssel Zugang zur Nato-Satel-
litenaufklärung und die Stationierung von
»Patriot«-Raketenabwehrsystemen an der
Grenze zu Syrien. Zudem will die Türkei
weitere Hilfsgelder aus Europa für die
Flüchtlinge, zusätzlich zu den verabrede-
ten sechs Milliarden Euro.
Erdoğan versucht nicht einmal mehr,
dem Eindruck entgegenzutreten, dass er
die Flüchtlinge nur als Druckmittel nutzt.
Jeden Tag bringen Reisebusse Hunderte
Migranten gratis aus Istanbul an die grie-
chische Grenze. Die Veranstalter sprechen
von einer »Reise der Hoffnung«. Der tür-
kische Staatssender TRT veröffentlicht auf
Arabisch Hinweise für den Trip »von Idlib
nach Berlin«.
Einer, der diesen Weg auf sich nahm, ist
der Syrer Abdullah Ruhabi, der Ende
vergangener Woche von Soldaten in
Griechenland kurz hinter der Grenze
aufgegriffen wurde. Gemeinsam mit fünf
wei teren Flüchtlingen hatte er in einem
Schlauchboot den Fluss Evros überquert,
hatte sich durch Gestrüpp gekämpft, war
durch Schlamm gewatet. Es war eine Tor-
tur, aber er war in Europa. Ruhabi glaubte,
das Schlimmste hinter sich zu haben.
* Mit EU-Ratspräsident Charles Michel und dem
griechischen Premier Kyriakos Mitsotakis am Dienstag
bei einem Besuch in Griechenland.
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Kommissionschefin von der Leyen*: Europa lässt sich vorführen
DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020