Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1

den konservativen »Republikanern« zu
Aliot überlaufen würde.
Aber seit knapp drei Jahren gilt nicht
mehr, was vorher galt. Seitdem Emmanu-
el Macrons Bewegung »En Marche« im
Mai 2017 das französische Parteiensystem
zum Einsturz brachte, verschoben sich
die poli tischen Koordinaten der Fünften
Republik. Zuerst wurden die Sozialisten
und dann auch die konservative Partei
pulverisiert. Und nun werden auf einmal
im ganzen Land parteipolitische Referen-
zen gemieden, als würden sie unweiger-
lich großes Unglück nach sich ziehen. Was
im zentralistisch regierten Frankreich in
diesem Wahlkampf neuerdings zählt, ist
das Lokale, die Persönlichkeit – und der
größtmögliche Abstand zur politischen
Elite in Paris.
Noch nie traten so viele nominell unab-
hängige Kandidaten an wie bei diesen
»Municipales«, gab es so viel wolkige Lis-
tennamen, die verschleiern sollen, wer da-
hintersteht: »Toulouse lieben« heißt die
gemeinsame Liste der Regierungspartei
»La République en Marche« (LREM) mit
den Konservativen in der Stadt im Süd-
westen, »Steh auf, Marseille« die der Grü-
nen in der Mittelmeermetropole.
Demoskopen sagen voraus, dass die Er-
gebnisse des ersten Wahlgangs am 15. März
schwer zu deuten sein werden, weil sie
nicht mehr in das klassische Links-rechts-
Schema einzuordnen sind. Bislang scheint
nur festzustehen, dass die Grünen zahlrei-
che Rathäuser erobern werden und der
»Rassemblement National« vor allem in
kleineren Orten erfolgreich sein könnte.
Für die Regierungspartei von Emma -
nuel Macron, die erst wenige Jahre alt ist
und in der Fläche bisher kaum vertreten
war, sind die Prognosen eher mies. Der
Präsident ist unpopulär. Die Partei, die
einst die anderen Parteien hinwegfegte, tut
sich schwer. Im symbolisch wichtigen Paris
steht ihre Kandidatin Agnès Buzyn bisher
nur auf Platz drei. In vielen Städten ist
LREM Allianzen eingegangen und unter-
stützt linke oder konservative Kandidaten,
ohne eigene aufzustellen.
Auch Louis Aliot hat seine offene Liste
einem parteipolitischen Detox-Programm
unterzogen: Sie heißt nun »Perpignan –
für eine große Zukunft«.
Was alles schiefläuft in dieser Mittel-
meerstadt, in der die Arbeitslosenquote
bei über 25 und die Armutsrate bei 32 Pro-
zent liegt, hat er am Vorabend in einem
schmucklosen Seminarraum eines Hotels
am Stadtrand erklärt. Rund 60 interessier-
te Bürger waren gekommen, um ihm zu-
zuhören. Kein Prekariat, eher gehobene
Mittelschicht, die Frauen mit hohen Ab-
sätzen, Ohrringen und Blazer, die Männer
mit dunklen Steppwesten.
Eine halbe Stunde lang sprach der Kan-
didat, beklagte, dass die Regierung in Paris


versuche, ihre Rentenreform ohne Ab-
stimmung durch das Parlament zu brin-
gen – »eine totale Missachtung der Demo -
kratie«. Dann zählte er auf, wie die politi-
sche Klasse über Jahrzehnte Perpignan
vernachlässigt habe, wie weder sozialisti-
sche noch konservative Bürgermeister da-
für gesorgt hätten, dass Unternehmen in
die Stadt kamen und Flugzeuge auch bei
starkem Wind hier landen können.
»Die Einwohner von Perpignan wurden
aufgegeben und vergessen von Paris«, rief
er zornig in den Saal. Es ist das Narrativ
der Gelbwestenbewegung, versetzt mit
den üblichen Formeln der Rechtspopulis-
ten und Anleihen bei den Grünen. Aliot
verspricht mehr Sicherheit und Sauberkeit
sowie bewaffnete Polizeipatrouillen im
Problemviertel Saint-Jacques, das fest in
der Hand von Drogendealern ist. Außer-
dem mehr Platz für Fahrräder und Gemü-
se aus lokaler Produktion für die Schul-
kantinen. Radikales verkündet er nicht.
Drei Viertel der Arbeiter und Angestell-
ten würden für ihn stimmen, sagt er. Selbst
viele der Sinti und Roma, die in Saint-
Jacques wohnen, wollten ihn wählen. Sie
seien die Drogendealer leid. Sollte er ins
Rathaus einziehen, will er den Stadtteil
von Grund auf restaurieren. Und ein in-
ternationales Festival für »Gypsy Music«
ins Leben rufen.
Mehrere Hundert Kilometer weiter
nördlich steht an einem kalten Samstag-
morgen im Februar Violette Spillebout auf
einem Wochenmarkt und verteilt Flugblät-
ter. Die 46-Jährige tritt in Lille für »La Ré-
publique en Marche« an. Und genau das
ist ihr Problem. Auch ihre Liste heißt vage
»Lille atmen lassen«, die Nähe zur Regie-
rung wird sie trotzdem nicht los. Die Par-
tei, die gegründet wurde, um Macron an
die Macht zu bringen, leidet nun darunter,

ständig für die Politik aus dem Élysée ver-
antwortlich gemacht zu werden.
»Ich finde gut, was Sie hier für einen
Wahlkampf führen«, sagt ein Mann am
Austernstand. »Aber mein Problem ist,
dass Sie gemeinsame Sache mit Emmanuel
Macron machen.«
Spillebout war zwölf Jahre lang eine
enge Mitarbeiterin der sozialistischen Bür-
germeisterin Martine Aubry, bis sie 2013
das Rathaus verließ. Nun will sie verhin-
dern, dass Aubry, Tochter des Europa -
politikers Jacques Delors, ihr viertes Man-
dat als Bürgermeisterin erhält. Aubrys
Mannschaft im Rathaus, so sagt sie, sei
nach 19 Jahren im Amt selbstzufrieden
und müde geworden. Außerdem kontrol-
liere sie große Teile der Stadt über die Ver-
gabe von Posten und Subventionen.
Zwei bis drei Märkte besucht Spillebout
jeden Samstag, anschließend gibt es einen
festen Termin in ihrem Wahlkampflokal,
einen Aperitif mit Freiwilligen ihres Teams.
Dann zieht sie weiter zu Sportvereinen,
Jugendgruppen, zum Tür-zu-Tür-Wahl-
kampf. Seit Wochen nimmt sie täglich vier
bis fünf Termine wahr. Für den Abend hat
sie die Formel »Dinner unter Freunden«
erfunden: Die jeweiligen Gastgeber laden
bis zu 15 Freunde ein, sie kommt dazu und
beantwortet Fragen zu ihrem Programm.
So hat sie sich von 5 auf knapp 20 Pro-
zent in den Umfragen hochgearbeitet – zu
wenig, um Aubry zu schlagen, aber nicht
schlecht für eine erste Kandidatur unter
erschwerten Bedingungen.
Vor Kurzem erstattete Spillebout An -
zeige, weil ihre Wahlkampftreffen immer
wieder von Vertretern der linken Partei
»La France Insoumise« gestört wurden, die
gegen die Rentenreform der Regierung pro-
testieren. Die eingeschlagenen Scheiben ih-
res Wahlkampflokals hat sie erst gar nicht
instandsetzen lassen, sie wären wenige Ta -
ge später ohnehin wieder kaputt, sagt sie.
»Wir bleiben trotzdem optimistisch, noch
gibt es jede Menge Unentschlossene«, so
Spillebout. In ihrem Programm findet sich
vieles, was parteiübergreifend bei diesen
Wahlen vorgeschlagen wird: Investitionen
in mehr Sicherheit, mehr Polizeibeamte,
eine Gratiskantine für Grundschulen, die
Begrünung großer Flächen in der Stadt.
Außerdem ein Plan gegen die Vereinsa-
mung älterer Mitbürger.
Am Nachmittag besucht Spillebout ei-
nenBoxverein für Jugendliche in einem
Viertel, das als sozialer Brennpunkt gilt.
Sie unterhält sich mit den Trainern, mit
Müttern, mit Freiwilligen. Alle freuen sich,
dass sie zu ihnen gekommen ist.
Fotografieren lassen wollen sie sich
aber nicht mit ihr. Sie fürchten, die amtie-
rende Bürgermeisterin könnte dann wo-
möglich die Unterstützung für den Verein
einstellen.Britta Sandberg

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Ausland

HUGO CLARENCE JANODY
Kandidatin Spillebout (Wahlplakat)
Eingeschlagene Scheiben
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