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W
er auf dem Amsterdamer Flug-
hafen Schiphol landet, kann
aus dem Fenster einen grauen
Zweckbau sehen, zum Teil
umgeben von einer Mauer. Es ist der Jus-
titieel Complex Schiphol, ein Justizgebäu-
de unweit der Startbahn 36C. Drinnen
sind Gerichtssäle untergebracht, Büros,
Vernehmungsräume, Zellen. Hier wird
der Prozess stattfinden, auf den die halbe
Welt blickt.
Am 17. Juli 2014 hob von Startbahn 36C
eine Maschine der Malaysia Airline von
Amsterdam nach Kuala Lumpur ab. Flug
MH17 kam aber nie ans Ziel. Eine russi-
sche Flugabwehrrakete setzte der Reise
und dem Leben aller 298 Passagiere und
Crewmitglieder ein vorzeitiges Ende, im
Himmel über der Ukraine.
Das Gericht will die Frage klären, wer
am Tod der 298 Menschen an Bord von
MH17 schuld ist. Es ist die große, womög-
lich unlösbare Frage. Angehörige werden
von anderen Kontinenten anreisen, ein
Pressezentrum mit Hunderten Arbeits-
plätzen wurde eigens errichtet. Fünf Na-
tionen haben die Ermittlungen gemein-
sam geführt, neben den Niederlanden und
Malaysia schlossen sich Behörden aus der
Ukraine, Australien und Belgien in einem
Joint Investigation Team (JIT) zusammen.
Die Anklageschrift umfasst 36 000 Seiten
in 102 Aktenordnern. Aber die entschei-
dende Nation, Russland, hat die Untersu-
chungen konsequent behindert.
Der Prozess findet nach niederländi-
schem Strafrecht statt. Angeklagt sind vier
Männer, drei russische Ex-Offiziere, ein
Ukrainer. Ihnen wird vorgeworfen, ein
Buk-Flugabwehrraketensystem in den
Osten der Ukraine transportiert zu haben
und am Tod von 298 Menschen beteiligt
gewesen zu sein. Die Ermittler gehen da-
von aus, dass zwar russische Soldaten das
System bedienten, die vier Angeklagten
aber das Gerät an seine Position lotsten
und letztlich für den Abschuss verantwort-
lich waren. Die Männer gehörten der Ar-
mee der »Donezker Volksrepublik« an,
einer von Russland unterstützten Miliz,
die 2014 gegen die ukrainische Armee
kämpfte.
Angeklagt sind zwar Einzelpersonen,
aber sie waren Akteure in einem ver -
deckten Krieg, den Russland mithilfe von
Separatistenmilizen und eigenen Soldaten
im Osten der Ukraine führte. Insofern ist
der Prozess auch der Versuch, indirekt
einen Staat für ein Kriegsverbrechen
zur Verantwortung zu ziehen. Das Pro-
blem ist, dass in einem hybriden Krieg,
wie er in der Ukraine stattfand, Unifor-
men getauscht und Kennzeichen über -
pinselt werden. Im hybriden Krieg tragen
die Kombattanten Masken, die Justiz
muss diese Masken lüften. Bis heute be-
streitet die russische Regierung, am Ab-
schuss der Maschine beteiligt gewesen
zu sein.
Die Ermittler werteten Zehntausende
Telefonate aus, die der ukrainische Ge-
heimdienst abgehört hat, und befragten
Hunderte Zeugen. 13 von ihnen stellten
sie unter besonderen Schutz. Ein SPIEGEL-
Team hat in Russland, den Niederlanden
und der Ukraine recherchiert und mit An-
gehörigen der Opfer, Angeklagten und
anderen Beteiligten gesprochen. Recher-
cheure der Investigativ-Website Belling-
cat, mit denen der SPIEGELkooperierte,
lieferten wichtige Puzzleteile zu Russ-
lands Rolle.
Zu den Angehörigen, die kommende
Woche in Amsterdam sein werden, ge -
hören auch Meryn und Jon O’Brien. Sie
leben in Sydney, ihr Sohn Jack ist eines der
Opfer von MH17. Sie sagen: »Es geht uns
um die Wahrheit.« Jack war 25 Jahre alt,
als er an Bord der Maschine ging, nach ei-
ner siebenwöchigen Europareise wollte er
zurück nach Australien zu seinen Eltern.
Er hätte damals fast den Flieger verpasst,
erzählen die O’Briens per Skype. Jack rann-
te durch den Flughafen zum Gate, sie konn-
ten das auf Überwachungskameras sehen,
die ihnen von der nie derländischen Justiz
zugänglich gemacht wurden. Es tat weh,
den Clip mit Jack an zuschauen. »Halt an,
fall hin!«, flehten sie ihn an. Sie werden
kommende Woche wieder an jenem Ort
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Ausland
Die Schuldfrage
ProzesseIm Sommer 2014 schoss eine russische
Flugabwehrrakete über der Ukraine eine Passagiermaschine ab.
298 Menschen an Bord von Flug MH17 starben.
Nun beginnt der Prozess gegen vier mutmaßliche Beteiligte.
Rekonstruktion eines Kriegsverbrechens.