Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1
Jeder Tag, an dem wir Fehler machen,
ist ein Tag, den unsere Gegner
bedauern werden – denn aus diesen
Tagen gehen wir noch stärker hervor.
Aus dem »Team Ethos« des Mercedes-Rennstalls

D


ie Heimat des Formel-1-Teams
von Mercedes liegt anderthalb
Autostunden nördlich von Lon-
don, in einer Kleinstadt namens
Brackley. Der Ort ist so wenig glamourös
wie die silbergrauen Fassaden der Renn-
wagenfabrik, hinter denen man sich auch
einen schwäbischen Schraubenhersteller
vorstellen könnte.
Dass in Brackley sporthistorische Re-
korde aufgestellt worden sind, darauf wei-
sen nur zwei dezente Folien auf den ver-
glasten Eingangstüren der Mercedes-De-
pendance hin: Seit dem Tag des letzten
Triumphes, dem Saisonfinale 2019 in Abu
Dhabi, künden eine fett gedruckte 6 und
ein stilisierter Lorbeerkranz von der
Sieges serie. Sechsmal in Folge stellte Mer-
cedes das beste Team, sechsmal den bes-
ten Fahrer.
Pünktlich zum Start der neuen Saison,
am nächsten Sonntag in Melbourne, wird
die Folie wieder entfernt. »Das Gestern
spielt überhaupt keine Rolle«, sagt Toto
Wolff, der Chef, Mitbesitzer und Vorden-
ker des Rennstalls.
Das Motorsportpublikum kennt Wolff,
48, aus dem Fernsehen als wortgewandten,
charmanten, kalkuliert bescheidenen Kopf
von Mercedes’ wohl wichtigstem Marke-
tinginstrument, der Formel-1-Rennerei. Er-
innerungsstücke, Pokale, Siegerstatistiken
interessieren den gebürtigen Wiener nicht.
»Leadership«, das Führen eines Betriebs
mit knapp tausend Beschäftigten und fast
400 Millionen Euro Umsatz, besteht für
ihn darin, »eine Vision zu haben, was mor-
gen notwendig sein wird«.
Sechs Jahre lang zu dominieren, das
scheint heutzutage im Sport auf Welt -
niveau so gut wie unmöglich. Dreimal ge-
wann Real Madrid die Champions League,
dann riss die Serie ab. Das ist der normale
Zyklus, der in Mannschaften durch abwan-
dernde Spitzenkräfte, zaudernde Manager,
durch Selbstzufriedenheit und Motiva -
tionslöcher bestimmt wird. Warum geschah
das nicht bei Mercedes?


Oberflächlich betrachtet, finden sich die
Gründe des Erfolgs natürlich auf der Renn-
strecke: bei Lewis Hamilton, dem unbe-
stritten besten Fahrer seiner Generation;
bei den Ingenieuren, die ein besseres Auto
konstruierten als die Konkurrenz; bei den
Strategen, die im Kampf gegen den großen
Rivalen Ferrari manchen Grand Prix dank
perfekt getimter Reifenwechsel gewannen.
Warum diese Faktoren aber über einen
so langen Zeitraum greifen, erschließt sich
nur durch einen Blick hinter die Kulissen,
in Brackley. »Hinter jedem Erfolg steht der
Mensch«, sagt Wolff, »man muss verste-
hen, was ihn motiviert, wie viel Energie
er hat, wie man ihn anstacheln kann, da-
mit er jeden Tag mit einem Ziel aufwacht.«
Das klingt ein bisschen esoterisch. Aber
es ist der Kern einer gnadenlosen Leis-
tungsgesellschaft, eine Art »Geist von
Brackley«. Dazu gehört auch, dass eine
Führungskraft, die den stetig wachsenden
Ansprüchen nicht mehr genügt, so formu-
liert es Wolff, »den Ball abspielen muss«
an die nächste Generation: »Auch, damit
diese nicht frustriert wird, weil ihr der Weg
nach oben versperrt bleibt.«
Wolff empfängt in seinem Büro, einem
Glaskasten am Ende eines dicht möblier-
ten Großraums. Vor zwei Jahren wurden
die persönlichen Schreibtische abgeschafft,
man setzt sich, wo ein Platz frei ist. Kon-
strukteure, Buchhalter, Pressesprecher,
alle sitzen auf einer Ebene. Wenn nötig,
ist nahezu jeder in 60 Sekunden beim
Chef – oder der Chef bei ihm. Wen Wolff
auch immer an seinen kleinen, runden
Tisch mit den vier Stühlen bittet: Die Be-
legschaft bekommt es mit. Ein Vorzimmer
gibt es nicht.
Seit Jahrzehnten werden Formel-1-
Rennställe von früheren Fahrern, Inge-
nieuren oder Mechanikern geführt. Selten
von Managern. Toto Wolff steht für eine
besondere Manager-Spezies: In Zeiten
des Neuen Marktes hat er es als Investor
zu einem dreistelligen Millionenvermö-
gen gebracht. Für den schmalen Zweime-
termann mit den schwarzen Haaren gibt
es nur Gewinnen oder Verlieren, dazwi-
schen ist nichts.
Im Rennsport beginnt für Wolff das Ver-
lieren also bei Platz zwei. Das Gefühl der
Niederlage, bekennt er, sei intensiver und
dauere länger an als das Gefühl des Sieges:

»Die große Emotion ist meistens bei der
Landung in England wieder weg, ab dann
geht es nur noch um das nächste Rennen.
Deshalb freue ich mich über Langstrecken-
flüge, weil ich dann manchmal 14 Stunden
lang einfach so vor mich hin liege und die-
ses Gefühl auskosten kann.« Er sagt das
ohne Schmäh, ganz nüchtern. Im Leben
rechne er stets mit dem Schlimmsten, das
lasse ihn vielleicht nicht immer der glück-
lichste Mensch sein. »Aber es ist eine Art
depressiver Realismus, den ich habe.«
Niederlagen akzeptiert Wolff nur, weil
aus ihnen in der Rennwagenfabrik »eine
positive Stimmung« entstehe, in der alle
ein Ziel verfolgen: »Was können wir tun,
damit das nicht mehr passiert?«
Andreas Seidl, Chef des McLaren-Renn-
stalls, hat beobachtet, dass die Mercedes-
Truppe »aus schwierigen Rennwochen -
enden noch stärker zurückkommt«. In dieser
Eigenschaft sei sie «Maßstab und Vorbild
für uns alle in der Formel 1«.

James Allison hat fast drei Jahrzehnte
lang im Grand-Prix-Zirkus gearbeitet, be-
vor er 2017 als Technischer Direktor zu
Mercedes kam. Benetton, Ferrari, Renault,
noch einmal Ferrari – er wusste schon vor
seiner Ankunft in Brackley, wie Gewinnen
geht. An Michael Schumachers Seite holte
er fünf WM-Titel.
Natürlich gebe es für Siege immer ein
Bündel von Gründen, sagt Allison, 52, das
Besondere in Brackley sei »diese Kultur
der Demut und des Hungers nach Erfolg«.
Teams gerieten gern in die Falle, dass aus
Siegen der Glaube entstehe, »ein von Gott
gegebenes Recht auf den Erfolg« zu be -
sitzen.
Damals bei Ferrari, sagt der Engländer,
sei es am Ende so gewesen, »dass man alles
zu statisch belassen wollte«. Ein Team
müsse mit neuen Leuten, neuen Ideen ge-
düngt werden. »Man sollte die Formel 1
als ein stetig lernendes System begreifen.«
In Melbourne wird Mercedes den zehn-
ten Geburtstag seines Rennstalls feiern, in
den erfolglosen Anfangsjahren, so erinnert
sich der damalige Fahrer und spätere Welt-
meister Nico Rosberg, hätten die Techni-
ker »Furcht davor gehabt, Probleme an-
zusprechen«. Bis Toto Wolff 2013 kam
und eine neue Fehlerkultur propagierte.
Und die geht so: »Gnadenlos den Finger

DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020 97

Sport

»Hunger nach Erfolg«


Formel 1Nach sechs Weltmeistertiteln in Folge gilt Mercedes
auch in der neuen Saison als Favorit. Wie sind
die Erfolge zu erklären, und wie lange hält die Dominanz noch an?
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