Der Spiegel - 07.03.2020

(Ben Green) #1

98 DER SPIEGEL Nr. 11 / 7. 3. 2020


Sport

Teure Dominanz
Umsatzentwicklung beim Formel-1-Team
Mercedes, in Millionen Pfund

2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

115 125

147

213

289

337 338

Veränderung
2018 gegen-
über 2012:
+194%

seit 2014
sechsmal
Konstrukteurs-
weltmeister

in die Wunde legen«, mit »brutaler Trans-
parenz und Ehrlichkeit über Fehler spre-
chen«, denn nur dann könne man sie »aus-
merzen«. Hätte Wolff nicht diese ange-
nehm dunkle, wienerisch gefärbte Stimme,
seine Wortwahl wäre geeignet, die Zim-
mertemperatur abzusenken.
Technikdirektor Allison kann auf 840
Fachkräfte zurückgreifen, aber wenn nur
ein einziges Detail nicht funktioniert,
bleibt der Silberpfeil vor einem Millionen-
publikum stehen. Oder er wird von der
Konkurrenz überholt. »Wenn man mutig
und innovativ ist, dann können auch mal
Fehler passieren, kann es auch Rückschlä-
ge geben«, sagt Allison. »Wir dürfen unse-
re Leute, die etwas wagen, nicht bloßstel-
len. Das hätte einen negativen Effekt auf
die Mitarbeiter, die fortan weniger ins Risi -
ko gingen oder die Schuld auf andere ab-
wälzten.« Die sogenannten De-Briefings
nach den Rennen beginnen, auch nach Sie-
gen, immer mit den Fehlern, mögen sie
noch so marginal gewesen sein.
Und diese penetrante Selbstgeißelung
hält eine Gemeinschaft aus?
Allison lächelt, es sei eben diese »Art
des Teams«. Vielleicht hilft es ja, dass in
Brackley auch die Chefs Fehler zugeben;
dass nicht die Menschen, sondern die Pro-
bleme an den Pranger gestellt werden;
dass hier Naturwissenschaftler versammelt
sind und keine Künstler.
Auch zur neuen Saison hat Mercedes
kein Risiko gescheut. »Wir haben nicht ge-
glaubt, dass es möglich ist, 2020 zu gewin-
nen, wenn wir das Vorjahresauto einfach
weiterentwickeln«, erklärt Allison. Also
habe man ein neues, »technisch sehr am-
bitioniertes Auto« konstruiert. Dazu ge-
hört eine Innovation, die so genial ist, dass
die verblüffte Konkurrenz anzweifelte, ob
sie erlaubt sei: Ziehen die Mercedes-Pilo-
ten das Lenkrad auf der Geraden zu sich
heran, verändert sich über die Lenksäule
die Stellung der Vorderräder. DAS (»Dual
Axis Steering«) nennt das Team seine Er-
findung, mit ihr kann die Spur der Räder
geringfügig justiert werden – das reicht,
um die Reifen je nach Bedarf zu erhitzen
oder abzukühlen.
Ob das System große Vorteile bringt
und wirklich auf allen Rennstrecken ein-
gesetzt wird, weiß man derzeit wahr-
scheinlich nicht einmal in Brackley so ge-
nau. Aber es zeigt, dass Mercedes nichts
unversucht lässt, den Vorsprung zu vertei-
digen. Auch wenn der Kniff 2021 verboten
sein wird.


Dann wird ein neues Reglementin Kraft
treten, das zwei Ziele hat: für das Publi-
kum spannendere Rennen durch ein aus-
geglicheneres Teilnehmerfeld. Und für die
Rennställe eine günstigere Kosten-Nutzen-
Rechnung durch eine Deckelung des Bud-
gets bei 175 Millionen Dollar pro Saison.


vertraut. Der Österreicher hatte eine Renn-
fahrerlaufbahn wegen mangelnder Erfolgs-
aussichten mit 22 Jahren abgebrochen,
sich als Investor aber auch im Motorsport
engagiert. Wolff erwarb 30 Prozent am
Mercedes-Team, wurde Chef aller Renn-
aktivitäten des Autokonzerns.
Wenig später stieß Ex-Weltmeister Niki
Lauda als Aufsichtsrat hinzu, lotste Lewis
Hamilton zu Mercedes und erklärte dem
Daimler-Vorstand, dass für ein siegfähiges
Auto zusätzlich rund 50 Millionen Euro
jährlich nötig seien. Adäquat ausstaffiert,
ent wickelte sich das Team zum Maß aller
Dinge – bis voriges Jahr Ferrari und Red
Bull gefährlich nahe an die Leistung der
Silberpfeile herankamen.
Die Herausforderung für den Titel -
verteidiger ist nun maximal: Wolff muss
die Ressourcen aufteilen für die Fort -
entwicklung des aktuellen Autos und für
die Konzeption des 2021er-Rennwagens –
und er muss das Team drastisch verklei-
nern, damit es künftig unter den Budget-
deckel passt.
Ein komplett neues Regelwerk, sagt
James Allison, »ist ein aufregendes Aben-
teuer und gleichsam eine schreckliche Fol-
ter«. Wenn man mit einem weißen Blatt
Papier anfange, sei der Raum für Design
riesig. »Und die Designlösungen entwi-
ckeln sich wie ein Stammbaum, der
wächst und wächst.« Ob man an den vie-
len Verzweigungen falsch oder richtig ent-
schieden habe, wisse man erst beim ersten
Rennen. »Bei einem total neuen Entwurf
kann man leicht zwei Sekunden langsa-
mer als die Konkurrenz sein.« Im Motor-
sport eine Welt.
»Es ist eine Gelegenheit, das Vermächt-
nis des Rennstalls für drei, vier Jahre zu
zerstören.« Allison pflegt eine bildhafte,
ironische Sprache. Aber das meint er ernst.
Für Wolff ist der Weg in das zweite
Jahrzehnt des Formel-1-Teams also ein
Ritt auf einem unbekannten, riskanten
Terrain. Jahrelang wusste er Niki Lauda
an seiner Seite, als Ratgeber, Skeptiker,
Druckmacher, Provokateur, Außenminis-
ter. Der im Mai 2019 gestorbene ehemali-
ge Weltmeister war die größte Autorität
in der Boxengasse. Er konnte die Perspek-
tive der beiden Rennfahrer in das Team
einbringen.
An der Rennstrecke liegen Laudas
Kopfhörer und die rote Kappe noch im-
mer in der Garage in einem Regal. Wolffs
engste Bezugsperson bei Mercedes ist
nicht zu ersetzen. Das sieht auch Welt-
meister Lewis Hamilton so. Im Fachma-
gazin »Auto Motor und Sport« bekannte
er zuletzt, die Gespräche mit dem Altmeis-
ter zu vermissen. Etliche von Laudas Text-
nachrichten hat der Brite auf seinem
Handy noch gespeichert. Von Zeit zu Zeit
ruft er sie ab.Alfred Weinzierl

Auch wenn für die großen Teams, die heu-
te leicht das Doppelte ausgeben, dieser
»Cost Cap« ein paar Ausnahmen gestattet:
Mercedes muss eine hohe zweistellige Mil-
lionensumme einsparen, um dem Regel-
werk künftig zu entsprechen.
Für Toto Wolff, den Zahlenmenschen,
ist das ein zweischneidiges Schwert: Einer-
seits erleichtert die Kostenreduzierung
die Gespräche mit Daimler-Vorstand Ola
Källenius darüber, ob trotz des teuren
Konzernumbaus auf E-Mobilität noch am
Rennsport festgehalten werden soll. Bis-
lang trug die Daimler AG jenen Aufwand
des Teams, der nicht von Preisgeldern
oder Sponsoreneinnahmen gedeckt wur-
de. So überwies der Konzern 2018 rund
44 Millionen Euro nach Brackley; zusätz-
lich lieferte eine ebenfalls in England an-
sässige Daimler-Tochter die Motoren. Für

die Zukunft, frühestens wohl 2022, stellt
Wolff »einen Profit« aus dem Formel-1-
Geschäft in Aussicht, der nach Stuttgart
fließen könnte.
Andererseits birgt das stark veränderte
Reglement eine große Gefahr. Es wäre
nicht das erste Mal, dass ein Formel-1-
Team wegen neuer technischer Statuten
seine Vormachtstellung einbüßt. Letztmals
passierte das 2014 dem Red-Bull-Renn-
stall, dessen aerodynamisch ausgeklügeltes
Auto dem Deutschen Sebastian Vettel zu
vier WM-Titeln verholfen hatte.
Profiteur der neuen Zeit war damals
Mercedes, das die Vorgabe eines fort-
schrittlichen Hybridmotors besser und
schneller umsetzte als Ferrari oder Re-
nault. Parallel dazu hatte der damalige
Daimler-Vorstand Dieter Zetsche 2013
sein dümpelndes Formel-1-Team Wolff an-

In der Garage liegen
noch immer Niki Laudas
Kopfhörer und die
rote Kappe im Regal.
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