Die Zeit - 12.03.2020

(backadmin) #1
Manchmal, sehr selten,
kommt die Rettung
von oben, wie auf diesem
offiziellen Polizeifoto
festgehalten

Foto: Kreispolizei Viersen

Im Namen des Vollgases


Meine Urteile (IX): Wie mir als Bußgeldrichter das


Gefühl abhandenkam, ein Richter zu sein


VON THOMAS MELZER

D


ie jährliche Geschäftsvertei-
lung unter den Richtern
unseres Amtsgerichts gleicht
oft dem ersten Elternabend
in der Schule. »Wir suchen
zwei Freiwillige als Eltern-
sprecher.« Alle Blicke gehen
nach unten. »Wer übernimmt die Bußgeldsachen?«
Vor Jahren beging ich den Fehler, mit meinen Au-
gen zu zeitig wieder nach oben zu kommen. Das
ungeliebte Rechtsgebiet klebte fortan wie Teer an
mir. Anfang Januar nun begrüßten wir eine neue
Kollegin. Bei der Dezernatsverteilung hatte sie
keine Wahl, und mir wurde gratuliert.
Nach einem Verhandlungstag als Strafrichter –
Betrug, Körperverletzung, Raub – bin ich in der
Lage, abends noch Knausgård zu lesen oder eine
Lego-Burg mit aufzubauen. Nach einer Sitzung als
Bußgeldrichter – Geschwindigkeit, Handy, Rot-
licht – bin ich reif fürs Sauerstoffzelt. Es ist nicht
die physische Belastung, von neun bis vier, im
15-Minuten-Takt ohne Pause. Jeder Chirurg oder
Paketzusteller arbeitet härter. Es ist auch keine
Beleidigung, nach 25 Dienstjahren die kleinste
Münze der Justiz rollen zu müssen – und dabei
sogar das Hauptverhandlungsprotokoll selbst zu
führen. Belastend sind die Symptome der Absto-
ßung. Selbst der Paketbote mit 80 Prozent Retou-
ren im Auto hat eine befriedigendere Aufgabe.
Nominell bin ich Organ der Rechtspflege – gefühlt
ein Transplantat, die Organspende von Versiche-
rungswirtschaft und virtueller Anwaltschaft.
Meine Aufgabe ist es, Bußbescheide der Exe-
kutive – zu 99 Prozent sind es solche der Polizei –
auf den Einspruch der davon Betroffenen in einem
Verfahren zu überprüfen. Doch immer öfter ver-
kommt dies zum Rollenspiel. Wir tun nur noch
so, als ob. Vor ein paar Jahren wurde in unserem
Bezirk, an der Bundesautobahn 11, eine Messstelle
installiert. Das war zugleich eine Arbeitsbeschaf-
fungsmaßnahme für das Gericht; die Hälfte aller
Verfahren generiert seitdem der Algorithmus jenes
Messgeräts. Die Autofahrer aus der Region kennen
es längst. So wie die örtlichen Anwälte uns Richter
kennen und damit die Erfolgsaussichten eines sol-
chen Verfahrens. Bei mir haben weniger als zehn
Prozent aller Einsprüche Erfolg. Das bedeutet: Die
ortsansässigen Anwälte raten ihren Mandanten, zu
bezahlen und damit die Nerven zu schonen. Dafür
verzichten sie auf jenes Honorar, das sie unab-
hängig vom Ausgang eines Verfahrens verdienen
könnten.
Der Blitzer an der A 11 wird also fast nur von
auswärtigen Fahrern ausgelöst. Diese kennen kei-
nen Anwalt in unserem Bezirk. Und ihr heimischer
Vertrauensanwalt in Bayern oder Sachsen ist meist
nicht bereit, wegen eines 100-Euro-Bußgelds zu
einem Amtsgericht nördlich Berlins zu fahren.
Also Nerven schonen und bezahlen? Diese Ver-
nunft wird von einem Affekt ausgebremst, der
unsere Eingangszahlen stetig in die Höhe treibt.
Leuchtet rechts das Blitzlicht auf, entflammt es
links den Gedanken: »Rechtsschutzversicherung!«


Nicht wenige Geblitzte, so scheint es, sind regel-
recht dankbar dafür: Endlich, nach Jahren der ein-
seitigen Prämienzahlung, kann die Rechtsschutz-
versicherung einmal etwas für mich tun!
Es konnte nicht überraschen, dass der Markt
alsbald mit einem Angebot reagierte. Und dieses
über das Internet lancierte. Hier muss man den
Suchbegriff »Bußgeldbescheid« eingeben und hat
mit Drücken der Enter-Taste die »garantiert kos-
tenlose und unverbindliche Überprüfung« seines
Bußgeldbescheides schon so gut wie ausgelöst.
Eine Handvoll deutschlandweit agierender Blitzer-
kanzleien bestimmt inzwischen den Alltag an den
Gerichten. Sie verkörpern quasi eine »Zalandoisie-
rung« der Rechtsverteidigung. Immerhin keine
»Amazonisierung«: Noch sind diese Kanzleien in
deutscher Hand.

Spezialisierte Blitzerkanzleien machen aus
Verhandlungen ein absurdes Kammerspiel

In Relation zur Dominanz ihres Auftretens – bei
mir wurde zuletzt etwa die Hälfte solcher Verfah-
ren von diesen Großkanzleien bestritten – sind
ihre Briefköpfe recht übersichtlich. Zur Vertretung
am Ort bedienen sie sich einer Schar nominell
selbstständiger Rechtsanwälte, die mit sogenann-
ten Terminsvollmachten und einer Aktenkopie
auf den Tab lets erscheinen. Ihre Mandanten be-
kommen die Terminsvertreter nicht zu Gesicht.
Zum Geschäftsmodell gehört es nämlich, routine-
mäßig die Betroffenen von der Anwesenheits-
pflicht bei Gericht freistellen zu lassen. Sofern sie
zugeben, das fotografierte Fahrzeug gesteuert zu
haben, bleibt dem Gericht kein Ermessen, den
Antrag abzulehnen. Verhandlungen, an denen die
Betroffenen persönlich teilnehmen – eigentlich In-
begriff des Prinzips der Hauptverhandlung –, wer-
den so immer mehr zur Ausnahme. Vielen Betrof-
fenen ist das natürlich angenehm. Allerdings ent-
geht ihnen so, wie das Geschäftsmodell ihrer Blit-
zerkanzlei in den entscheidenden Momenten mit
Leben gefüllt wird. Oder eben mit Schattenboxen.
Ein Robenträger hinter der Richterbank, ein Ro-
benträger auf dem Anwaltsstuhl; Zeugen oder Zu-
schauer: so gut wie nie. Das Kammerspiel beginnt.
Auf die Verlesung des Bußgeldbescheides wird
verzichtet, erklärt der Verteidiger. Der Betroffene
hat das Auto gefahren. Die gemessene Geschwin-
digkeit wird bestritten. Dann treten wir in die Be-
weisaufnahme ein, sage ich. Aus der von der Polizei
vorgelegten Akte werden das Messprotokoll, das
Ausbildungszertifikat des Messbeamten und der
Eichschein für das Messgerät verlesen. Wir schau-
en uns das Blitzerfoto an. Okay, sage ich, der Aus-
werterahmen entspricht den drei definierten Kri-
terien, und die vorgeschriebene Messtoleranz ist
abgezogen worden. Was nicht in der Akte steht,
wir beide aber wissen: Das Messverfahren ist von
der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt zuge-
lassen worden, für das Messgerät gibt es eine Bau-
artzulassung. Damit liegt nach den Maßstäben des
Bundesgerichtshofes ein standardisiertes Messver-

fahren vor. Zeugen? Überflüssig. Die Revisionsge-
richte haben längst entschieden, dass ein von dem
Messbeamten unterzeichnetes Protokoll verlesen
werden darf. Woran soll sich ein Polizeibeamter
ein halbes Jahr später schon auch noch erinnern.
Viele von ihnen machen nichts anderes, als Tag für
Tag Geschwindigkeiten zu messen.
Damit wären wir am Ende der Beweisaufnahme,
sage ich. Wohl wissend, dass dies nicht stimmt.
Denn routinemäßig, mit einer mehr oder weniger
verlegenen Geste der Entschuldigung – man wisse
ja, die auftraggebende Kanzlei wolle es so –, holt
der Terminsvertreter einen vorbereiteten Beweis-
antrag aus der Klarsichtfolie. Textbausteine, die
noch nie eine Mauer vor das zu erwartende Urteil
gezogen haben und es auch diesmal nicht tun
werden. Die Messung solle durch einen Sachver-
ständigen überprüft werden. Bei einem standardi-
sierten Messverfahren, sagt der BGH, müsse eine
solche Einzelfallüberprüfung nur erfolgen, wenn
die Verteidigung konkrete Anhaltspunkte für eine
fehlerhafte Messung vorträgt. Das gelingt fast nie.
Obwohl die Blitzerkanzleien viele Geschwindig-
keitsmessungen vorprozessual von Gutachterbüros
überprüfen lassen. Mit diesen Gutachtern arbeiten
sie oft seit Jahren fest zusammen. Auch die Kosten
dieser Gutachten werden in der Regel von den
Rechtsschutzversicherungen übernommen. Es gibt
Blitzerkanzleien, die in ihrer Werbung mit der Be-
hauptung zum Einspruch animieren, mindestens
die Hälfte aller Bußgeldbescheide sei falsch. Das
ist nicht etwa die Quote der Justiz, aus der man die
Erfolgsaussichten eines Einspruchs ableiten könnte.
Es ist die vermeintliche Quote der mit den Blitzer-
kanzleien kooperierenden Gutachter.
Im Fall des Messgeräts PoliScan Speed, das in
der Messsäule an der A 11 eingebaut ist, liefern

sich die Privatgutachter seit Jahren eine Fehde mit
der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt und
der Herstellerfirma des Messgeräts. Der Tonfall ist
längst ins Gereizte abgedriftet. Vereinzelt habe ich
zu den Streitthemen eigene Gutachten eingeholt,
kein einziges hat die Anwürfe bestätigt. Als Richter
in Spezialmaterien den Gutachtern weitgehend
ausgeliefert zu sein ist ein allgemeines Problem.
Auch hier gilt: Ich bin zwar ein juristischer All-
rounder, aber kein Fachmann für Laserphysik.
Wenn wir über »mehrzielfähiges Laser-Tracking«
debattieren, ist das wie ein Streit zwischen Torhü-
tern über Verteidigungspolitik. Alle Oberlandes-
gerichte – die als Revisionsinstanzen die Amtsge-
richte kontrollieren – bewerten das PoliScan-Mess-
verfahren als standardisiertes Messverfahren. In die
Schriftsätze von Gutachtern und Anwälten mi-
schen sich immer häufiger Verschwörungsideen –
der Staat und seine Justiz quasi als gebeugte Säulen
der allgemeinen Fahrzeugführerverfolgung.
In der Beweisaufnahme ziehe ich nun meiner-
seits ein kopiertes Formular aus einer Klar sicht-
folie. Beschlossen und verkündet: Beweisantrag
abgelehnt; drei Textbausteine zur Begründung
zum Ankreuzen. Die einzige Funktion dieses Ri-
tuals, geben einzelne Terminsvertreter in unserer
wöchentlichen Vier-Augen-Geselligkeit unum-
wunden zu, sei die Scheinsetzung gegenüber dem
unzufriedenen Mandanten: Guck, wir haben
gekämpft; sieh, drei Seiten Beweisantrag, von einem
halsstarrigen Gericht abgelehnt. Zudem liefert ein
abgelehnter Beweisantrag immerhin einen Vor-
wand, um mit einer Rechtsbeschwerde in die
nächste, wieder von der Rechtsschutzversicherung
gesponserte Instanz ziehen zu können.
Zunächst aber wird die Beweisaufnahme ge-
schlossen und ein Blankourteil aus der Mappe
geholt. Hier muss ich, in neun von zehn Fällen,
nur noch die Zahlen – Datum, Geschwindigkeits-
werte, Betrag der Geldbuße, Länge des Fahrver-
bots – aus dem Bußgeldbescheid übertragen. Die
Restwürde, den Epilog stehend im Namen des
Volkes zu verkünden, lasse ich mir nicht nehmen.
Falls nach der Rechtsmittelbelehrung die einge-
planten 15 Minuten nicht ausgeschöpft sind,
komme ich gern der Bitte des Terminsvertreters
nach, unsere für den Nachmittag terminierten
Rollenspiele vorzuziehen. Wozu ihn warten lassen.
Wir würden ja auch dann nur unter uns sein.
Was eine Blitzerkanzlei mit derlei hoch spezia-
lisiertem Know-how verdient? Das Rechtsanwalts-
vergütungsgesetz staffelt die Vergütung nach der
Höhe der angegriffenen Geldbuße. Ist der Betrof-
fene an unserer A 11-Säule zum Beispiel mit (tole-
ranzbereinigt) 155 km/h gemessen worden – er-
laubt sind 120 km/h –, beträgt die Geldbuße 120
Euro. Legt die Kanzlei für ihn Einspruch bei der
Bußgeldstelle ein und verteidigt ihn in einem Ge-
richtstermin, berechnet sie dafür mindestens 680
Euro plus Mehrwertsteuer, Fahrtkosten und Ab-
wesenheitsgeld. Wie sagt man so schön: Kleinvieh
macht auch Mist. Für die brandenburgische Justiz
bleibt nur Mist: 50 Euro Gerichtsgebühr, festge-

schrieben im Gerichtskostengesetz, dürften kaum
kostendeckend sein. Vor allem aber fehlt ihr das
richterliche Personal dort, wo es um mehr geht als
Punkte in Flensburg. Während ich die Bußgeld-
verfahren innerhalb der sechsmonatigen Verjäh-
rungsfrist erledigen muss, verkünden die überlas-
teten Zivilrichter unseres Gerichts ihre Urteile im
Schnitt erst zehn Monate nach Klageeingang.

Das französische Vorbild könnte den
Wahnsinn dieser Rechtspraxis beenden

Dass auf den brandenburgischen Gerichtsdächern
dennoch keine weißen Fahnen wehen, ist letztlich
einer Zahl zu verdanken: 90 Prozent der Fahrzeug-
führer akzeptieren die Buße. Übrig blieben im Jahr
2018 immerhin noch 21.000 Verfahren, die bei
den 24 regionalen Amtsgerichten landeten, ein
Zehntel der 210.000 von der zentralen polizeili-
chen Bußgeldstelle insgesamt erlassenen Bußgeld-
bescheide. Justizschonend scheint, entgegen allen
Vorurteilen, zudem die Fahrweise der Autofahrer
zu sein: Von den 59.152 Fahrzeugen etwa, die vom


  1. bis 28. Mai 2018 unsere Säule an der A 11
    passierten, waren nur 700 zu schnell (1,2 Prozent).
    Dem Bußgeldrichter in der Sinnkrise bleibt
    letztlich nur die Statistik. Auf den zehn Kilome-
    tern von der Messsäule bis zur Abfahrt Finowfurt
    gab es 2018 bei 68 Unfällen 22 Verletzte und einen
    Toten. Der Richter hofft, der Unfall möge jenseits
    der Grenze zum Gerichtsbezirk Eberswalde pas-
    siert sein, denn nichts vor Gericht ist trost loser als
    ein Verfahren wegen fahrlässiger Tötung. Jeder
    Schnellfahrer kann hier als Täter landen, und nur
    Pech oder Glück macht den Unterschied aus, ob
    man einen Menschen auf dem Gewissen hat oder
    nur ein Bußgeld bezahlen muss oder ganz davon-
    kommt, weil das PolyScan-Gerät gerade nicht im
    Einsatz war.
    Wie nun könnte der Rechtsschutzversiche-
    rungsweg in Bußgeldsachen wieder zu einem ech-
    ten Rechtsweg umgebaut werden? Zum Beispiel
    nach französischem Vorbild. Da wären nach unse-
    rem Beispiel – 35 km/h zu viel außerorts – 135
    Euro fällig. Akzeptiert der Fahrer den Vorwurf und
    zahlt innerhalb von drei Tagen, reduziert sich die
    Buße auf 90 Euro. Zahlt er aber erst nach 30 Tagen



  • etwa weil er, sportlich gestimmt, im Resultat aber
    vergeblich, das Gericht angerufen hat –, erhöht
    sich die Geldbuße auf 375 Euro. Und die über-
    nimmt keine Rechtsschutzversicherung.
    Bis sich die Rechtslage derart ändert, muss ich
    meine Nachfolgerin wohl mit der Aussicht auf
    künstliche Intelligenz vertrösten. Falls KI in der
    Justiz je Einzug halten sollte – derlei Fantasien sind
    bereits zu hören –, halte ich ihren Einsatz im Buß-
    geldbereich noch am ehesten für vorstellbar und
    sinnvoll. Derzeit würde dafür wahrscheinlich sogar
    ein Commodore C64 ausreichen.


Thomas Melzer ist Richter in Brandenburg.
In »Meine Urteile« schreibt er in loser Folge über
Geschichten, die hinter seinen Fällen stecken

RECHT & UNRECHT 22



  1. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12


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Illustration: Lea Dohle

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