Die Zeit - 12.03.2020

(backadmin) #1

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ärz 2020, die Globalisierung
hat eine neue Stufe erreicht.
Jetzt gibt es sogar schon eine
weltweite Grundstimmung.
Und die ist überwiegend
mies, um das Mindeste zu
sagen. Auch in Deutschland;
darum hoffen nun alle auf den Frühling, weil seitens
der Virologen die Wärme, die er mit sich bringt (oder
wird es gleich Hitze sein?), als potenziell wirksame
Macht gegen das Coronavirus identifiziert worden ist.
In Deutschland sollte man mit dem diesbezügli-
chen Hoffen allerdings ein wenig vorsichtig sein.
Denn im Frühling werden auch die Wildschweine
mobil. Und die Afrikanische Schweinepest, die wie
ein verlangsamtes Coronavirus von Süden und Osten
hierher vordringt, hat es zuletzt
bis Westpolen ge-
schafft.

Westpolen
aber ist von Ost-
deutschland nur einen Kei-
ler-Spaziergang weit entfernt. Wenn nun die
Schweinepest ins Schweineland Deutschland über-
greifen sollte, durch ein brünftiges Wildschwein,
einen achtlosen Lkw-Fahrer oder einen ahnungslosen
Touristen, dann könnte das bedeuten: Massennot-
schlachtungen, überforderte Tierkörperbeseitigungs-
anstalten, Sperrung ganzer Landkreise, Shutdown.
(Informationen: Bundesforschungsinstitut für Tier-
gesundheit, Bulletin Februar 2020)

C


hina, ja, genau: China hat exakt das
gerade erlebt – gewissermaßen kurz vor
Corona. In der Folge brach dort die
Produktion von Schweinefleisch um
vierzig Prozent ein, weswegen Fleisch
aus Deutschland importiert wurde, was wiederum
hier die Ausbringung von nitrathaltiger Gülle beför-
derte, mit der Folge, dass es heuer um die heimische
Vogelschar womöglich noch schlechter bestellt ist als
im vergangenen Frühling. Denn auch wenn mit der
Sonne die Zugvögel zurückkommen, dann wird sich
doch nicht die ganze Vogelschar wieder in unserer
schönen deutschen Heimat versammeln. Sondern
vielleicht nur noch die halbe, weil die – nicht zuletzt
wegen der Schweinepest in China – so florierende
deutsche Schweinemast die Wiesen und Gewässer

nachhaltig vergiftet hat, was vielen Vögeln die Lebens-
grundlage nimmt. Veronika, der Lenz ist da. Schick
ihn wieder weg. Globalisierung heißt offenbar auch,
dass eine afrikanische Schweinegrippe am Ende die
deutsche Nachtigall umbringt.
Die weltweite Verbreitung von Covid-19 legt eben
vieles offen: die Vor- und Nachteile des autoritären
Systems in China, die seuchenpolitische Naivität west-
licher Regierungen und das notorische Nervenflattern
unter den reichsten Menschen der Erde, das sich nun
stündlich an den Börsenkursen ablesen lässt. Vor allem
aber hat das Virus ein grelles Licht geworfen auf die
Nebenfolgen der Globalisierung: Der Tourismus ver-
breitet die Seuche binnen weniger Wochen über die
ganze Erde, was dann unverzüglich globale Liefer-
ketten zerreißt wie Papiergirlanden; interna-
tionale Messen werden
abgesagt, Mil-
lionen

Rei-
sen storniert,
die Olympischen Spiele
sind in Gefahr, die Wirtschaft geht auf
Talfahrt. Mit Ausnahme der Mundschutzmasken-In-
dustrie und der Pharmakonzerne.
Nebenfolge der Globalisierung ist aber nicht nur
die Verbreitung des Virus selbst, sondern auch die
um sich greifende Hysterie. Wenn potenziell alle
Menschen betroffen sein können, wenn das Internet
und die sozialen Medien jede Angst zur Angst aller
machen können, wenn die Wirtschaft so eng ver-
knüpft ist – wie soll da irgendjemand noch Maß und
Mitte kennen, sei es bei Corona, sei es in einer Fi-
nanzkrise? Alles kann jederzeit exponentiell gedacht
werden – nur unsere Gefühle sind für das Exponen-
tielle nicht gemacht.
Man könnte all das beunruhigend finden, verstö-
rend oder interessant, man könnte für einen Moment
die Atemmasken ablegen, um über die Kosten der
Globalisierung zu sprechen, auch über den Nutzen,
versteht sich, wobei darüber in diesem Jahrhundert
bereits recht viel gesprochen worden ist. Es gibt aber
Leute, die ihre Antwort schon haben, kaum dass die
Debatte begonnen hätte, die deutsche Industrie zum
Beispiel: »Anders als manche Ökonomen und Politi-
ker erwarten die führenden Wirtschaftsverbände
nicht, dass es jetzt deshalb einen Trend zur Degloba-
lisierung geben wird. Die Vorteile einer verflochtenen

Weltwirtschaft seien weitaus größer als ihre Nachteile,
heißt es in Berlin.« (FAZ, 5. März 2020)
Sagen wir mal so: Wer das ernsthaft ausrechnen
will, braucht einen sehr, sehr langen Griffel. Finanz-
krise, Klimakrise, Sars, Ebola, Corona, Flüchtlings-
aufnahmebereitschaftskrise – die negativen Folgen der
Globalisierung sind wahrlich schwer zu berechnen.
Und bei den hier aufgezählten Krisen handelt es sich
ja nur um die sichtbaren Konsequenzen folgenblin-
der Globalisierung. Wie sähe es da erst aus, wenn man
die unsichtbaren noch hinzunähme?
Was die führenden Wirtschaftsverbände beispiels-
weise bei ihren Recherchen zu den Vor- und Nach-
teilen der Globalisierung vergessen haben dürften,
ist, dass diese Art der Welthomogenisierung dabei ist,
in hohem Tempo Tier- und Pflanzenarten auszurot-
ten, und zwar ohne dass einem einzigen Tier oder einer
einzigen Pflanze unmittelbar etwas angetan würde
(was andernorts natürlich auch noch passiert, etwa
um anstelle von Regenwald Soja für die deutschen
Schweine anzubauen, die dann als Nackensteak nach
China verkauft werden). Das unsichtbare Aus-
rotten geht so: Vor etwa 250 Millionen
Jahren gab es auf der Erde nur einen
einzigen Kontinent; die Wissen-
schaftler nennen ihn heute
Pangäa. Auf dem lebten im
Vergleich zu heute nur
sehr wenige Arten.
Erst als diese Erd-
platte aus ein-
an der drif te te
und die
heutigen
Konti-
nente
ent-

stan-
den,
nahm die
Artenviel-
falt exponen-
tiell zu. Den
Grund dafür fand
schon Charles Dar-
win heraus. Er hatte sich
gefragt, warum in densel-
ben Klimazonen in Latein-
amerika, Afrika, Australien und
Süd asien so verschiedene Arten ent-
standen sind. Seine Antwort lautete: Viel-
falt braucht Abstand. In Australien etwa konn-
ten sich nur deshalb so viele verschiedene Beutel-
tierarten in den ökologischen Nischen breitmachen,
weil es die in Europa und Amerika vorkommenden
Wölfe oder Bären seinerzeit nicht bis nach Down
Under geschafft hatten.
Diesen Prozess – Vielfalt durch Abstand – kehrt
die Globalisierung nun um, indem sie Distanzen
nichtig zu machen versucht. All jene Frachtschiffe
etwa, die heute die globalen Lieferketten erst ermög-
lichen, laden zwecks Stabilisierung in ihren Ballast-
wassertanks an einem Ende der Welt Meerwasser, um
es am anderen Ende wieder ins Meer zu lassen. Zehn-
tausende Arten sollen dabei nach Schätzungen ver-
schifft werden. Täglich.
Durch diese Art der Globalisierung findet ein un-
ablässiger Artenaustausch statt. Eine Pflanze, die in
ihrer Heimat durch evolutionär entstandene Feinde
gebändigt wurde, kann in ihrer neuen Heimat –
feindlos – Dutzende heimische Arten verdrängen.
Dasselbe geschieht auch mit Landtieren und mit
Krankheiten. So hat beispielsweise der Besuch asiati-
scher Touristen in einer amerikanischen Höhle Mil-
lionen Fledermäuse das Leben gekostet. Der Grund:
das eingeschleppte Weißnasensyndrom.
Für die Natur ist in der Globalisierung immer
Corona.
Biologisch betrachtet schafft die Globalisierung, so
wie sie heute betrieben wird, also ein neues Pangäa,
artenarm und öde, der Reichtum an genetischen Res-
sourcen stürzt gerade in erdgeschichtlichem Höchst-
tempo ab. (Informationen: Das sechste Sterben von

Elizabeth Kolbert, S. 197 ff.) Die Hauptprofiteure der
Globalisierung mögen von diesen Dingen nichts wissen
oder wissen wollen. Gleichwohl ahnen sie, dass ihre
Kal ku la tion nicht aufgeht, weswegen sie sicherheits-
halber noch eine apokalyptische Drohkulisse aufbauen.
Albrecht von der Hagen, Hauptgeschäftsführer des
Verbands der deutschen Familienunternehmer, etwa
behauptet: »Ein Zurück zu einer umfassenden natio-
nalen Produktion würde die Menschheit ins 19. Jahr-
hundert zurückwerfen und riesige Wohlstandsverluste
mit sich bringen.« (FAZ, s. o.)
Vorwärts immer, rückwärts nimmer?
Tatsächlich gibt es ja eine weltweite Bewegung,
die sich gegen einen Teil der Globalisierungsfolgen
wehrt, ja wir erleben geradezu einen autoritär-natio-
nalistischen Aufstand gegen die Globalisierung, was
tatsächlich nach 19., schlimmer noch, nach der ers-
ten Hälfte des 20. Jahrhunderts schmeckt. Ist das also
die Lage: weiter so mit der maximalen Globalisierung


  • oder Absturz in die Dunkelheit?


B


eginnen wir mit der Globalisierungskritik
der autoritären Nationalisten. Ein auto-
ritärer Nationalist reist nicht weniger als
ein Globalist, er verzichtet weder auf
Palmöl aus Indonesien noch auf billige
Hemden aus Bangladesch. Nein, die autoritären Na-
tionalisten haben nichts gegen die Globalisierung
anderer, sie wollen nur selber nicht länger globalisiert
werden. Bezogen auf die westlichen Nationalisten
bedeutet dies: hemmungslose Globalisierung der
eigenen Bedürfnisse und zugleich brutale Abwehr der
dadurch erzeugten Folgekosten – besonders der
Flüchtenden, jener Globalisierungsfolge, die auch
noch sprechen, Forderungen stellen und Vorwürfe
machen kann.
Dass dieses Konzept unmoralisch ist, bedeutet
noch lange nicht, dass es funktioniert. Man hat sich
ja in der internationalen Politik angewöhnt, Egois-
mus für realistisch zu halten und Altruismus für naiv.
Doch vielleicht verhält es sich beim aktuellen Stand
der Globalisierung tendenziell schon umgekehrt,
und der nationale Egoismus bekommt auf mittlere
Sicht nicht, was er sich verspricht; auch wenn er,
siehe Trump oder Putin, bei der Verwandlung von
Außenpolitik in Arschlochpolitik zunächst gewisse
Überraschungserfolge zu erzielen vermag. Man
wird sehen. Jedenfalls ist es zurzeit viel wahr-
scheinlicher, dass es mindestens so viel kostet,
die Folgen jener Globalisierung abzuwehren,
die man selbst befeuert, wie es kosten würde,
sie zu vermeiden. Hinzu kommt, dass die Na-
tion, zumindest in der Größe europäischer
Staaten, schwerlich in der Lage sein wird, die
Folgen der Globalisierung weiterhin zu exter-
nalisieren, denn da draußen befinden sich
schließlich auch Kingsize-Nationen wie China,
die USA oder Indien, die sich das kaum gefal-
len lassen werden.
Nationalismus ist mithin keine Antwort,
die Globalisierung als solche rückgängig ma-
chen zu wollen ist kein sinnvolles Ziel, weil
rückwärts in der Geschichte immer in Dysto-
pie und Gewalt geführt hat. Bleibt dann also
nur das Weiter-so der maximalen Globalisie-
rung, die ihre Kosten-Nutzen-Rechnungen so
lange manipuliert, bis die Folgen den Menschen
ins Gesicht springen?
Natürlich nicht. Denkbar und wünschenswert
wäre vielmehr eine selektive, kontrollierte, verlang-
samte und vor allem schonende Globalisierung.
Um mal mit dem Tempo zu beginnen: Die Globa-
lisierung beruht darauf, dass die Transportkosten und
die Transportgeschwindigkeit so sehr reduziert wer-
den, dass sie zu einer vernachlässigbaren Größe wer-
den. Und entsprechend auch vernachlässigt werden.
Man könnte sich angesichts der gewaltigen Anstren-
gungen, die jetzt unternommen werden, um die Aus-
breitung des Coronavirus zu verlangsamen, grund-
sätzlich fragen, ob das Tempo so hoch sein kann,
wenn das Einbremsen so teuer wird. Allerdings gibt es
schon einen anderen Grund dafür, dass sich hier
etwas ändern muss: Da die Globalisierung in ihrer
heutigen Form die Menschheit in eine existenzielle
und akute Klimakrise geführt hat, muss der Trans-
port binnen weniger Jahrzehnte CO₂-frei werden.
Dies wiederum muss so rasch geschehen, dass die
Wende allein mit den – in der Tat dringend nötigen


  • technischen Innovationen nicht mehr zu schaffen
    ist. Kurzum: Die Globalisierung muss künftig mit
    weniger und teurerem Transport von Menschen und
    Gütern auskommen, sie wird sich verlangsamen.
    Auch die Qualität der Globalisierung kann ver-
    ändert werden. Statt Hühnchen mit oder ohne Chlor
    in die EU einzuführen, plant die neue Kommissions-
    präsidentin Ursula von der Leyen nun ökologische
    Schutzzölle. Sie will damit dem globalen Klima-
    Dumping etwas entgegensetzen. Und wenn sich die
    Europäer schwer damit tun, den chinesischen Mobil-
    funkkonzern Huawei in die hiesigen Netze zu lassen,
    um dem autoritären China nicht zu viel Einfluss zu
    gewähren, so zeugt auch dies von einem neuen
    Denken. In beiden Fällen – ökologische Schutzzölle
    und Kritik an Huawei – geht es nicht um schieren
    Protektionismus, also den Schutz ineffektiver heimi-
    scher Wirtschaft, sondern um Demokratie und
    Nachhaltigkeit.
    In einer schonenden Globalisierung können die
    Staaten sich dann aber nicht damit begnügen, beim
    Import qualitative Filter einzubauen. Subventio-
    nierte Agrarprodukte nach Afrika, Waffenexporte in
    die Krisenregion am Golf – damit werden Risiken
    exportiert, die zumeist früher oder später zu den Ver-
    ursachern zurückkehren. Stattdessen müssten etwa
    die Europäer für eine nachhaltige Exportpolitik aus
    dem gegenwärtigen Panikmodus heraus, den sie
    Normalität nennen, aus der Extrem-Globalisierung
    dieser Tage.
    Vielleicht muss generell die materielle Globalisie-
    rung gebremst und die ideelle, die des Wissens und
    der Ideen, vorangetrieben werden. Einiges spricht je-
    denfalls dafür, dass es einen Weg gibt zwischen neuem
    Nationalismus und einer panisch voranstürmenden
    Globalisierung. Der Frühling kann kommen.


Für die Natur ist immer Corona: Warum die


Globalisierung langsamer werden muss


VON BERND ULRICH

So nah ist


zu nah


ZEIT-Grafik: Anne Gerdes


  1. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12 POLITIK 3

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