Die Zeit - 12.03.2020

(backadmin) #1

B


evor Sanna Marin Ministerpräsi­
dentin wurde, bevor sie zu Gipfel­
treffen und Staatsempfängen fuhr,
bevor sie Angela Merkel kennen­
lernte, bevor der ganze Hype los­
ging, die Reportertrauben, das
Kameragerangel, die Interview­
anfragen aus der ganzen Welt, bevor all das passierte,
war sie Lokalpolitikerin im Stadtrat von Tampere.
Tampere ist eine 200.000­Einwohner­Stadt im
Süden Finnlands, umgeben von großen Seen und
dichten Wäldern, bekannt für ihre Blutwurst und
ihre Saunakultur – und für ein YouTube­Video. Wer
es anschaut, bekommt eine Ahnung davon, wie es
Sanna Marin gelingen konnte, im Altherren­Business
der Politik so weit nach oben zu gelangen.
Das Video stammt aus dem Jahr 2016. Es zeigt
eine Sitzung des Stadtrats von Tampere, der zum
großen Teil aus Rentnern besteht. Marin, damals
30 Jahre alt, leitet die Sitzung. Sie thront auf einem
riesigen Stuhl und hält einen Holzhammer in der
Hand. Wie ein Auktionator schlägt sie damit auf
den Tisch. Zack! Zack! Zack!
Eigentlich sollen die Ratsmitglieder über den Bau
einer Straßenbahn diskutieren. Einige aber versuchen,
die Debatte zu sabotieren. Sie wollen keine Straßen­
bahn und die Argumente ihrer Gegner nicht hören.
Sie bombardieren Sanna Marin mit Redeanträgen.
Sie tragen immer wieder dieselben Bedenken vor. Sie
warnen vor Schwermetallen, die beim Reparieren der
Straßenbahngleise freigesetzt werden und die Bürger
vergiften könnten. Sie fürchten »unangenehme
Knirschgeräusche«, falls der Sand, der im Winter
gestreut wird, unter die Räder der Tram gerät. Ein­
mal, als es kurz so aussieht, als könnte die Debatte
auf eine sachliche Ebene zusteuern, ruft einer der
Straßenbahngegner: »Ich habe bereits eine Meinung.
Verwirren Sie mich nicht mit Fakten!«
Es ist schwer, das Video anzuschauen, ohne zu
lachen. Marin aber verzieht keine Miene. Sie tut, was
das Amt verlangt: Sie erteilt den Ratsmitgliedern das
Wort. Aber sie tut es nicht unkommentiert. »Hören
Sie auf, unsere Zeit zu verschwenden!«, sagt sie. Es
klingt nicht wie eine Bitte. Es klingt wie ein Befehl.
Das Video hat Marin in Finnland berühmt
gemacht. Vermutlich, weil ihr da im Kleinen ge­
lingt, woran die großen Parlamente oft scheitern:
Sie lässt Politiker, die die Demokratie verhöhnen,
um sich als Anwalt besorgter Bürger aufzuspielen,
nicht wie tapfere Rebellen aussehen. Sondern wie
bemitleidenswerte Spinner, die der Würde ihres
Amtes nicht gewachsen sind. Sie wendet die Ver­
nunft gegen die populistische Emotion. Und sie
hat damit bis heute Erfolg.
Drei Jahre später, an einem Mittwochmorgen
Ende Februar, empfängt Sanna Marin im finnischen
Reichstag, einem wuchtigen Bau im Zentrum von
Helsinki. Über Marmortreppen und weite Flure er­
reicht man ihr Büro. »Pääministeri« steht in goldenen
Buchstaben an der Tür – Premierministerin.
Im Dezember 2019 übernahm die Sozialdemo­
kratin Sanna Marin das Ministerpräsidentenamt von
ihrem Vorgänger Antti Rinne, der erst erkrankte und
dann wegen einer Koalitionskrise zurücktreten muss­
te. Da war sie 34 Jahre alt – die jüngste Ministerprä­
sidentin der Welt. Seither reist sie unentwegt. Trifft
Angela Merkel in Berlin. Verhandelt in Brüssel mit
den europäischen Staats­ und Regierungschefs über
den Haushalt der EU. Marins Mann, ein Start­up­
Unternehmer und ehemaliger Fußballprofi, ist in
Elternzeit. Während seine Frau das Land regiert, ver­
sorgt er die gemeinsame Tochter.
Finnland hat nur fünfeinhalb Millionen Ein­
wohner und zählt, gemessen an der Wirtschaftskraft,
zu den eher unwichtigen EU­Mitgliedsstaaten. Doch
kein europäisches Regierungsoberhaupt wurde von
den Medien zuletzt so hofiert wie Sanna Marin. Ein
Reporter der finnischen Zeitung Iltalehti, der sie auf
ihrer ersten Brüssel­Reise begleitet hat, sagt, der
Medienrummel sei »grotesk« gewesen. Als sich die
Kameras um sie scharten, sagte Marin: »Hello every-
body! Ich bin so aufgeregt, hier zu sein.«
Die Artikel, die seither über sie erscheinen, sind
nicht wohlwollend. Sie sind euphorisch. »Jung,
weiblich, kompetent«, jubelt die Deutsche Welle. Die
Bild­Zeitung nennt Marin »Super­Sanna«. Es geht
in den Berichten fast immer um dasselbe: um Marins
Alter. Um ihr Geschlecht. Und um ihr Aussehen. Nur
um eines geht es fast nie: um ihre Politik.
Marin ist nicht die erste Ministerpräsidentin, aber
die erste, die mit Koalitionsparteien regiert, die alle­
samt von Frauen geführt werden. Und sie verkörpert
eine neue Spezies in der Spitzenpolitik: Sie ist nicht
einfach nur eine Frau. Sie ist auch noch außer­
gewöhnlich jung, außergewöhnlich schön – und
Mutter eines zweijährigen Kindes. Eigenschaften, die
Politikerinnen kurzzeitig ins Rampenlicht schleudern.
Aber ihnen auf dem Weg nach oben in aller Regel im
Wege stehen. Marin ist die erste, der es gelingen könn­
te, diese Regel außer Kraft zu setzen. Die Strategie, die
sie dabei nutzt, dürfte nicht nur Frauen interessieren,
die sich gegen übermächtige Männer behaupten
müssen. Sondern auch Parteien, die übermächtige
Populisten bezwingen wollen.
Spitzenpolitiker lassen Journalisten oft warten.
Marin ist zehn Minuten zu früh. Spitzenpolitike­

Zack! Zack! Zack!


Die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin ist 34 Jahre alt und hat ein Rezept gegen Populisten gefunden: Radikale Humorlosigkeit.


Teil 8 der ZEIT­Serie über Pionierinnen VON CATERINA LOBENSTEIN


SERIE: DIE ERSTE (8)


Foto: Anton Sucksdorff für DIE ZEIT; ZEIT-GRAFIK/Quelle: eduskunta.fi


Seufzer. Vor ein paar Tagen, erzählt sie, habe sie von
der Columbia­Universität in New York eine Einla­
dung erhalten. Sie solle einen Vortrag halten, darüber,
was speziell die Frauen in die klimapolitische Debat­
te einbringen können. »Was für eine dumme Frage!«,
stöhnt sie. »Wir bringen die Hälfte der Bevölkerung
ein – reicht das nicht?« Es ist der einzige Moment des
Gesprächs, in dem Marin so etwas wie eine Gefühls­
regung zeigt. Dann beherrscht sie sich wieder.
Vor einigen Jahren, als in westlich geprägten
Demokratien die Parteiensysteme zu erodieren be­
gannen, als Volksparteien verzwergten und populis­
tische Ränder erstarkten, trat ein neuer Politikertypus
auf den Plan: der Clown. Männer wie der italienische
Parteienführer Beppe Grillo oder der ukrainische Prä­
sident Wolodymyr Selenskyj, Männer, die zuvor
hauptberuflich Komiker waren und sich auch deshalb
so gut in der Politik zurechtfanden, weil sie dort nicht
weiter auffielen – neben Männern wie Boris Johnson
oder Donald Trump. Gut möglich, dass sich mit
Sanna Marin gerade eine weibliche Antwort auf
diesen Typus herausbildet: die radikal ernsthafte Frau.
Fragt man Marin, warum sie Politikerin wurde,
sagt sie: »Ich hatte, als ich 20 war, das Gefühl, dass
die ältere Generation die entscheidenden Probleme
nicht anpackt, den Klimawandel zum Beispiel.
Denen war nicht klar, wie kritisch die Lage ist. Mir
ist damals bewusst geworden, dass ich selbst was tun
muss.« Manchmal erinnern ihre Sätze an die der
Klimaaktivistin Greta Thunberg.
Dass Marin nicht bei den Grünen, sondern bei
den Sozialdemokraten gelandet ist, liege an ihrer
Herkunft, sagt sie. »Ohne den Wohlfahrtsstaat hätte
ich nie eine Chance gehabt.« Fragt man sie, an wel­
chen Maximen sie ihre Politik ausrichte, sagt sie: an
der Bekämpfung des Klimawandels. Und an der Ein­
haltung der Menschenrechte. Sätze, die viele Sozial­
demokraten so nicht mehr sagen würden. Aus Angst
vor Rechtspopulisten, die überall in Europa Stimmen
gewinnen, auch in traditionellen Arbeitermilieus.
Finnland hat deren Aufstieg schon vor Jahrzehnten
durchlebt. Die »Wahren Finnen«, eine Art nordische
AfD, sind die stärkste Partei des Landes.
Es gibt Parteien, die versuchen, die Populisten zu
besiegen, indem sie deren Politik kopieren. Die dä­
nischen Sozialdemokraten zum Beispiel, die in der
Migrationspolitik einen scharfen Rechtsschwenk
vollzogen. Marin sagt: »Das könnte ich mit meinen
Werten nicht vereinbaren. Und das entspricht auch
nicht den Werten meiner Partei.« Demnächst, erzählt
sie, werde die Regierung 175 Flüchtlinge aus über­
füllten Lagern evakuieren, unter anderem aus Grie­
chenland. Laut einer aktuellen Umfrage sind 64 Pro­
zent der Finnen mit Marins Regierung zufrieden.
Viele von Marins Wegbegleitern erzählen, sie sei
bewundernswert unbeirrt. Manche sagen, sie sei stur.
»Sanna lacht nicht über jeden blöden Witz, sie will
niemandem gefallen«, sagt Minna Minkkinen, eine
Lokalpolitikerin aus Tampere, die Marin aus dem
Stadtrat kennt. Kaisa Vatanen, eine Parteifreundin
von Marin, sagt: »Ich habe noch nie jemanden ge­
troffen, der seine Ziele derart stoisch verfolgt.«
Einen Tag später sitzt Marin in der Kantine des
Reichstags, die aussieht wie die Kulisse eines skandi­
navischen Arthouse­Films, mit grün getünchter Decke
und dicken Marmorsäulen. Es riecht nach Zimtschne­
cken und Gulaschsuppe. Sanna Marin isst nichts. Sie
sitzt am Tisch mit Antti Rinne, dem früheren Mi­
nisterpräsidenten, der mal Gewerkschaftsführer war,
ein Sozialdemokrat alter Schule, mit grauem Haar
und blauem Anzug. Rinne wurde im letzten Jahr
schwer krank, mitten im Wahlkampf. Marin, damals
stellvertretende Parteivorsitzende, sprang kurzerhand
für ihn ein. »Sie hat keinen einzigen Moment gezö­
gert«, erzählt Rinne später am Telefon. Ratschläge hole
sich Marin bei ihm nicht. »Sie weiß schon selber ganz
gut, was sie zu tun und zu lassen hat.« Marin hat ein
sechsköpfiges Team aus Politik­ und Medienberatern.
Dessen ältestes Mitglied, Marins europapolitischer
Berater, ist 41 Jahre alt.
Am Nachmittag hält Marin eine Rede im Reichs­
tag. Das Parlament hat eine Sondersitzung einberufen,
wegen des Coronavirus. Sie spricht über Präventions­
und Quarantänemaßnahmen. Hinter ihr stehen fünf
vergoldete Gipsstatuen, vor ihr sitzen die 200 Abge­
ordneten des finnischen Parlaments. 47 Prozent von
ihnen sind weiblich. Dies war das erste Parlament der
Welt, in das Frauen gewählt werden durften.
Die Debatte verläuft, wie so viele, friedlich und
sachorientiert. »Wir Finnen mögen keine persönli­
chen Attacken«, sagt Bikka Purra, eine Abgeordnete
der rechtspopulistischen »Wahren Finnen«. Vieles an
Marins Politik finde sie falsch. Ihre Klimapolitik sei
blauäugig, außerdem gebe sie zu viel Geld aus und
habe ihre Koalition nicht im Griff – ein Eindruck,
den auch finnische Journalisten und andere Abge­
ordnete teilen. Eines aber dürfe man nicht vergessen:
»Sanna Marin ist eine extrem gute Rednerin. Sie ist
gut für das Land.« Das sagt die Rechtspopulistin
Bikka Purra über die Sozialdemokratin Sanna Marin.
Die vergoldeten Statuen, die hinter Marin in den
Plenarsaal ragen, sind fast hundert Jahre alt. Sie zeigen
nackte Männer mit gestählten Körpern, Allegorien
für Arbeit und Wohlstand. Eine der Statuen zeigt eine
Frau. Sie hat den Rücken zum Plenarsaal gewandt und
trägt ein Kind im Arm. Sie symbolisiert die Zukunft.

rinnen tragen oft Hosenanzüge, die klassische
Rüstung der mächtigen Frau. Marin trägt ein kurzes
Kleid. Spitzenpolitiker wissen oft genau, wie sie
Journalisten zufriedenstellen, sie machen Witze und
kumpeln herum, sie haben persönliche Anekdoten
parat, weil sie wissen, dass Journalisten das mögen.
Marin macht unmissverständlich klar, dass sie nur
über eines zu reden gedenkt: über ihr Regierungs­
programm. Zum Beispiel über ihren Plan, Finnland
bis zum Jahr 2035 CO₂-neutral zu machen. Oder
über ihr Elternzeitgesetz, das es Müttern und Vätern
erleichtern soll, die Erziehungsarbeit gerecht auf-
zuteilen. Oder über die Erwerbsquote, die sie er-
höhen will, um das teure Rentensystem abzusichern.
Weil es in Finnland immer weniger klassische
Fabrikjobs gibt, stehen immer mehr schlecht aus-
gebildete Finnen ohne Arbeit da. Marin will deshalb
die Schulpflicht verlängern, bis zum 18. Lebensjahr.
Sie versucht nicht, die Jobs der Vergangenheit zu
retten. Sie versucht, die Menschen vorzubereiten
auf die Jobs der Zukunft.

Es ist nicht so, dass Marin nichts Persönliches
preisgäbe. Auf Instagram findet man Fotos, auf denen
sie ihre Tochter stillt. In Interviews erzählt sie, dass ihr
Vater Alkoholiker war und ihre Mutter arm. Dass die
Mutter sich in eine Frau verliebte, weshalb Marin in
einer Regenbogenfamilie aufwuchs, zu einer Zeit, in
der das bestenfalls als sonderbar galt. Sie erzählt, dass
sie als Erste in ihrer Familie studierte und das Studium
selbst finanzierte. Marin schirmt ihr Leben nicht
hermetisch von der Öffentlichkeit ab. Aber sie dosiert
peinlich genau, wie viel davon nach außen dringt.
Hakt man während des Gesprächs neugierig nach,
erlaubt man sich zum Beispiel zu fragen, mit welchen
Studentenjobs sie sich über Wasser hielt, dann mahnt
sie höflich, aber bestimmt, doch bitte bei der Sache
zu bleiben, also bei der Politik. Sie setzt denselben
strengen Blick auf, mit dem sie einst die Straßenbahn­
gegner im Stadtrat von Tampere strafte. Wie in dem
YouTube­Video. Nur ohne den hölzernen Hammer.
Dass sie im Ausland als feministische Sensation
gefeiert wird, quittiert Marin mit einem genervten

Der Vergleich

94 Frauen

106
Männer sitzen im
finnischen Parlament

Nächste Woche Teil 9 der Serie: Die Dirigentin Sylvia Caduff Zuletzt erschienen: Eine der ersten Studentinnen der Universität Yale

2006
Sie tritt den jungen
Sozialdemokraten bei

Sanna Marin


2012
Sie wird Ratsmitglied in ihrer
Heimatstadt Tampere

2015
Sie zieht ins finnische
Parlament ein

2019
Sie wird zur Ministerpräsidentin
ernannt – der jüngsten der Welt

32 WIRTSCHAFT 12. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12

Free download pdf