»Ich weigere mich,
Angst zu haben«
Was machen Sie, falls nächstes Jahr die Welt untergeht? Und welcher Politiker verdient
Ihr Mitleid? Diese und andere Fragen haben wir der Schriftstellerin Leïla Slimani gestellt
1 Welches Tier ist das politischste?
Ich würde sagen, der Affe.
Warum?
Affen kämpfen um Frauen, sie kämpfen um
Gebiete, sie führen Krieg, das ist sehr po-
litisch, finde ich.
2 Welcher politische Moment
hat Sie geprägt – außer dem
Kniefall von Willy Brandt?
Der 11. September 2001. Ich war zwan-
zig und hatte gerade angefangen, in Paris
zu studieren. Zum ersten Mal spürte ich,
dass ich als Muslimin wahrgenommen
wurde. Dass andere Menschen mich an-
schauten und sagten: »Oh, sie ist eine
Muslimin.«
Würden Sie sagen, dass die Ängste der
Muslime in Europa in den vergangenen
Jahren gewachsen ist? Und hat sich das
Gefühl in den vergangenen Monaten,
auch nach den Ereignissen von Hanau,
verändert?
Wir sollten aufhören, Angst vor einander
zu haben. Wir sollten miteinander reden,
uns treffen, versuchen, den anderen zu
verstehen. Wenn wir Angst haben, würde
es bedeuten, dass die Terroristen gewon-
nen haben, und es ist genau das, was sie
wollen: Angst verbreiten, uns paranoid
machen und ängstlich. Ich weigere mich,
Angst zu haben, weil ich mich weigere,
sie gewinnen zu lassen.
3 Was ist Ihre erste Erinnerung an Politik?
Der Bürgerkrieg in Algerien in den
Neunzigerjahren. Ich war ein Teenager
und lebte in Marokko. Ein Teil meiner
Familie, der bis dahin in Algerien gelebt
hatte, musste das Land verlassen und kam
nach Marokko. Sie erzählten uns schreck-
liche Geschichten über Frauen, die in den
Straßen ermordet worden waren, und
über Künstler, die wegen ihrer Überzeu-
gungen enthauptet worden waren.
4 Wann und warum haben
Sie wegen Politik geweint?
Ich habe geweint, als Barack Obama ge-
wählt wurde. Besonders bewegt haben
mich die langen Schlangen der Men-
schen vor den Wahlurnen. Alte schwarze
Männer und Frauen, von denen sicher
viele die Segregation der Sechzigerjahre
noch erlebt hatten und die nun diesen
brillanten und menschlichen jungen Prä-
sidenten wählen konnten.
5 Haben Sie eine Überzeugung,
die sich mit den gesellschaftlichen
Konventionen nicht verträgt?
Natürlich. Aber die würde ich niemals
verraten.
Wirklich nicht?
Nein. Wir leben in einer Welt, in der
Menschen nicht versuchen dich zu ver-
stehen, wenn du nicht konventionell bist
und wenn du Dinge sagt, die provokativ
sind. Sie beleidigen dich. Und ich will
nicht beleidigt werden.
6 Wann hatten Sie zum ersten Mal
das Gefühl, mächtig zu sein?
Als ich gelernt habe zu lesen.
7 Und wann haben Sie sich
besonders ohnmächtig gefühlt?
Jedes Mal, wenn ich jemanden nicht ver-
teidigt habe, wenn ich ein Feigling bin.
Das ist schon geschehen.
Erinnern Sie sich an einen Moment?
Einmal, in Marokko, als ich ein kleines
Mädchen war, bekam ich mit, wie ein
Mann mit einer Frau auf eine sehr grobe
Weise sprach. Ich habe nichts getan.
8 Wenn die Welt in einem Jahr untergeht –
was wäre bis dahin Ihre Aufgabe?
Sie dürfen keinen Apfelbaum pflanzen.
Ich würde trinken, Gras rauchen, und
ich würde ganz viel feiern.
9 Sind Sie lieber dafür oder dagegen?
Dafür.
10 Welche politischen Überzeugungen
haben Sie über Bord geworfen?
Ich habe immer geglaubt, dass jeder frei
sein möchte. Aber nun weiß ich, dass das
nicht stimmt. Viele Menschen ziehen die
Sicherheit der Freiheit vor. Sie ziehen
Geld der Freiheit vor, sie ziehen Komfort
der Freiheit vor.
Sie haben einmal gesagt, dass Schreiben
Freiheit bedeutet. Stimmt das noch?
Natürlich. Aber für diese Freiheit erbringe
ich viele Opfer. Ich glaube, wenn man
sich dafür entscheidet, ernsthaft frei zu
sein, entscheidet man sich auch dafür,
einsamer als andere zu sein. Aber nur so
kann man Schriftsteller sein.
11 Könnten Sie jemanden küssen,
der aus Ihrer Sicht falsch wählt?
Klar. Ich könnte sogar mit jemandem
schlafen, der konträr zu meiner politi-
schen Einstellung wählt. Ich glaube nicht,
dass das Wahlverhalten etwas mit Verlan-
gen oder Liebe zu tun hat. Und vielleicht
könnte ich sogar seine Sichtweisen ändern
durch das Küssen. Wie in dem Märchen
vom Froschkönig, wo aus dem Frosch ein
Prinz wird nach einem Kuss.
12 Haben Sie mal einen Freund wegen
Politik verloren? Und wenn ja –
vermissen Sie ihn?
Ja, aber ich vermisse diese Freunde nicht.
13 Welches Gesetz haben Sie mal gebrochen?
Und welches würden Sie brechen?
Vielleicht kennen Sie das Gesetz in Ma-
rokko, das es Menschen verbietet, Sex zu
haben, wenn sie nicht verheiratet sind.
Ihm zufolge bin ich eine Gesetzlose.
14 Waren Sie als Schülerin beliebt oder
unbeliebt, und was haben Sie daraus
politisch gelernt?
Ich war beliebt. Ich habe gelernt, dass
man, wenn man beliebt ist, diesen Status
auch auf eine schlechte Weise nutzen
kann. Indem man grausam zu Menschen
ist oder sie verachtet. Man muss immer
sehr vorsichtig sein, wenn man beliebt ist.
Aber haben Sie nicht auch gesagt, dass die
Emanzipation erst real sein wird, wenn die
Menschen realisieren, dass Frauen auch
dunkle und abgründige Seiten haben?
Das widerspricht sich nicht. Natürlich
können Frauen ebenso dunkel und un-
barmherzig sein wie Männer. Aber es be-
deutet nicht, dass es eine gute Sache ist,
grausam zu sein.
15 Welche politische Ansicht Ihrer Eltern
war Ihnen als Kind peinlich? Und welche
heute?
Keine. Ich bewundere meine Eltern sehr.
Sie haben mir alles beigebracht.
16 Nennen Sie eine gute Beleidigung für
einen bestimmten politischen Gegner.
Ich würde nie jemanden beleidigen. Das
entspricht nicht meiner Persönlichkeit,
und für mich ist Beleidigen ein Zeichen
von Schwäche.
17 Welche Politikerin, welcher Politiker
hat Ihnen zuletzt leidgetan?
Oh, da gibt es so viele ...
Nennen Sie einen.
Ich würde sagen Bolsonaro. Er tut mir
leid.
Warum?
Weil er so dumm ist und so kindisch.
Haben Sie die Witze gehört, die er
über seinen Penis und Exkremente
macht? Er ist peinlich für sein Volk und
sein Land. Er tut mir leid, weil er sich
auf der falschen Seite der Geschichte
befindet.
18 Welche Politikerin, welcher Politiker
müsste Sie um Verzeihung bitten?
Ich habe sehr viel Glück. Ich habe mich
noch nie als Opfer eines Politikers ge-
fühlt. Ich will mich auch gar nicht in
dieser Position sehen. Aber es gibt viele
Politiker, die vielen Menschen eine Ent-
schuldigung schulden, seien es Frauen
oder Migranten.
19 Welcher Politiker, denken Sie, sollte
mehr Einfluss haben?
Angela Merkel.
Warum?
Ich bewundere Angela Merkel sehr. Und
ich denke, dass das, was sie 2015 wäh-
rend der Flüchtlingskrise getan hat, et-
was Großes war. Ich bin mir ziemlich
sicher, dass man ihrer in hundert Jahren
dafür gedenkt.
Hätte Sie dafür den Friedensnobelpreis
verdient?
Warum nicht? Wenn man sich anschaut,
was gerade in Griechenland geschieht,
wie die Küstenwache versucht hat, ein
Schiff mit Migranten zum Kentern zu
bringen, dann finde ich, dass ihre Ent-
scheidung, die Türen von Deutschland
zu öffnen, eine ganz außergewöhnliche
war.
20 Welche politische Phrase
möchten Sie verbieten?
Make America Great Again.
21 Finden Sie es richtig, politische
Entscheidungen zu treffen,
auch wenn Sie wissen, dass die
Mehrheit der Bürger dagegen ist?
Ja. Und ich habe einige Beispiele dafür.
Der französische Jurist und Politiker
Robert Badinter beispielsweise: Er hat
Roger Bontems verteidigt, er verlor, und
Bontems wurde 1972 wegen Mordes
zum Tode verurteilt. Daraufhin wurde
Badinter zum vehementen Gegner der
Todesstrafe, und 1981, als er Justizmi-
nister wurde, hat er noch im gleichen
Jahr die Abschaffung der Todesstrafe
gegen großen Widerstand durchgesetzt.
Oder Simone Veil, die sich als Gesund-
heitsministerin 1971 dafür einsetzte, die
Abtreibung zu legalisieren. Also ja:
Manchmal muss man politische Ent-
scheidungen treffen, die einer Mehrheit
widersprechen.
22 Was fehlt unserer Gesellschaft?
Brüderlichkeit und Solidarität. Wir sind
alle sehr, sehr egoistisch.
23 Welches grundsätzliche Problem
kann Politik nie lösen?
Den Fakt, dass wir alle sterben werden.
24 Sind Sie Teil eines politischen Problems?
Ich hoffe nein.
25 Nennen Sie ein politisches Buch,
das man gelesen haben muss.
Abhandlung über die freiwillige Knecht-
schaft von Étienne de La Boétie aus dem
Jahr 1576.
Was haben Sie daraus gelernt?
Dass es Menschen gibt, für die Freiheit
nicht das Wichtigste ist. Als Teenager
konnte ich oft nicht verstehen, warum
Menschen einen Diktator unterstützen.
Warum können sie akzeptieren, in einem
Land zu leben, in dem sie unterdrückt
werden? Das Buch erklärt es.
26 Bitte auf einer Skala von eins bis zehn:
Wie verrückt ist die Welt gerade?
Und wie verrückt sind Sie?
Keine Ahnung. Wenn Sie die Vergangen-
heit als Maßstab nehmen, bin ich mir
nicht sicher, dass die Welt heute verrück-
ter ist als früher. Ich sage: Acht für die
Welt. Und für mich würde ich sagen:
Entweder eine 1 oder eine 10. Wahr-
scheinlich würde ich die 10 wählen.
Sie sind mal sehr verrückt und mal gar
nicht? Wie kommt das?
Ich denke, ich bin einfach eine 10. Gerade
habe ich meinen neuen Roman in Frank-
reich veröffentlicht (Le pays des autres,
Anm. der Redaktion). Ich bin ängstlich,
außer mir, hysterisch.
27 Der beste politische Witz?
Ich bin richtig, richtig schlecht im
Witze erzählen. Was mich wirklich zum
Lachen bringt, ist der französische Pre-
mierminister Édouard Philippe. Er ist
sehr lustig, weil er immer Wörter
durcheinanderbringt und Fehler beim
Sprechen macht. In manchen wirklich
wichtigen Reden hat er ein Wort für ein
anderes benutzt, und es war sehr, sehr
lustig, unfreiwillig.
28 Was sagt Ihnen dieses Bild (Der
marokkanische König Mohammed VI. in
einer traditionellen Tracht)?
Der König trägt einen Turban und einen
schwarzen Umhang wie Generationen
von Monarchen vor ihm. Marokko ist ein
sehr altes Land mit uralten Traditionen.
Helfen Traditionen der Politik – oder
stehen sie Neuem im Weg?
Wahrscheinlich ist beides richtig. Es ist
wichtig, eine Balance zwischen Tradition
und Moderne zu finden. Was ich wirklich
an Traditionen mag, ist, dass sie uns mit
unserer Vergangenheit verknüpfen, mit
den Menschen, die vor uns gelebt haben.
Ich finde das sehr bewegend.
29 Wovor haben Sie
Angst – außer dem Tod?
Vor der Feigheit. Meiner eigenen. Und
der von Menschen generell.
30 Was macht Ihnen Hoffnung?
Meine Kinder. Und junge Menschen.
Die Fragen stellte Elisabeth Knoblauch
Jede Woche stellen wir Politikern
und Prominenten die stets selben
30 Fragen, um zu erfahren, was sie
als politische Menschen
ausmacht – und wie sie dazu
wurden. Und wo sich neue Fragen
ergeben, haken wir nach.
Die Nachfragen setzen wir kursiv.
Leïla Slimani, 38 Jahre alt, Schriftstellerin. In Marokko geboren und aufgewachsen, kam sie mit 17 Jahren nach Paris,
wo sie seitdem lebt. Ihr Roman »All das zu verlieren« verkaufte sich allein im ersten Jahr mehr als eine halbe Million Mal.
DER POLITISCHE FRAGEBOGEN
Der marokkanische König
Mohammed VI. (siehe Frage 28)
Illustration: David de las Heras für DIE ZEIT;
Foto: Szwarc Henri/Abaca/ddp (u.)
58 FEUILLETON 12. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12