Die Zeit - 12.03.2020

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REISE


72 12. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12


W


as für ein herr­
licher Tag das für
eine passeggiata
sei, versichert mir
eine ältere, sorg­
fältig zurechtge­
machte Dame, die
auf der Uferpro­
menade von Sant’Elena unweit der Giardini
meinen Weg kreuzt. Auf der Wiese nebenan
sitzen Familien beim Picknick, eine aufblas­
bare silberne »5« baumelt an einer der hohen
Pinien, zwischen denen die Kinder in Mann­
schaften gegeneinander Fußball spielen. Die
Nachricht, dass die Stadt unter Quarantäne
steht, ist an diesem Sonntagnachmittag keine
24 Stunden alt. Dutzende Spaziergänger sind
ringsum unterwegs, als wollten sie sich verge­
wissern, dass das Leben hier draußen weiter­
geht. Die Frauen tragen leuchtend gelbe Mi­
mosensträuße durch die Straßen, die in Italien
zum 8. März, dem Internationalen Frauentag,
verschenkt werden. Wenn die Venezianer
stürben, stürben sie mit einem Lächeln im
Gesicht, sagt ein Kellner in einem der Cafés an
der Promenade, in dem ich irgendwann Platz
nehme, um in die Abendsonne zu blinzeln,
und zuckt mit den Schultern.
In der Nacht zum 8. März ist die Stadt zur
»zona rossa« erklärt worden, zum sogenannten
Risikogebiet. Am Abend darauf wird die
Schutzzone auf ganz Italien ausgeweitet wer­
den; 856 Infizierte, 26 Todesfälle sind bis zum


  1. März in der Region Veneto gemeldet. Doch
    an diesem Sonntag, so scheint es, machen sich
    die Venezianer noch nicht viel aus den Vor­
    schriften, die aus Rom eingetroffen sind. Sie
    promenieren, als wäre nichts geschehen. Dabei
    darf nur noch ein­ und ausreisen, wer triftige
    Gründe dafür angeben kann, Arbeit, persönli­
    che Notfälle. Die Einwohner sind aufgerufen,
    am besten zu Hause zu bleiben, die Bars müs­
    sen um 18 Uhr schließen. Aber es sind ohnehin
    nicht mehr viele Besucher in der Stadt.
    Ich selbst bin Anfang Februar nach Venedig
    gekommen, um zwei Monate in der Stadt zu
    leben – und mit ihr. Ich kam pünktlich zum
    Beginn des Karnevals und sah die traditionelle
    Regatta über den Canal Grande schippern, die
    in diesem Jahr sehr viel kleiner ausfiel, weil sich
    viele venezianische Rudervereine entschlossen
    hatten, gegen die Motorschifffahrt auf den
    Kanälen zu protestieren. Den angereisten Kar­
    nevalisten und Touristen war das offenbar egal:
    Sie jubelten den geschmückten Gondeln auf
    ihrer Route quer durch die Lagunenstadt be­


geistert zu. Zwei Wochen später war das Spek­
takel vorbei, der Karneval vorzeitig abgesagt.
Seit die ersten Coronavirus­Fälle in der
Stadt bekannt wurden, sind die Touristen, die
gerade erst so zahlreich angereist waren, um als
Conte, Contessa oder Pestdoktor verkleidet zu
feiern, nach und nach abgereist.
Auch ich habe anfangs überlegt, meinen
Aufenthalt abzubrechen. Dann entschied ich
mich zu bleiben. Und auch nach den jüngsten
Beschlüssen der Regierung hat sich daran nichts
geändert. Venedig ist in den vergangenen
Wochen zu einer Stadt geworden, wie man sie
vorher nicht erleben konnte: touristenleer, zur
Ruhe gekommen und dabei seltsam gelassen.
Für gewöhnlich ist das Gedränge groß und
das Geschiebe massiv in den Gassen. Vor zwei
Jahren hatten die Behörden bereits begonnen,
mit Straßensperren und Drehkreuzen den
Tourismus­Ansturm im Zentrum zu
bändigen. Jetzt waren die Venezianer auf
einmal allein mit ihrer Stadt. Und ich mit
ihnen. Allein mit einer Stille, die kaum zu
glauben war, weil die Bilder von den ver­
stopften Gassen so mächtig sind, von
dicht an dicht sich aneinander vorbei­
zwängenden Körpern, weil man die riesi­
ge Menschenmasse, die sich gerade noch
durch die Geschäfte schob, nicht so ein­
fach aus dem Kopf bekommt.
Die Venezianer konnten dieser Stim­
mung wohl selbst am wenigsten trauen.
Sie, die durch Handel und Seefahrt im­
mer schon offen für andere gewesen sind,
kennen die Stille nicht mehr, die sich
abends anreichert, wenn niemand in den
Lokalen am Canal Grande sitzt und man nur
das sanfte Klatschen der Wellen gegen die
Kaimauern hört. Es ist eine unerhörte Ruhe,
eine beinah schon gespenstische.
Anfangs hatte ich Angst – wie andere auch.
Angst, ich könnte mich oder andere zwischen
den hohen, schwarzen, verfallenen Häusern
anstecken, eingeschlossen sein auf einer Insel.
Es klingt schon fast zu sehr nach Klischee: Aber
in einer Stadt, in der Thomas Manns nervöser
Novellenkünstler Gustav von Aschenbach auf
der Suche nach ein bisschen Ruhe und Ent­
spannung schließlich an der aus Indien ein­
geschleppten Cholera stirbt; in einer Stadt, die
wie keine andere vom Charme des Morbiden
lebt, den verfallenen Patrizier­Palazzi und den
traurig­schönen Kanälen, ist die Vergänglich­
keit plötzlich noch einmal stärker präsent.
Venedig ist eine Stadt, die man nur schwer
schützen kann und die insofern eine ideale

Bühne bietet für eine Krankheit, die sich von
Mensch zu Mensch überträgt. Als die Pest im
Mittelalter in der Lagunenstadt wütete, brach­
te man die Erkrankten nach Lazzaretto
Vecchio, eine vorgelagerte Insel westlich des
Lido, von der sich seitdem die Bezeichnung
»Lazarett« herleitet. Auch der Begriff der Qua­
rantäne ist eng mit Venedig verbunden. Abge­
leitet von dem italienischen Wort für »vierzig«


  • quaranta – bezeichnete er die Anzahl Tage,
    die pestverdächtige Schiffe in der Hafenein­
    fahrt vor Anker bleiben mussten, bevor sie nach
    Venedig einfahren durften. Man könnte also
    sagen, die Einwohner sind isolationserprobt.
    Zumindest hatten sie mir bald die Angst
    genommen. Auf meinen Spaziergängen durch
    die Stadt erstaunte mich vor allem die Lässigkeit
    der Venezianer. Auf der Piazza vor der Jesuiten­
    kirche Santa Maria Assunta, über die sonst die


Trolleys der Touristen rollen auf dem Weg vom
Vaporetto­Anleger zu den Hotels in den engen
Gassen, kickten Jungs ihren Fußball gelangweilt
gegen eine der schiefen Häuserwände, Mädchen
fuhren Inline­Skates, während junge Mütter mit
abgedecktem Kinderwagen in der Sonne saßen,
Kaffee tranken und plauderten, als wäre es das
Normalste der Welt. Als wäre das hier eine
normale Stadt. Auf der Pescheria, dem traditio­
nellen Fischmarkt an der berühmten Rialto­
brücke, herrschte vor den Ständen lebhafte
Stimmung. Die Verkäufer – ansonsten eher
kurzsilbig – waren gesprächig geworden. Vene­
dig gehe es gut, Venedig könne es gar nicht
schlecht gehen, sagten sie, während hinter ih­
rem Rücken gerade der Tintenfisch von den
Fischern ausgenommen und fachgerecht in
seine Einzelteile zerlegt wurde. Die Auslagen,
die sich zwischen uns auftürmten: reich be­
stückt mit Jakobsmuscheln, Wolfsbarsch und
Calamari auf Eis. Auf dem Obst­ und Gemüse­

markt gleich gegenüber frische Orangen,
Tardivo und geschälte Artischocken im Wasser­
bad. Ich kannte die Fernsehbilder aus Mailand,
Bilder von leer geräumten Regalen. In Venedig
schien niemand an Hamsterkäufe und Kon­
serven zu denken.
Um denen Mut zu machen, die geblieben
sind, Einheimischen und Gästen, hatten sich
die Cafés und Bars auf der Piazza San Marco
sogar für eine Werbeaktion zusammengeschlos­
sen: Unter dem Hashtag #unitipervenezia gab
es den Aperitivo zu Sonderkonditionen: Der
zweite Spritz geht aufs Haus, auch wenn er
wegen des offiziellen Sicherheitsabstands von
einem Meter nicht mehr wie gewohnt an der
Theke – al banco – getrunken werden durfte.
Ich hatte gelernt, mich an die Regeln zu halten,
obwohl sich der Körperkontakt, gerade in klei­
nen Bars, auf Dauer nicht vermeiden lässt.
Nicht in Italien.
Am Montag dieser Woche, nach Be­
kanntgabe der neuen Schließzeiten, wur­
de die Kampagne allerdings von den Be­
treibern abgeblasen. Und auch im Caffè
Lavena, einem Traditionshaus im klassi­
schen Wiener Kaffeehausstil, ist die Stim­
mung gekippt. Als ich es in der vergange­
nen Woche besuchte, setzten sich die
Gäste noch sehr entspannt und fröhlich
über den Mindestabstand hinweg, ob­
wohl ein Türsteher schon da für ange­
messene Distanz sorgen sollte. Der wird
nun nicht mehr gebraucht. Als ich am
Montag in das Café zurückkehre, stehen
so wenige Besucher an der Theke, dass
mich der Barmann bei meiner Bestellung
etwas ungläubig anschaut: Sollte ich nicht
besser zu Hause sein? Er hält die Quarantäne­
Maßnahmen für richtig – die Betreiber des
Cafés denken momentan sogar über eine vo­
rübergehende Schließung nach. Das Caffè
Florian auf der gegenüberliegenden Seite der
Piazza San Marco ist bereits zugesperrt.
Auch auf der Straße scheint Lässigkeit
inzwischen immer weniger gern gesehen.
Die deutsche Honorarkonsulin Paola Nardi­
ni, eine gebürtige Venezianerin, sagt mir am
Montag: »Ich sehe Menschen in Venedig,
die den Sicherheitsabstand nicht einhalten.
Gruppen vor den Lokalen, im Park, Jogger.
Ich finde das fahrlässig.« Der Ministerpräsi­
dent Giuseppe Conte erklärt am Abend:
»Wir sind uns bewusst, wie schwer es ist, alle
unsere Gewohnheiten zu ändern, aber wir
haben keine Zeit mehr.« Die Konsulin sagt
allerdings auch: »Die Stadt hat schon andere

Katastrophen überlebt. Venedig bleibt im­
mer Venedig. Die Zeit wird es richten.«
Die Tage in Venedig werden nun länger,
manche wirken sogar gefährlich lang, wenn
man nur auf Besuch ist, ein Venezianer auf
Zeit, und die Konzerte, Lesungen und Ge­
sprächsrunden auf einmal abgesagt sind. Ich
bin anfangs oft vor den Schaufenstern stehen
geblieben. Jetzt schauen mich die Ladeninhaber
durch die Scheiben an, weil ihnen die Kund­
schaft fehlt. In den Supermärkten werden vor
den Kassen die Abstände zwischen den Kunden
mit Klebeband markiert. An den Vaporetto­
Anlegern sind städtische Teams in weißen
Schutzanzügen dabei, die Armaturen und
Unterstände zu desinfizieren.
Langsam komme ich mir überflüssig vor in
der Stadt, unangemessen präsent, als gäbe es
keinen Platz mehr, den ich einnehmen kann.
Damit mir nicht die Decke auf den Kopf
fällt, steige ich auf das Dach des Fondaco dei
Tedeschi am Canal Grande, der ehemaligen
Niederlassung deutscher Händler in Venedig.
Von der Terrasse des Hauses, in dem sich heu­
te ein nobles Einkaufszentrum befindet, über­
blickt man die ganze Stadt.
Venedig sei eine internationale Stadt, hat
mir eine Touristenführerin gesagt, deren Tou­
ren bis auf Weiteres abgesagt sind. Sie ver­
misse die Gäste, nicht nur weil sie mit ihnen
Geld verdient. Sie vermisse das Französische,
das Englische, das Deutsche. Und das wird
wohl noch eine Weile so sein. Es gibt im Italie­
nischen unzählige Varianten, um die Pause in
einem Gespräch zu überbrücken. Die Zäsur,
die nun eingetreten ist, wird nicht so leicht zu
überspielen sein. Ich erinnere mich an eine Aus­
sage von Arrigo Cipriani, dem Besitzer von
Harry’s Bar, dem vielleicht berühmtesten Lokal
der Stadt. In der Lokalzeitung La Nuova sagte
er, er hoffe, in diesem schweren Moment wür­
den sich die Einwohner auf sich besinnen, den
Kopf oben behalten und weiterhin stolz darauf
sein, in der schönsten Stadt der Welt zu leben.
Und ich frage mich, ob es trotz der Gefahr
noch immer ein Privileg ist, in dieser absolut
einmaligen Situation hier zu sein, oder doch
schon Katastrophentourismus. Bei gutem
Wetter reicht der Blick vom Dach des Fondaco
dei Tedeschi bis in die Alpen. Richtung
Deutschland. Aber im Moment ist das hier
nicht der schlechteste Ort, um in Quarantäne
zu gehen.

Peter Neumann, 32, ist Schriftsteller,
Philosoph und Lyriker und lebt in Berlin

Die Stadt steht unter Quarantäne. PETER NEUMANN ist seit Wochen als Tourist dort –


und erlebt, wie die Venezianer nur langsam ihre Lässigkeit verlieren


Foto: Giacomo Maestri

Not in Venedig

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