Die Zeit - 12.03.2020

(backadmin) #1

W


er beim Essen oder
beim Trinken Nachhilfe
braucht, sollte nach
Georgien reisen. Beides
beherrschen die Georgier
ziemlich gut. Ich habe weder mit dem
einen noch mit dem anderen Probleme,
wage an diesem Abend in Tbilissi aber et-
was, das für die gemeinschaftsliebenden
Georgier unerhört ist: alleine etwas trin-
ken zu gehen. Meinen Bekanntschaften
im Land erzähle ich nichts. Es reicht
schon, dass sie wissen, wie unschicklich, ja
sündhaft ich mich sonst verhalten habe
auf dieser Reise: Ich war mehrfach alleine
essen. Meist lief das so, dass ich an ein oder
zwei opulenten Vorspeisen verzweifelte,
während zu den anderen, voll besetzten
Tischen immer neue Gerichte getragen
wurden, die alle sich teilten. Trinken, den-
ke ich, kriege ich gut alleine hin. Oder?
Bevor ich losziehe, verschaffe ich mir
eine Grundlage auf georgische Art: trinke
ein Glas von dem, was für die Georgier wie
Wasser ist – ihr Wein. Dabei lese ich einen
Satz, den der georgische Nationaldichter
Schota Rustaveli geschrieben hat, damals
war noch Mittelalter: »Was du verschenkst,
hast du gewonnen, was du versteckst, hast
du verloren.« Er steht auf der Web site der
Bar 41 Gradus. In die will ich nun, weil sie
sich selbst damit rühmt, Tbilissi etwas zu
schenken, woran es bislang mangelt: Cock-
tails. 41 Gradus liegt in Sololaki, am Fuß
des Hausberges Mtazminda, es ist eines der
ältesten Viertel, in das viel Neues, Hippes
zieht. Dazwischen Jugendstilornamente,
Holzbalkone, eine Pracht, könnte man sa-
gen – würde man ausblenden, dass in allem
ein Bruch liegt. Häuser, manchmal so schief
und so abgestützt, dass man sich fragt:
Wohnt da noch jemand?
Die Bar hat eine dunkle Tür, die einen
Spalt weit offen steht, ich schiebe sie auf
und gehe eine Treppe hinunter. Die zwei
hinterm Tresen mit schwer wirkenden Bar-
tenderschürzen recken ihre Köpfe, und ich
frage mich: Haben sie mich erwartet, oder


habe ich sie gestört? Als ich mich setze, sagt
einer von ihnen: »Sei nicht überrascht, wenn
du unser einziger Gast bist. Gestern kam
der erste um Mitternacht. Wir machen
keine Werbung.« Ist es Stolz oder Schmerz,
was er damit ausdrückt? Wille oder Wunde?
Ich lasse die Fragen Fragen sein, weil ich
ahne, dass es darauf keine klare Antwort
gibt – nicht in Georgien, wo es scheint, als
habe jeder Schmerz zugleich seinen Stolz,
jede Wunde ihren Willen, jede Pracht ihren
Bruch, jede Brüchigkeit ihren Aufbruch. Als
Cocktailkarte dient ein schwarzes Mole-
skine-Notizbuch, jede Woche kommt eine

neue, handbeschriftete Doppelseite hinzu.
Eben habe ich Rustaveli gelesen, nun wäh-
le ich den Drink, der nach ihm benannt ist.
Darin ist Chacha enthalten – eine Spirituose
aus vergorenen Traubenresten, nach Wein
Georgiens zweites Nationalgetränk.
Während der Barmann meinen Drink
mixt, erklärt er mir, warum 41 Gradus
41 Gradus heißt: Hat ein Mensch über
42 Grad Fieber, kommt der Tod. Das hier
soll also extrem sein, am Limit, gerade noch
auszuhalten. Ich beäuge meinen Drink,
dann streckt mir jemand, der dann doch
gerade hereingekommen ist, von der Seite

ein Bounty entgegen: Willst du? Ich nehme
den Schokoriegel, trinke dazu meinen Rus-
taveli, und in meinem Mund entsteht eine
betäubend süße, bittere Masse. Später er-
innere ich mich: Der Drink war sehr kräftig
und hat geschmeckt. Mit dem Bountyschen-
ker geht es schnell um alles im Leben. Er sagt
Sätze wie: Im Leben geht es immer hoch und
runter. Im Leben öffnen sich immer wieder
Türen, wenn andere sich schließen. Ich mag
Kalendersprüche, aber ich muss nicht alle
Kalenderblätter auf einmal durchlesen. Es
ist also tatsächlich am Limit, nur gerade
noch auszuhalten. Ich verschränke meine

Arme, und der Mann sagt: Öffne dich! Das
Leben ist kurz! Es gibt nur ein Leben! Dann
zeigt er auf den Barmann und fragt mich,
wie der aussehe. Ich sage nichts mehr. Jesus!,
sagt er. Und wie sehe ich aus?, fragt er. Ich
sage nichts. Er: Wikinger. Er verabschiedet
sich, und ich bleibe noch etwas bei Jesus.
Der erzählt, dass er nicht aus Georgien kom-
me, sondern aus Russland, und dass es
manchmal schwierig sei als Russe unter Ge-
orgiern. Vielleicht sei auch deshalb seine Bar
leer. Nun denke ich: mehr Schmerz als Stolz.
Wohin geht Jesus zum Trinken?
Meoba Bar, sagt er, dort liebe er den Vibe.

Die Meoba Bar liegt an der Rustaveli
Avenue, den Champs-Élysées von Tbilissi.
Türkisfarbene Wände, Holztische, Sofas,
einfache Stühle, an der Bar sind noch Plätze
frei. Ich frage nach Spezialitäten und lasse
mir einen Chachalgin machen. Drin ist
wieder Chacha, dazu Bitter Lemon und
Limette. Wie Medizin, sagt die Barfrau. Ich
stelle fest, dass ich noch nie Medizin getrun-
ken habe, die so bitter und erfrischend ge-
schmeckt hat; nur vor zwei Jahrzehnten, da
gab es diesen Hustensaft. Noch mal Medi-
zin, sage ich zur Barfrau. Dann will die Juke-
box mit mir reden. Sie sagt: Lose yourself; it’s
a wonderful, wonderful life. Wo es wunder-
voll ist zu trinken, frage ich die Barfrau. Sie
sagt: Hier. Ich erinnere mich an Jesus, der
von einer Bar erzählte, bei der man, um Ein-
lass zu bekommen, erst durch eine Kamera
beäugt wird. Was ist mit der Drama Bar,
frage ich sie. Ja, die ist gut, sagt die Barfrau.
Ich stehe vor dem Eingang eines Hauses,
das im Dunkeln sehr monumental aussieht,
ein paar Treppenstufen hoch, im dritten
Stock leuchtet über einer Holztür: DRA-
MA. Eine Türsteherin mit Headset dirigiert
mich vor ein Kameraauge, danach muss ich
abwarten. Nach einer Weile höre ich: Ja
bitte. Drinnen ist Wohnzimmeratmosphäre,
Teppich, Schrankwände vielleicht aus den
Sechzigern, Zimmerpflanzen, Körperskulp-
turen, ein Faxgerät, alles ist in pinkfarbenes
Licht getaucht, und überall stehen die läs-
sigsten und schönsten Menschen der Stadt
rum. Dazu ein Dance floor, eine Bar und
harter Bass. Ich bestelle einen Drink, hinein
kommen Gin, Mate, Aperol, Ananas, und
er heißt so, wie sich hier alles anfühlt – Dra-
ma. Das Getränk wird dem Namen im Ver-
gleich zum Tamtam drum herum am we-
nigsten gerecht, viel zu süß. Etwas mehr
Drama kommt dann: Ein Georgier erkennt
mich wieder und sagt, er habe mich schon
mal woanders in der Stadt gesehen – beim
Alleine-Essen. Vielleicht, denke ich später,
hätte ich ihm gleich Nachhilfe geben sol-
len – im Alleine-Trinken. Dass das geht,
weiß ich nun wohl besser als die Georgier.

Tbilissi


Barkeeper weisen den Weg durch die Nacht: SONJA HARTWIG übt sich im Alleine-Trinken und findet Jesus


IN DREI DRINKS DURCH


Fotos: Dina Ogandova für DIE ZEIT; Illustration: Oriana Fenwick

Bar 41 Gradus


Galaktion Tabidzis 19
Täglich 19 bis 1 Uhr

Drama Bar


Schota-Rustaveli-Avenue 37
Do–So 21 bis 3 Uhr

Meoba Bar


Schota-Rustaveli-Avenue 23
Mo–Fr 18 bis 2 Uhr, Sa/So 18 bis 6 Uhr

Neulich suchte ich ein Hotelzimmer auf
Phuket, in der Hauptsaison, ziemlich kurz-
fristig. »137 freie Unterkünfte!« meldete das
Buchungsportal triumphierend und listete
gleich eine Reihe Hotels in der Inselhaupt-
stadt auf, die bei anderen Reisenden »sehr
populär« waren. Das erste lag komplett ab
vom Schuss, war aber »dreimal gebucht für
Ihre Daten in den letzten 24 Stunden!«,
außerdem schien es einen Rabatt zu geben.
Das nächste lag optimal, machte aber einen
hässlichen Eindruck (trotzdem: »Nur noch
1 dieser Art auf unserer Seite verfügbar!«).
Weiter unten war das Blanket Hotel gelistet:
»sehr populär«, 27 sehr gute Bewertungen.
Nur 27? Das hässliche hatte doch ... Mo-
ment ... 1332 gute Bewertungen. Ich klick-
te hin, ich klickte her und wurde immer
unruhiger. Offenbar suchten zeitgleich noch
viele andere nach einem Zimmer, jedenfalls


wurden die angezeigten Kontingente immer
kleiner, und die Zahl der Mitbewerber
wurde immer größer: Neun Personen sehen
sich gerade diese Seite an. Zwölf! 14!
In der Verkaufspsychologie heißt diese
Taktik »Prinzip der Verknappung«. Dass es
zu wenig von etwas geben könnte – Hotel-
zimmer, Flüge, Bahnsitzplätze –, sind die
meisten von uns nicht mehr gewohnt. Ver-
knappung löst Stress aus. Und die Angst,
am Ende leer auszugehen. Dabei ist es doch
so: Ein Hinweis wie »Im Viertel XY sind zu
Ihren Wunschdaten schon 17 Unterkünfte
ausgebucht!« hat kaum Bedeutung, wenn
mit dem Viertel etwa Manhattan gemeint
ist, wo noch 311 andere Hotels freie Zim-
mer anbieten. Auch der Satz »Nur noch 1
dieser Art auf unserer Website verfügbar«
bedeutet eben nur: Hier, bei uns, auf unse-
rem Portal.

Hat das Hotel wirklich nur


noch ein freies Zimmer?


REISEWISSEN

Und bei vermeintlichen »Schnäppchen-
preisen« ist die ganze Wahrheit oft nicht
gleich ersichtlich. Bei der Suchmaschine
Agoda etwa, die zum selben Konzern wie
Booking.com und Kayak.com gehört, ist der
(angebliche) Originalpreis oft rot durchge-
strichen. Bewegt man den Mauszeiger darü-
ber, erscheint zum Beispiel folgender Hin-
weis: »Hierbei handelt es sich um den
höchsten Preis, den ein Gast im vergangenen
Jahr für dieses Zimmer bezahlt hat.« Kann
heißen: Diesen absolut illusorischen Preis
hat ein völlig verzweifelter Mensch hinge-
legt, als einmal gar nichts mehr ging. Auch
für das Banner »Preis ist um 37 Prozent ge-
fallen!« sind Infos hinterlegt: »Der Preis ist
37 Prozent günstiger als der höchste Preis,
der in den vergangenen 14 Tagen für ein
Zimmer in diesem Hotel bezahlt wurde.«
Könnte also auch eine Suite gewesen sein.

Was tun? Nicht nervös werden. Am
besten alles ignorieren, was flackert oder
blinkt – auch Stoppuhr-Symbole, auch
durchgestrichene »Originalpreise«, auch
Banner in Warnorange. Stattdessen beim
Wunschhotel anrufen. Oder zumindest die
Preise auf dessen Website überprüfen.
Hätte ich das getan, dann hätte ich auf
Phuket deutlich preiswerter übernachtet.
Das »sehr populäre« Blanket Hotel mit nur
27 sehr guten Bewertungen war trotzdem
bezaubernd: ziemlich neu, mit großen Zim-
mern und einem tollen Frühstück. Für mich
und die beiden anderen Gäste, die da waren.

Stefan Nink hat mehr als 30 Reisebücher
geschrieben. Hier gibt er in loser Folge
im Wechsel mit Thilo Mischke
seine Tipps und Erfahrungen weiter


  1. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12 73


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