Die Zeit - 12.03.2020

(backadmin) #1

ENTDECKEN


Vorher/Nachher: Unsere Straße


Vor unserem Haus wuchs ein schöner, gesunder Blauglockenbaum, der Vögeln und Stadtbienen Unterschlupf
und Nahrung bot – heute wurde er gefällt. Angeblich, weil die Wurzeln Schaden verursachen könnten. Tatsächlich aber
haben sich wohl die Nachbarn durchgesetzt, die über das Laub und die Verdunkelung im Sommer klagten. Als wir
informiert wurden, versuchten wir die Aktion noch zu verhindern – ohne Erfolg. Ich fühle mich so machtlos. Wenn ich
den Baum vor unserer Haustür nicht retten kann, wie soll ich verhindern, dass im Amazonasgebiet Bäume fallen?
Juan G. Diaz, Stuttgart

ZEITSPRUNG

Sonntagsfrühstück mit meiner Freundin. Bei
Kaffee, Brötchen und einem Glas Sekt die
ZEIT lesen, nicht reden, nur ab und an den
Blick aus dem Fenster auf den Eilbekkanal
schweifen lassen. Eigentlich könnte es nicht
besser sein, denke ich.
Wobei, wenn sie das hier liest, hochschaut und
ich ihr den Ring zeige, den ich seit Wochen in
meiner Tasche verstecke, dann ja vielleicht doch!
Sven Pieninck, Hamburg

Ich stehe am Morgen nach nächtlicher Feierei
und weiß Gott nicht viel Schlaf auf dem Weg
zum Bahnhof an einer Kreuzung und denke,
na toll, die Müllabfuhr direkt vor mir. Schläng le
ich mich mit meinem Skate board noch rechts
vorbei? Pustekuchen!
Da hält mir ein Mitarbeiter die Hand hin und
lädt mich zum »Mitfahren« ein. Mitfahren,
hä!? Ich bin erst total verwirrt, doch dann
check ich’s: Die Müllabfuhr zieht mich mit
meinem Skate board bis zum nächsten Halt –
und die Welt sieht (auch durch müde Augen)
schon ganz anders aus.
Dinah Großwendt, Osnabrück

Eine Kindergartengruppe wandert – schön ge­
ordnet in Zweierreihen – durch die Fußgänger­
zone. Alle Kinder haben hellgrüne Warn­
westen an. Aus der Entfernung sehe ich eine
grüne Raupe mit vielen kleinen Beinen – in
Gedanken hat sie mich noch durch den ganzen
Tag begleitet.
Jürgen Hagemeyer, Lüdenscheid

Nach 22 Jahren Berufstätigkeit in zehn ver­
schiedenen Jobs in drei Städten in jeweils un­
terschiedlichen Bundesländern – und immer
befristeten Verträgen – habe ich (endlich) einen
unbefristeten Arbeitsvertrag unterzeichnet. Es
fühlt sich einfach nur großartig an.
Inken Köhler, Tübingen

Nach der Mittagspause auf der Skihütte ma­
chen wir uns daran, die Bretter wieder anzu­
schnallen. Da rauscht auf der Piste ein Ski­
fahrer vorbei, auf seinen Armen: ein riesiger
Hund mit langem, im Wind wehendem Fell.
Beide halten den Blick fest auf die Piste gerichtet


  • und wirken absolut tiefenentspannt.
    K atja Z im ny, Regensburg


Im ICE auf der Fahrt nach Berlin: Alle Men­
schen, groß und klein, starren auf ihre Smart­
phones, wischen hektisch darauf herum oder
schicken mit zuckenden Fingern Botschaften an
unsichtbare »Freunde«. Niemand spricht.
Plötzlich wird die Stille durch den Juchzer
eines Kindes unterbrochen. Mein Blick fällt
auf ein vielleicht sieben Jahre altes Mädchen,
das fasziniert die vorbeifliegende Landschaft
bestaunt. Es gibt eigentlich nicht viel zu sehen:
Wölkchen am Himmel, Bäume, hin und wie­
der Häuser, ein Bächlein und ein paar Autos.
Aber die interessieren dieses Kind offenbar
mehr als das neben ihm liegende Handy.
Schön, dass es das noch gibt ...
Wolfgang Fischer, München

Ich besuche mit meinen beiden syrischen
Leih­Enkeln die Kinderbücherei unserer
Stadtbibliothek, und wir entdecken Eric
Carles Kinderbuch­Klassiker Die kleine Raupe
Nimmersatt in einer aramäisch­deutschen Ver­
sion. Fortan lesen die Mutter und ich abwech­
selnd daraus vor und stellen fest, es steckt ein
halber Sprachkurs in dem kleinen Buch: die
Wochentage, die Zahlen und all die vielen
Dinge, die die Raupe frisst ... Ein Schatz für
Kinder, die in einer neuen Sprache heimisch
werden sollen – und wollen.
Christine Ahrens, Gütersloh

In der U­Bahn. Neben mir liest eine junge
Frau ein Buch. Ich sehe, es ist mein Buch (er­
schienen in kleiner Auflage). Voller Freude
frage ich: »Gefällt es Ihnen?« Sie, genervt: »Ja.«
Ich, erfreut: »Soll ich Ihnen was reinschreiben,
es ist von mir.« Sie: »Also, das ist ja nun die
dreisteste Anmache, die ich je erlebt habe.«
Zwei Tage später eine Entschuldigung auf
Face book mit der Bitte um eine Widmung.
Die hat sie bekommen, bei einer gemeinsamen
Tasse Tee.
Holger Doetsch, Berlin

Auf dem Spielplatz ist ein kleiner Junge gestol­
pert und hat sich dabei das Knie aufgeschlagen.
Nun weint er bitterlich, aber seine Oma ver­
sorgt die Wunde und tröstet ihn mit den Wor­
ten: »Der liebe Gott macht alles wieder gut.«
Fragend sieht sie der Kleine an: »Muss ich rauf,
oder kommt er runter?«
Volker Meitz,
Elmenhorst, Mecklenburg­Vorpommern

Leben


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reicher macht


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Schreiben Sie uns, was Ihr Leben reicher macht,
teilen Sie Ihre »Wortschätze« und
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Redaktion DIE ZEIT, »Z­Leserseite«, 20079 Hamburg

A


ls Jan war ich schüchtern, als Janisha
war ich dreist, aggressiv und witzig.
Vor zwei Jahren gewann ich den Titel
»Queen of the Night« in einem
Münchner Club, das war der Anfang meiner
zweiten Identität als Dragqueen Janisha Jones.
Bald wurde ich auf der Straße erkannt und an­
gesprochen, ein Jahr später angeschrieben, ob
ich an einer neuen Castingshow mit Heidi
Klum teilnehmen möchte. Klar wollte ich. Das
wird mein Durchbruch, habe ich gedacht. Wie
bei Germany’s next Topmodel treten Kandidaten
gegeneinander an, die Jury entscheidet jede
Woche, wer gehen muss und wer bleiben darf.
Mit frischen falschen Fingernägeln, zwei
großen Koffern voll Make­up, Outfits und
Perücken bin ich nach Los Angeles zu den
Dreharbeiten geflogen. Dort habe ich mit den
anderen Kandidaten in einer Villa mit Pool ge­
wohnt. Wir mussten unsere Handys abgeben.
Nur am Wochenende haben wir sie bekom­
men. Und ich durfte niemandem davon erzäh­
len, dass ich gerade in Kalifornien bin, das
stand in meinem Vertrag. Hätte ich mich ver­
plappert, hätte ich eine fünfstellige Summe
zahlen müssen. Auf Instagram habe ich so
getan, als machte ich gerade Urlaub in Thailand.
Nur mein Freund wusste Bescheid.
Ich bin als erste der »Queens« rausgeflogen
und musste aus der Villa ausziehen. Der Sen­
der hat mir ein Airbnb gemietet, und ich
bekam ein bisschen Taschengeld, damit habe
ich die Stadt erkundet. Fünf Tage lang, bis die
nächste ausgeschiedene »Queen« zu mir ziehen
musste.
Was viele nicht wissen und natürlich auch
nicht wissen sollen: Die komplette Show ist
vor der Ausstrahlung abgedreht, es steht also
längst fest, wer gewonnen hat. Zurück in
Deutschland, durfte ich nicht einmal meinem
Freund sagen, wie schnell ich ausgeschieden
war. Aber er hat es sofort erraten, weil ich so
niedergeschlagen war. Mir war es peinlich:
Überall in der Stadt hingen riesige Poster, um
die Show zu bewerben, manche fünf Meter
hoch an Hauswänden. Mein Gesicht habe ich
an Bushaltestellen gesehen, in Zeitschriften,
im Fernsehen. Es gab sogar Wackel­Postkarten,
die mich als Jan und Janisha zeigten. Auf mei­
nem Instagram­Kanal machte ich Werbung für
die Show. Mir schrieben Leute, dass ich ihr
Favorit sei.
Ich arbeite in einer Szenebar, dort war ein
großes Public Viewing geplant. Meine Freunde,
Bekannten, Arbeitskollegen, alle sind gekom­
men. Der Laden war komplett voll. Ich hatte
Angst, dass die Leute von mir enttäuscht wä­
ren, weil ich nicht weitergekommen bin. Aber
in der Bar waren alle auf meiner Seite, vertei­
digten und trösteten mich. Inzwischen bin ich
darüber hinweg: Das Format war nicht mega­
erfolgreich, außer ein paar Tausend Followern
auf Instagram hat die Show mir nicht viel
gebracht. Und in München kennt man mich
eh schon.


... als Erster aus


einer Castingshow


zu f liegen


WIE ES WIRKLICH IST

Jan Sabater Viñals, 26,
tritt als Dragqueen
Janisha Jones auf

Wenn Sie in unserer Rubrik »Wie es wirklich ist«
berichten möchten,
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Wappnen


Den Medien sind dieser Tage viele Tipps zu entnehmen, wie man sich gegen das Coronavirus wappnen kann.
Der Begriff stammt aus dem Mittelhochdeutschen, leitet sich von Waffe beziehungsweise Wappen ab und lässt in
meinem Kopf das Bild eines tapfer kämpfenden Ritters entstehen. In diesem Sinne: Kampf dem Coronavirus!
Sebastian Polzer, Innsbruck

Quest


In Fantasy­Romanen, Science­Fiction­Filmen und Computerspielen trifft man gelegentlich auf den Begriff Quest –
und zwar immer dann, wenn es um eine Suche oder eine andere Aufgabe geht, die der Held (oder Spieler) zu
bewältigen hat. Und demnächst soll es sogar ein Kürzel .quest für Web sites geben, die Suchen zum Thema haben.
Als ich den Begriff nachschlug, der mir, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, neu war, stellte ich fest, dass er
in Wirklichkeit schon viele Jahrhunderte auf dem Buckel hat: Er leitet sich vom altfranzösischen Wort »queste«
beziehungsweise vom lateinischen »quaestio« ab, was Forschung oder Frage bedeutet. Schon in der Artussage wird
die Reise eines Helden, bei der er sich als Ritter bewähren muss, als »Quest« bezeichnet.
Hans-Peter Oswald, Köln

MEIN WORTSCHATZ

Aufgezeichnet von Stefanie Witterauf

Diese Eule heißt Nir, was eine Abkürzung für Nirvana ist, und lebt in einem Eulen-Café in Tokio. An den Wochenenden sitzen die Vögel dort im Gastraum herum. Fotografiert von James Mollison

Folge 196


Du siehst aus, wie ich mich fühle


76 12. MÄRZ 2020 DIE ZEIT No 12


Illustration: Eva Revolver für DIE ZEIT; Foto: Privat
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