Frankfurter Allgemeine Zeitung - 06.03.2020

(sharon) #1

SEITE 12·FREITAG,6.MÄRZ 2020·NR.56 Neue Sachbücher FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Selten wurde in Deutschland so heftig
über Religion diskutiertwie heutzutage.
Der Gesprächstonhat sichallerdings
merklichverändert. Die religiös-weltan-
schauliche Pluralisierung sowie die Ent-
fremdung eines wachsendenTeils der
deutschen Bevölkerungvonjeglicherge-
lebtenReligiosität führtdazu, dassReligi-
on kaum mehr als Medium sozialer Inte-
gration, sondernhauptsächlichals Stör-
faktor mit erheblichemKonfliktpotential
wahrgenommen wird. Die historischge-
wachsenen Verflechtungen zwischen
dem Staat und denchristlichen Kirchen,
vonder Kir chensteuer bis zu den Kreuzen
in Schul-und Gerichtsräumen,geratenin-
folgedessen zunehmend unter Druck.
Noch weitaus größeren Sprengstoff
birgt allerdings derUmgang mit dem Is-
lam, vonder Knabenbeschneidung über
Kopftuc hund Burka bis zu den sogenann-
tenEhrenmorden. Das französischeBei-
spiel lehrt, dasseine radikal laizistische
Position, die auf dieVerdrängung derReli-
gion aus der Öffentlichkeit abzielt,keine
taugliche Lösungsstrategie darstellt, weil
sie dasreligionsimmanente Gewaltpoten-
tial lediglichinden Bereichder Polizeibe-
richte und Kriminalstatistikenverschiebt,
statt es als eingenuin politisches Problem
erns tzunehmen.Aber auch eine ostentati-
ve Bevorzugung derchristlichenReligion,
wie sie zuletzt in Gestalt des bayerischen
Kreuzerlasses praktiziertwurde, wirkt
eher wie ein Akt trotziger Wirklichkeits-
leugnung, aber nicht als ein durchdachtes
Identifikationsangebotdes Staates an sei-
ne Bürger.
Wiesoll derStaat stattdessen mit dem
Faktum desreligiösen Pluralismus umge-

hen? DerVorschlag, den der Baseler Straf-
rech tswissenschaftler BijanFateh-Mogha-
dam unterbreitet,hat seine Wurzeln im
politischen Liberalismus und seine wich-
tigstenphilosophischen Gewährsmänner
in JohnRawlsund JürgenHabermas. Im
Zentrum diesesVorschlags steht der Be-
griffder Begründungsneutralität.Danach
dürfendie Bürgerzwarihreprivate Le-
bensführung an beliebigen ethischen
oder religiösenÜberzeugungen ausrich-
ten. Normen, die mitgesellschaftsweiter
Verbindlichkeit ausgestattetwerden sol-
len, also insbesondereRechtsbestimmun-
gen, müssten hingegen unabhängigvon
derartigen Überzeugungen begründet
werden. Legitim seien sie nur,wenn sie
sichauchineiner säkularen Sprache
rechtfertigen ließen, die allen Bürgern
gleichermaßen zugänglichsei.
Der bekannteste Einwand gegendiese
Konzeptionlautet,dasssie ethischkeines-
wegs so neutral sei, wie sie sichgebe, son-
derninihrem antiseptischenFormalis-
mus das Lebensgefühl einer kleinenge-
sellschaftlichen Elite, jener „Any-
wheres“, die sichüberall und nirgends zu
Hause fühlten undkeinen Sinn fürge-
wachsene Zugehörigkeiten hätten, zum
Maß aller Dingeerkläre. Fateh-Mogha-
dam kennt dieses Bedenken, nimmt es
aber nicht sonderlichernst,denn esge-
nügt ihm, dasserdie Rechtsprechung des
Bundes verfassungsgerichts auf seiner Sei-
te sieht.Für die Bereitwilligkeit, mit der
er an dieStelle einer sorgfältigen Analyse
der Voraussetzungen und Grenzen seiner
eigenenPosition einen methodischver-
gleichsweise schlichten Verfassungsge-
richtspositivismus setzt, zahltFateh-Mo-
ghadam allerdings einen beträchtlichen

Preis. Eingemauertinseine dogmatische
Formelwelt, legt er an einerReihe von
Punkten ein erstaunlichgeringes Maß an
Sensibilitätgegenüberden vonihm unter-
suchten Phänomenen an denTag.
So glaubt er den zugunsteneines Burka-
verbots im öffentlichenRaum insFeld ge-
führtenHinweis, dassesmit derAutono-
mie der vollverschleiertauftr etenden
Frauen häufig nichtweit her sei, mit dem
rechtspolitischen Standardargument ent-
kräf tenzukönnen, darin liegeein unzu-
lässiger Pate rnalismus.Natürlic hkann
man mitFug undRecht dieFrageaufwer-
fen, ob es derAutonomie der betroffenen
Frauen wirklich dient, wenn sie infolgeei-
nes Verschleierungsverbots ihreWoh-
nung überhauptnicht mehrverlassenkön-
nen. Die Selbstbestimmtheit ihresVerhal-
tens aus lauterNeutralitätsbestre ben aber
einfachzudekretieren heißt, ihreschwie-
rige Situation mit einem überschießen-
den juristischenAbstraktionsdenkenzu
übergehen. Angesichts einerVielzahl ein-
schlägiger Fallschilderungen hat diese
Strategie geradezu etwa sZynisches.
Auch in derFrageder Zulässigkeit ei-
ner Knabenbeschneidung ausreligiösen
Gründen argumentiertFateh-Moghadam
losgelöstvom sozialen undkulturellen
Kontext. Ihm genügt es, dassdie Zustim-
mung zu einem solchen Eingriff auf-
grund der mit ihmverbundenen Hygiene-
und Präventionsvorteile jedenfallskeinen
evidenten Missbrauchdes elterlichen Sor-
gerechts darstellt.Die religiösen Motive
der Elternwill er hingegen bei derrechtli-
chen Beurteilung gänzlichaußer Acht las-
sen; eben darin äußeresichdie „Lebens-
formneutralität“ eineswahrhaf tliberalen
Rechtsver ständnisses.

Aber lässt sicheine solchePosition
wirklichdurchhalten? Man stelle sich
eine Gruppe rechtsr adikaler Esoteriker
vor, die ihreKinder beschneiden lassen,
um sie frühzeitig an das Ertragenvon
Schmerzen zugewöhnen oder um ihrem
Gott dasvonihm geforderte Opfer darzu-
bringen.Wäre es fürFateh-Moghadam so-
zial vermittelbar,imNamen dervonihm
hochgehaltenen „Eigensinnigkeitrechtli-
cher Entscheidungs- und Begründungszu-
sammenhänge“ auchderar tmotivierte
Eingriffefür rechtlichunbedenklichzuer-
klären?Undwenn ja,waswürdenwohl
ernsthaftreligiöse Elterndazu sagen, mit
rechtenFanatikerninein und dieselbe ju-
ristische Schubladegesteckt zuwerden?
Als religiös allzu unmusikalischerweist
Fateh-Moghadam sichschließlich auchin
seinererwartungsgemäß zu einemvernei-
nenden Ergebnis führenden Diskussion
der Frage, ob derStraftatbestand der Be-
kenntnisbeschimpfung noch eine Berec hti-
gung habe. DemVorschlag, dieseStraf-
normmit dem Achtungsanspruchder
Gläubigenzurechtfertigen, die durch die
Beschimpfung dessen, wasihnen heilig
ist, angegriffen werden, hält er entgegen,
dies privilegiere die religiösenÜberzeu-
gungen über Gebührgegenüber anderwei-
tigen Persönlichkeitsprägungen.Aber ste-
hen „Kunst,Wissenschaftoder Leistungs-
sport“wirkli ch aufderselben Ebene mitje-
nen umfassenden Selbst- undWeltdeutun-
gen, denen sichviele Menschen, ob religi-
ös oder nicht und wie schwankend und in-
konsequent auchimmer,inihrem Gewis-
sen verpflichte tfühlen? Zwar macht es ei-
nen erheblichenUnterschied, ob ichge-
setzlichzueiner gewissenswidrigen Hand-
lung genötigtwerdeoder ob ichlediglich

dabei zusehen muss, wie ein anderer das
mir Heiligebeschimpft. Daherkann man
durchaus zu dem Ergebnis gelangen, die
letztgenannteZumutung sei nicht so
schwerwiegend, dasssie mit den Mitteln
des Strafrechts unterbundenwerden müs-
se. Aber mitFateh-Moghadam so zu tun,
als sei diewichtigste Eigenscha fteines auf-
geklärtenMenschen dieFähigkeit zur um-
fassenden und jederzeitigen Selbstdistan-
zierung, namentlichvon dem,wasihm
etwa nochanreligiösenÜberzeugungen
geblieben ist,greiftfür denRezensenten
entschieden zukurz.
Diese Bedenken sollen nicht einem ein-
seitigPartei er greifendenStaat dasWort
reden. Damit derStaat, um einevonFa-
teh-Moghadam häufig zitierteFormel des
Bundesverfassungsgerichts aufzugreifen,
„Heimstatt aller Bürger“ seinkann,muss
er sie diskriminierungsfreibehandeln.
Vonihm kann hingegen nichtverlangt wer-
den, sichhinsichtlichdersozialen,kulturel-
len und anthropologischenRahmenbedin-
gungen desRechts blind zustellen, nur um
einemrein formal verstandenenNeutrali-
tätsgebotGenügezutun. DasvonFateh-
Moghadam zugrunde gelegte Legitimati-
onsmodell istdaher in seiner Klarheit und
Geschlossenheit zwar eindrucksvoll, aber
letztli ch zu si mpel. MICHAELPAWLIK

A


mletzten Tagihres Bestehens
gabdie DDR zwei Briefmar-
kenserien heraus. Einevon bei-
den zeigteden Dresdner Zwin-
ger, die Erde, den Mond und den Mars
und würdigteeinen Weltraumkongress in
der Elbestadt. Die andereSerie erinnerte
an den hundertstenTodestagvon Hein-
rich Schliemann, dem Entdeckerdes anti-
kenTroja. Aufden beiden Markensind
nebeneinemPorträt des Geehrtenauch
Ausgrabungsstücke zu sehen.
„Die letzten Briefmarken der DDR mit
einer Botschaftfür dieZukunft“, kom-
mentiertJan Wenzel dieAbbildung der
Markenindem vonihm zusammengestell-
tenBand „Das Jahr 1990 freilegen“, des-
sen Titelselbstauf eine archäologische
Expedition anspielt.Mit derWendung
„Lesen als besondereFormdes Grabens“
leitet Wenzel sein Buchein. Folgerichtig
steht eineFotografie vonScherben einer
antikenVase vorihrer Wiederzusammen-
setzung am Beginn des Bandes. Später,
ungefähr in der Mittedes Buches,taucht
inmittenvonzeitgenössischen Dokumen-
tender Nach wendezeit eineAbbildung
der zusammengesetztenVase auf.
Verspielt, rätselhaftund irritierend
kommt dieseskapitalismuskritischeWerk
manchmal daher,wenn sichunter dieFo-
tografien aus dem Jahr 1990, dieetwa
Wolfgang Leonhardbei einer Misswahl in
Leipzig oderFrédéricvon Anhalt in Phan-
tasieuniformzeigen, auchGemälde Goy-

as, BildervonTiefseefischen odereinBal-
zac-Porträt mischen.Wenzel präsentiert
Hunderte vonBild- undTextfundstücken,
um das Jahr der deutschen Einheit zu „re-
montieren“.Zugleichaber führtseine Col-
lageaus Schlagworten, Erinnerungen,
Zeitbeobachtungen, Sitzungsprotokollen
und Interviews auf fast sechshundert
großformatigenSeitenvorAugen, dass
1990 sichnicht auf dendritten Oktoberre-
duzieren lässt und auchnicht zwangsläu-
figauf diesen einenTagzuläuft.
Entstanden istsodas Kaleidoskop ei-
nes Jahres, das sichbei jeder Durchsicht
andersdarstellt.Schicht für Schicht legt
der Band mit Hilfezeitgenössischer,oft
unveröffentlichter Fotografien und be-
kannter wie unbekannter Protagonisten
den –ummit dem EthnologenVictor Tur-
ner zu sprechen–„liminalen Schwellenzu-
stand“ des Jahres offen, in dem noch
nichts entschieden, aber vielesmöglich

war. Es is tein Buch, in dem man sich
schnellverlieren kann, das zu Entdeckun-
geneinlädt, manchmal zum Innehalten
mahnt, dieZeitgenossen zurRevision der
eigenen Erinnerungen anspornt und in
dem sichviele der Entwicklungenandeu-
ten, die uns bis heute beschäftigen.
Mit Werbeanzeigenetwaverfolgt der
Band die Kommunikationsrevolution
(„WerTelekommunikation sät, wirdPro-
duktivität ernten“),die sic hmit der Li-
zenzvergabe zumAufbau eines Mobil-
funknetzes an den Mannesmann-Kon-
zernimNovember 1989 und dem öffentli-
chen Zugang zum InternetimJahr darauf
Bahn brach. In einer dieser Anzeigen
etwa preis tToshiba den erstentragbaren
Computer an und Motorola ein neuesMo-
bil telefon, dessen Gesamtgewicht auf 3,
Kilogramm abgesenktwerden konnte.
Dabeigeht der Blicküber die deut-
schen Grenzen hinaus auchnachSüdafri-

ka,woNelson Mandela freikam, in die
Tschechoslowakeizum neuen Präsiden-
tenVáclavHavel, zur arabischen Halbin-
sel, auf der Irak dasNach barlandKuwa it
annektierte,und insWeltall, aus dem das
Hubble-Teleskop Bilder der Supernova
RemnantN103B lieferte.
Im Zentrum aberstehen dieletzten
Monateder DDR,und angesichts der
Vielzahl der angeschnittenen Themen,
wirdsichjederLeserdas Buchanderser-
schließen. DemRezensenten bleibenvor
allemdie Bilder undTextezum Konsum-
rausc hnachder Währungsunion im Ge-
dächtnis,die ad hoc dieFrageevozieren,
ob die Oktoberrevolutionvon1989 nicht
mehrals eineKonsumevolutiongewesen
ist. Undjeden bibliophilen Menschen
schmerztdas Foto der aufgehäuften,
wertlos gewordenenBücher im Leipziger
Kommissions- und Großbuchhandel im
Juni 1990.

Wenzel zitiertaus dem Rhizom-Kon-
zeptvon Deleuze/Guattari: „Findetdie
Stellen in einem Buch, mit denen ihret-
wasanfangenkönnt.“ DieAufforderung
steht auchauf dem Buchrückendes Ban-
des, der zur Lektüreeines anderen Bu-
ches animiert. Immer wieder nämlichwer-
den eindrucksvolle Auszügeaus „Das letz-
te Jahr –Begegnungen“ vonMartin
Gross, der Anfang 1990 ausWest-Berlin
nachMagdeburgzog, zitiert. Die scharf-
sinnigen, zwischen Dokumentation und
Literaturchangierenden Beobachtungen
vonGross sollteman lesen, um ein Ge-
spür für das Jahr 1990 und seinen Alltag
zu bekommen.
„Das Jahr1990 freilegen“ wurdefür den
Prei sder Leipziger Buchmessenominiert
in derKategorieSachbuch undEssay,ob-
wohl eskein stringen targumentierendes
Sachbuchund weit mehrals ei nEssay ist.
Dasschwere undzugleichleichte, heitere
undtraurige, vielschichti ge undgrenzüber-
schreitende Gesamtkunstwerkist dennoch
ein würdiger Kandidat. RENÉ SCHLOTT

AlarmismuswarUmberto Eco fremd,
auchinSachenfaschistischer Gefahr.
Bei ihmsteht zu lesen: „DerUr-Fa-
schismuskann in den unschuldigsten
Gewänderndaherkommen. Es istun-
serePflicht, ihn zu entlarven.“ Ein Ap-
pell,dem alles Schrilleabgeht–weil
der Vortrag, dem er entnommen ist,
nicht den Schreckendes Totalitaris-
mus beschwört,sonderndas Glück
der Befreiung vonihm.
Eco hielt denVortragmit demTitel
„Der ewigeFaschismus“ 1995 inNew
York.Nun liegt er in deutscherÜber-
setzungvor, zusammen mit vierweite-
renVorträgenund Artikeln zuMigrati-
on, Intoleranz, Ethnologie und dem
Frieden vonNimwegen. DochEcos Be-
obachtungenzum Faschismus sind die
Folie,vordersichdieanderenBeiträ-
ge überhaupterstinden Zusammen-
hang des schmalen Bands fügen. An-
lassder Erörterung warein Symposi-
on zum fünfzigstenJahre stag der Be-
freiung ItaliensvomFaschismus.Und
dies istgleichzeitig dasParadoxon, an
demsichEco abarbeitet,denndie „Be-
freiungvomFaschismus“ist für ihn
kein historisches Ereignis, sondern
Rhetorik: Faschismus sei ein Spiel, das
auf vieleWeisen gespieltwerdenkön-
ne, dabei aberimmer unter demglei-
chen Begriff subsumiertwerde. Das
mache diesen so schwammig, „fuzzy“,
wie Eco sagt, so dassernie aufhört,
nachInterpretation zuverlangen. An
einer solchenversucht sichEco mit
Hilfeeiner Liste vonvierzehn Merk-
malen des „Ur-Faschismus“, deretwa
einemKult der Überlieferung huldige,
die Moderne ablehne, dem Dissens
misstraue undFremdenfeindlichkeit
und Verschwörungen schüre. Doch
wasFaschistenimKernausmache sei,
dasssie kritisches Denkenverhindern
wollten :Denken sei fürFaschis ten
eine Form der Kastration.
Die Versuchung istgroß, Ecos Liste
als Erkenntnishappen zu schlucken
oder ihreAktualität im Angesichtvon
Hanau und Hallezubewundern.Doch
das befreit nichtvonder Pflicht, sich
mit der jeweils aktuellenfaschisti-
schen Rhetorikauseinanderzusetzen,
die sichfür den Literaten und Semioti-
kerEco besonders an verarmtemVo-
kabularund versimpelter Syntax er-
kennenlässt.Was Eco mit einem
Rückblick auf seine eigene Erfahrung
mit der „Befreiung“ unterstreicht :Da-
mals habe er aucheine Befreiung der
Sprache erlebt und „neue, erregende
Worte“ gelernt .Sowie „F reiheit“ und
„Diktatur“. ANNA-LENANIEMANN


„Ichversuche in diesem Bucheine
neue DefinitionvonDeutschsein“,
schreibt Ali Cangleichinder Einlei-
tung. Arbeit und Herkunftdes selbst-
ernannten Sozialaktivistensind so
eng verstrickt, dasssie im Text mitein-
anderverschmelzen. Bekannt wurde
der Sechsundzwanzigjährige mit dem
Hashtag MeTwo.Seine Eltern,kurdi-
sche Aleviten aus derTürkei, flohen
mit ihm 1995 nachDeutschland.
Zwölf Jahremusstensie warten, bis
sie eineAufenthaltsgenehmigung er-
hielten.Nunverneigt sichCan vorih-
rerLeistung, in derFremde eineExis-
tenz aufzubauen, obwohl ihnen die
Abschiebung drohteund sievonNeo-
nazis schikaniertund vonBehörden
erniedrigt wurden.
Er beschreibt, wie sichsein Vater,
der Probleme mit dem sperrigenBe-
amtendeutsch hatte, Unterstützung
in Dönerläden suchte. Dortwartete
er,bis die Angestellten keine Kunden
mehr bedienen mussten, und bat um
Hilfe. „Die Erinnerung, wie er da al-
lein an seinemTischsaß, türkischen
Teetrank und in denUnterlagen blät-
terte, bewegt michnochheute“,
schreibt Can. Hinzukommt das Ha-
dernmit dem eigenen Deutschsein:
„War ichirgendwie ,überinte-
griert‘?“, fragt er an einerStelle und
überträgt die Gedanken zu seinerper-
sönlichen Situationgleichindie ge-
samtgesellschaftli cheDebatte:„IstIn-
tegration nicht vielmehr ein Prozess,
der vonMenschzuMenschverschie-
den abläuftund individuell andere
Anforderungenstellt?“
Can schafft es, stetseinen Schritt
zurückzutreten, Diffamierungenvon
Menschen mit Migrationshinter-
grund sowie Kritik an ihrer mangeln-
den Integration zu analysieren und
konstruktiv zuwenden.Trotzdem ist
seine Diagnose bitter:InDeutsch-
land existier eeine „zunehmendeEnt-
hemmung rass istischen Gedanken-
guts in der ,Mitte‘ der Gesellschaft“;
außerdem fehle „eine zivilisierte
Streitkultur bei politischbrisanten
Themen“. SARAHOBERTREIS


„Das Jahr1990 freilegen“.
Remontageder Zeit.
Zusammengestellt von
Jan Wenzel. Mit
32 Geschichtenvon
Alexander Kluge.
Spector Books, Leipzig


  1. 592 S.,Abb.,
    br., 36,– €.


BijanFateh-Moghadam:
„Diereligiös-weltanschau-
liche Neutralität des
Strafrechts“. Zurstraf-
rechtlichen Beobachtung
religiöser Pluralität.
Mohr SiebeckVerlag,
Tübingen 2019.
438 S.,geb., 89,– €.

Umberto Eco: „DerewigeFaschismus“.
Ausdem ItalienischenvonBurkhart
Kroeber.Mit einemVorwortvon
Roberto Saviano. HanserVerlag,
München 2020. 80 S.,geb., 10,– €.


Ali Can: „Mehr als eine Heimat“.
Wieich Deutschsein neu definiere.
Dudenverlag, Berlin 2019.
224 S., br., 15,– €.


Provisorische Markierung einerangebrochenen neuen Zeit,zumindestinkapitalismuskritischer Perspektive: Containerfiliale imNeubaugebiet Leipzig-Grünau,August 1990 Abb. a. d. bespr.Band/ Harald Kirschner

Troja liegt an der Elbe

Über Lebensformen istnicht zu urteilen


Der BaslerStrafrechtler BijanFateh-Moghadam sondiertGrundsätze des juristischenUmgangs mitreligiöser Pluralität


Fundstücke sonderZahl:Jan Wenzel montiert Texte und Bilder zu einer


kaleidoskopartigenVergegenwärtigun gdes Nachwendejahres1990.


Denken


als Gefahr


Irgendwie zu


sehr integriert?

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