Frankfurter Allgemeine Zeitung - 06.03.2020

(sharon) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton FREITAG,6.MÄRZ 2020·NR.56·SEITE 13


Transformation desKörperseines schwarzen Modells: John Singer Sargents Gemälde „Chiron andAchilles“ FotoMuseum ofFine Arts, Boston

Die DeutscheForschungsgemeinschaft
(DFG) hat dieVerleihung der Leibniz-
Preisewegendes Coronavirusverscho-
ben. Sie hätteam16. MärzinBerlin
stattfinden sollen. Der neue Termin
wirdnochbekanntgegeben.Außerdem
plant die größtedeutsche Wissen-
schaftsförderorganisation Vorsichts-
maßnahmen für Sitzungen und Begut-
achtungen.Vorerstfindenkeine Begut-
achtungen mitPersonenstatt, die aus
den derzeit besondersbetroffenen Län-
dernChina, Südkorea, Japan, Iran und
Italien kommen. Auch Dienstreisen
vonDFG-Mitarbeiternindiese Länder
wurden abgesagt.Termine, die inner-
halb vonDeutschland imRahmenvon
Begutachtungen oder Gremientätigkei-


tenstattfinden,werden reduziertoder
ebenfalls verschoben. DieTeilnahme
an öffentlichen Veranstaltungen will
die DFG ebenso absagen wie eigene
öffentlicheVeranstaltungen. In einem
gemeinsamenStatement mit derNatio-
nal Natural ScienceFoundationofChi-
na unterstreicht die DFG dieNotwen-
digkeit weltweiter wissenschaftlicher
Zusammenarbeitgegendie weitereAus-
breitung der Infektion. Die gemein-
schaftliche internationaleForschung in
Epidemiologie,Viro logie undNotfall-
management müsse langfristiggestärkt
werden. F.A.Z.

I


mFrühjahr 2017 suchteNathaniel
Silver, Kuratordes IsabellaStewart
Gardner Museums in Boston, in
den vielen Schubladen seines über-
vollen Museumseine Radierung von
James Whistler undfand stattdessen eine
Mappe mit zehngroßformatigen akademi-
schenStudienweiblicher und männlicher
Körper vonJohn Singer Sargent, einem
der prominentestPorträtistender merkan-
tilen Hautevolee in London und Boston.
Ungewöhnlichwar,dassdie neunKoh-
lezeichnungen und ein Lichtdrucksi-
gniertwaren und dasssie mehrheitlich ei-
nen Mann afrikanischer Herkunftdar-
stellten. Schwarze ModellewareninSar-
gents Milieu zwar nicht unbekannt, aber
selten.Wirklichüberraschend aberwar
ein merkwürdiges Element derZartheit
und Behutsamkeit, das nicht Intimität
schuf, sonderndem Körper des schwar-
zen Mannes eine enormeWürde, ja fast
heiligeMenschlichkeitverlieh. Silverund
seinTeam machtensichauf die Suche nach

demModell .Das Er gebnis ihrerRecherche
isteineSchau,derenideologischeAggressi-
vit ät in erschütterndemKontrastzum er st-
klassiggeschriebenenund immens berüh-
renden Katalogsteht.Die Diskrepanzzwi-
schenAusstellun gund Kata log er hellt den
Grenzverlauf imkulturellen Bürgerkrieg,
in de mAmerikasichschon seiteinigen
Jahrzehntenbefindet, undbelegt, imVer-
einmit der im Herbstvorgestellten Neuaus-
richtungdes Museums,dassdieser im
Grundebereitsverloren ist.Verloren für
Leut ewie Sargent und Gardner,für Ver-
nunft, Bildung undToleranz.
ImFrühjah r1916 kamSargent nachBos-
ton, umin der PublicLibrar yeinenumfang-
reichenBildzyklus zu installieren. Den Lift
seine svornehmen Hotels bedienteTho-
mas McKeller,ein schlankersechsund-
zwanzigjährigerSchw arzamerikanervon
athletischer Gestalt.Als die Installation
desWandschmucksinder Public Library
Sargent denAuftrageinbr achte, au ch die
Rotunda und dasmajestätische Treppen-

haus desneuen MuseumofFineArt zu
schmücken,wurde McKeller, sein wichtigs-
tesModell .IndreigroßenSchüben arbeite-
tensie neun Jahre langzusammenbis zu
Sargents Tod1925. In Sargents kreativer
Transformation wurde McKeller sbrauner
Körper an architektonisch zentralerStelle
des Museums zuAchilles ,Chiron, Gany-
med,Eros, Atlas, Arion, Apollo, einigen
Musen,einerägyptische nSphinx und ei-
ner weiblichenChimäre, die wiezum Kuss
blütenweiß auf ihnniederschwebt.
Sargent signierte zehn seinerStudien
und gabsie um 1920 seiner langjährigen
Mäzenin Isabella Gardner.Sie werden
nun erstmals ausgestellt und belegen die
kreativeSymbiose einesgenialen Mo-
dells, das sichauszulöschen und jedePose
stundenlang zu haltenvermochte, und ei-
nes Malers, dem die natürliche Grazi esei-
nes realen Menschenkünstlerische Hö-
henflügeermöglichte. DieKunsthistorike-
rinNikki A. Greenestellt imKatalog Sar-
gents Arbeit in eineReihe subversiver

Transformationen: Caravaggio machte
Prostituierte zu Heiligen; Sargent, der im
letzten Lebensjahrzehnt die Eitelkeit der
reichen Gesellschaftsatt hatte, erhob ei-
nen schwarzen Körper zum Apoll, zu
dem kunstbeflissene Bostoner aufsahen,
wenn sie in ihremKulturtemp el dieTrep-
pe hinaufstiegen.So klug und subtil wie
der Katalog könnteauchdie Ausste llung
sein. Dochsie wurde inszeniertals Af fir-
mation schwarzer Identität.ImVorfeld
wurden jungeAfroamerikanergebeten,
sichmit der Beziehung zwischen Sargent
und McKeller zubeschäftigen. EinePer-
son, die an diesem Prozessbeteiligtwar,
aber nicht genannt werden will, be-
schrieb die Atmosphäreals „schockie-
rend aggressiv“.Lernangebote wurden
als kulturimperialistischabgelehnt.
In der Ausstellungwerden Sargents Stu-
dien vonZitaten dieser Artflankiert: „Es
überrascht nicht, dassein schwarzerKör-
per die Muse für Sargents Meisterwerke ab-
gab. Seine DarstellungvonGötternund
Göttinnenkonntenur die eines schwar-
zen, schwulenKörperssein, denn wer
sonstträgt solchePoesie in sich?Wer
sonstkonntevölligunbekannt solche
Meisterwerke gebären?Weiß-Sein istun-
vollkommen, einWerkzeug,geschaffen,
um zu unterdrücken. Es istunmöglich, aus
diesemWerkzeug Schönheit zu ziehen.
Du, Thomas, bistdie Antwort.Nurdein
schwarzerKöper ermöglichteeine Vision
des Paradieses.“Und: Sargent „verstüm-
melt die Identität eines jungen, schönen
Schwarzen Mannes undverwandelt ihn
[. ..]zur Unterhaltung des Publikums. Als
Künstler dominierterseine Muse; erwar
McKellersMaster, eine Beziehung, die an
die Sklavereierinnert.“Die Ausstellung
endetineiner Sackgasse, in derweiße Pa-
pierscheibenBesucher einladen, die eige-
ne Entrechtungund Versklavung zu arti-
kulieren und an dieWand zu heften.
Der kulturkritischeTenor istTeil der
Neurorientierung eines Museums für eu-
ropäischeKunstimZ eital terihrer Entwer-
tung. Der im HerbstanSponsorenver-
schickte„Strategische Plan 2019–2024“
proklamierte„diversity,equity,andinclu-
sion“ als „Kernwert“ und zwar im Sinne
des kompensatorischen Aktivismus der
„wokeness“ (WahrnehmungvonRassis-
mus). In der reichen Bebilderung des
Plans sind neunzig Prozent der abgebilde-
tenPersonenweiblich. MitAusnahme ei-
nes Restauratorsbei der Arbeitkommen
Menschen über dreißig nichtvor. Finan-
ziell wirddas Museum nichtvondieser
Personengruppe getragen.
„Wokeness“ istdas moralischvorge-
schriebene Kulturprogramm, dem sich
kaum jemand zu widersetzenwagt.Das
Ziel von„Wokeness“ istdie Ermächtigung
und Kompensationder ehemalsUnter-
drückten und dieNeuschreibung der Ge-
schichte. Soetwa im „Projekt 1619“ der
„New York Times“, das die Geschichte
Amerikas mit der Ankunftder er sten Skla-
ven1619 inVirginia beginnen lässt und ar-
gumentiert, die Sklaverei allein habe Ame-
rika ermöglicht undgetragen und bestim-
me alle Aspektedes gegenwärti genLe-
bens. Die Gründerväter, so Projektleiterin
Nikole Hannah-Jones, hättendie Unab-
hängigkeit betrieben,weil si efürchteten,
England plane dieRegulierung der Sklave-
reiund Amerika„verdientesovielGeld
mit der Sklaverei, dassdie Gründerväter
sie beibehaltenwollten“.Werals Institu-
tion auf diesenZugaufspringt,signalisiert
seineTugendhaftigkeit.
Menschen afrikanischer Herkunfthat-
tenesinBostonum1920 nicht leicht.
DochThomas McKellerfand bei Sargent
gut bezahlte Arbeit undWertschätzung.
Das bewegendste Zeugnisder Wirkung
McKellersauf Sargent is tein Ölgemälde
des nackten McKeller mit angewinkelten
Knien undexponiertenGenitalien. Drei
Jahrearbeit eteSargent an diesem Bild. Es
hing stetsinseinemStudio. Man darfdas
für einZeichen derZuneigung halten.

Boston’sApollo: Thomas McKeller and
John Singer Sargent.Im IsabellaStewart
Gardner Museum, Boston; bis zum 17. Mai.
Der Katalog kostet 40 Dollar.

Die Kunstszenemeint es derzeit gut mit
Uteund Werner Mahler,dem Fotografen-
paar aus Berlin. ImvorigenJahr wurden
sie mit der David-Octavius-Hill-Medaille
der DeutschenFotografischen Akademie
ausgezeichnet. Undmomentansind ihre
Arbeiten ingleichdreiMuseumsausstel-
lungen zu sehen: inAugsburg,Mannheim
und Rostock.Geschadethat es ihnen
nicht, seit nunmehr zehn Jahren alsTeam
aufzutreten und ihreBilder und Bücher
unter beiderNamen zu publizieren.
Begonnenhat dieZusammenarbeit
samtdoppelterAuto renschaftmit einerEu-
ropa-Reise,währen dder sie in denVorort-
siedlungeneuropäischerStädtejunge Frau-
en ba ten, vorihrer Plattenkamera Platzzu
nehmen und die Haltung derMona Lisa
einzunehmen. Entstanden is teine bezau-
bernde Serie, dievomHeranwach sen er-
zähltund die dem Leben imrauhen Milieu
ein Momentvon Wärme, fast Zartheit ab-
gewinn t. Siehätten, formulierteesUte
Mahler damals, ih re Erfahrungenkurzer-
hand zusammengepack t–und die Eitelkei-
tendes Einzelnen beiseitegeschoben.
Beide warenzudiesem Zeitpunkt
längstprominenteBildjournalistenund
Fotokünstler .IhreBiographien–geboren
in der DDR, dortaufgewachsen und bis
heuteimOsten zu Hause–liefen parallel
seit dem gemeinsamen Schulbesuch in
Kindertagenund später demStudium der
Fotografie in Leipzig. Geheiratet haben
sie 1973, und dassinOst-Berlin nachdem
Fall der Mauer die Bildagentur Ostkreuz

gegründetwurde, mit denselben hehren
Zielen wie dasVorbild Magnum,verdankt
sichnicht zuletzt auchihremgemeinsa-
men Engagement.Vielleicht lässt sichdie
Serie „Monalisen derVorstädte“ deshalb
nicht nur als Dreh- und Angelpunkt ihrer
Karrierenbegreifen,sondernzugleichals
eine ArtFazit der jeweils vorangegange-
nen fotografischen Ansätze, besser noch:
Temperamente.Sie i st,verein fachtgespro-
chen, die Sprunghafte, an vielerlei The-
men interessiert, mit ausgeprägtem Inter-

esse an ungewöhnlichen Charakteren und
schrägenPerspektiven. Er hingegen der
Stille, fast Grüblerische, derstrukturierter
denkt und sichinseine Themen und Seri-
en über Jahrehinwegverbeißenkann.
Das nahm bereitswährend des Studi-
ums seinenAnfan g. Denn die 1977gestell-
te Aufgabe, eine Gruppe vonAbiturienten
als Grundstockeiner Milieustudie zufoto-
grafieren, hatWerner Mahler bis heute
nicht zu Endegebracht.Vielmehr trifft er
die Schülervondamalsnoch immer imAb-
stand vonfünf Jahren zumPorträttermin
und stellt seinestetsgleichkomponierten
Aufnahmen wie Lebenserzählungen auf
einem immerweiter sichindie Längezie-
henden,gedachtenZeitstrahl aus.
Fast schon imVorübergehen scheint da-
gegenseine ebenfalls im Eigenauftragent-
standene SerievonFußball- und Musik-
fans entstanden zu sein, an der ervon
1980 bis 1985 arbeitete und die ihm nicht
zuletztWege eröffnete, auf dem Grat zwi-
schenkünstlerischer und dokumentari-
scherFotografie mit den Horden auf der
Straßeund in denStadienfern eine rpar-
teipolitischen Ideologie dieWidersprüch-
lichkeit desStaats zukommentieren.
Seine Artder Fotografiestand gleicher-
maßen in derTradition des italienischen
Neorealismus wie der humanistischausge-
richteten Reportagenaus Amerika, und so
sucht man in MahlersWerkvergebens
nachjeglicherForm vonAbstraktion oder
Experiment.Schönheit statt Verfrem-
dung ,könnteals Mottoüber seinen Arbei-
tenstehen.Underverfolgt eskonsequent

bis an die Grenze einer nur selten nocher-
lebtenRomantik,wenn er mit einer Came-
ra ObscuradurchBrandenburgzieht, um
der spröden Landschaftden Eindruckei-
nes verzaubernden Ewigkeitsanspruchs
abzugewinnen. Dabeigenügt ihmstreng-
genommen der Blickaus seinemWohn-
zimmerfenster, um am Schnittpunktvon
Garten und Kiefernwald imWechsel der
Tages- und Jahreszeiten mit seinenAuf-
nahmenvermeintlichletztgültigeAussa-
genüber das ErlebenvonLandschaftund
Natur zuformulieren.Nurdas eben jedes
neue Bild dievorangegangenen in einem
neuem Licht erscheinen lässt.Dasssich
dahinter eine ausgeprägteEmpathie,kei-
neswegs jedochNaivitätverbirgt, beweist
er in seinen mit UteMahler entstandenen
Serien„Wodie Welt zu Endewar“, für die
sie entlang der deutsch-deutschen Grenze
die allmählichheilendenNarbeninder Na-
tur fotografier ten, und derArbeit „Die selt-
samenTage“mit kuriosen Entdeckungen
während ihrer wie Expeditionen wirken-
den Reisen durchseigene Land.
Die Zeiten, zu denenWerner Mahler,
wie auchdie anderenFotografen der
DDR, im Gesamtdeutschland als Exoten
betrachtet wurden, sind freilichlangevor-
bei. Mit seinen Erfahrungen und Ein-
schätzungen aber istesihm gelungen, die
vonihm 2004 mitgegründete Ostk reuz Fo-
toschule zu profilieren. Mittlerweile bil-
deterdortdie dritteGenerationvonFoto-
journalistenund -künstlernaus. Amkom-
menden Sonntag wirdWerner Mahler
Werner Mahler Foto Privat siebzig. FREDDYLANGER

DeriranischeRegisseurMohammadRa-
soulof, dervoreiner Wochemit seinem
Film „Sheytanvojud nadarad“ („Es gibt
kein Böses)“ den Hauptpreis der diesjäh-
rigenBerlinale gewonnen hat, istin
seinem Heimatland zu einer Haftstrafe
voneinem Jahrverurteilt worden. Wie
derenglisc he „Guardian“ berichtet,wur-
de Rasoulof für schuldig befunden, in
drei Filmen „Propagandagegendas Sys-
tem“ betrieben zu haben, soRasoulofs
Anwalt Nasser Zarafs han. DasUrteil
umfasse auchein zweijähriges Dreh-
verbot. Wegendes Coronaviruswerde
Rasoulof jedoch die Haftstrafezunächst
nicht antreten, sagteZarafshan.
Dem „Guardian“ zufolgesind 54 000
Gefangene zeitweise aus staatlicher
Haftentlassenworden, um die Ausbrei-
tung desVirusiniranischen Gefängnis-
sen einzudämmen. AlsRasoulofsFilm
am 29.Februar den Goldenen Bären als
besterWettbewerbsbeitrag derBerliner
Filmfestspiele bekam,konnteder Regis-
seur die Auszeichnung nicht persönlich
entgegennehmen, weil er durch ein
ReiseverbotinIranfestgehalten wurde.
In „Sheytanvojud nadarad“geht es in
vier verschiedenen Episoden um dasLe-
ben vonMenschen, die alsTäteroder
Opfer mit derTodesstrafeinI ranzutun
haben. F.A.Z.

Die Komische Oper Berlinkann im
Zuge ihrer Sanierung ein neues Gebäu-
de mit Büros und Proberäumen errich-
ten. Das BerlinerKammergerichtent-
schied am Mittwoch, zwei Grundstücke
als Eigentum des Landes anzuerken-
nen, auf denen derNeubau entstehen
soll. Der Entscheidungwarein langer
Rechtsstreit mit einem Investor voraus-
gegangen. Die auf höchstens 237 Millio-
nen EuroveranschlagteSanierung der
Komischen Oper soll 2023 beginnen
und bis 2027 abgeschlossen sein. In der
Zeit soll das Ensemble des heutigen In-
tendanten BarrieKosky,der vonMitte
2022 an als Hausregisseur der Opertä-
tig sein wird, in das Schiller Theater zie-
hen und auchananderen Orten der
Stadt spielen. Der Senat will dieKomi-
sche Oper sanieren,weil ihr baulicher
und technischer Zustand veraltet ist.
Seit demWiederaufbau des Hauses in
denfünfziger Jahren istdie Bühnentech-
nik nicht erneuertworden. Die Ausstat-
tung istauf demStand von1967. F.A.Z.


Apollo in Schwarz


Sein Moment mit Mona Lisa


Empathisch, aber nie naiv:Dem Fotografen Werner Mahler zum siebzigsten Geburts tag


Li Zehua absolvierte die NationaleUni-
versität für Publizistik und präsentierte
Fernsehsendungen für den chinesi-
schenStaatssender CCTV. Aber eines
Tagesumging er die Internetzensur,sah
eine Dokumentation über das Massa-
kerauf demTienanmenvon1989 und
wartief be wegt.Später sah er denUm-
weltschutz-Dokumentarfilm „Under
the Dome“,gedrehtvonseiner Kollegin
Chai Jing. Erkündigtebei CCTVund
verfolgtefortaneigene Projekte.Nach
dem Ausbruc hdes Coronavirus in Wu-
han eilteerins Zentrum des Gesche-
hens. Li istder dritte unabhängigeRe-
porternachFang Bin und Chen Qiushi,
der in Wuhanverhaftetwurde.
Bald nach seiner AnkunftinWuhan
hatte Li eine Online-Stellenanzeigefür
Leichenträger entdeckt:„DasKremato-
rium vonWuchang inWuhan benötigt
heute Nachtzwanzig zusätzliche Lei-
chenträger.Gesuchtwerden Personen
beiderlei Geschlechts im Alter von
sechzehn bis fünfzig Jahren, die Kraft
und Mut besitzenund keine Angstvor
Gespenstern haben.Arbeitszeit:0Uhr
bis 4Uhr,mit kleinenPausen.Hono-
rar: 4000Yuan und eine Mahlzeit. An-
meldung: heute Abend vor23Uhr an
der U-Bahn-Station XianyangJia Wan
der Linie2.“
Undsokam LiZehua in dieserNacht
ins Krematorium Qingshan. Dortsagte
ihm der zuständigeAnges tellte, der Job
als Leichenträger sei mittlerweile im
Kursgefallen: „Kostund Logis, fünfhun-
dertYuan für die ersteLeiche, zweihun-
dertfür die zweite,weiterezweihundert
für die dritte;wenn Sie vier Leichen
schaf fen, bekommen Sie 1100Yuan.“
Li Zehua machteheimlichAufnah-
men voneiner langenReihe vondröh-
nenden Öfen, die damals bereits länger
als einen MonatTagund Nach tinBe-
trieb waren. Li Zehua sagte: Innerhalb
von38Tagen wurde die offizielleZahl
vonverstorbenenLungenpatienten in
Wuhan mitdurchschnittlichvierzig pro
Tagangegeben. Eswarenaber 74 Kre-
matoriumsöfeninBetrieb, das müsste
auchbei zehnmal mehrTotenreichen.
Wieso brauchteman dann aber noch
Überstunden und zusätzliche Arbeits-
kräf te?
Am 26.Februar 2020 fuhr LiZehua
auf RechercheinWuhan zu einem
schar fbewachten französisch-chinesi-
schen Labor. Er blieb in seinemWagen,
wurde aber trotzdemvonder Staatssi-
cherheit bemerkt undverfolgt.Wäh-
rend der Verfolgungsjagd konnteer
nochungefähr dreißig Sekunden lang
filmen, es isteine hollywoodreifeSzene
geworden. Er schaffteesschließlich
nachHause,verbarrikadierte die Tür
und installierte eine Live-Schaltung mit
seinem Computer.Dann begannen vier
Stunden, bevorerverhaf tetwurde, in
denen viele Menschendas Schicksal Li


Zehuas liveverfolgten, nicht nur die
Staatssicherheit in China vorseiner
Tür, sondernauchZuschauer an ihren
Handysund Computern, so zum Bei-
spiel ich, der Exilschriftsteller Liao
Yiwu in Berlin.
Die Geschichtedes jungenReporters
Li Zehua macht einen wütend, aber sie
macht michauchtanzenvorFreude. So
etwa sist in unserer Heimat,in unseren
alten Büchernimmer wieder dagewe-
sen. Das istdie Heimat,nachder man
sichzurückgesehnt hat, besondersin
der Generation meines Vaters:das
Land der Seele, derTräume.Nicht das
Land der Kommunistischen Partei,
nicht dasvonMao Tse-tung,XiJinping
und wie diese materialistischen Hinter-
wäldler alle heißen.
Im Alter von25Jahren hatLi Zehua
noch den Mut, sichals Hühnereigegen
denFelsenzuwerfen. Wiedürften wir
da nochverzweifelt sein?Washaben
wir, in Freiheitund in Sicherheit, da
noch onlinezu bekritteln, dassder hel-
denhafte Dr.LiWenliang,der den Aus-
bruc hder Seuchenicht aufdeckendurf-
te,eine Selbstkritik schreibenmusste
unddannselbstander Seuchestarb,
„nicht mehr Held als vieleandere“ge-
wesen sei?
Wirmüssen uns diese Heimat in un-
serer Seele wiedererkämpfen.Wirmüs-
sen uns den einfachen,gewöhnlichen
und richtigenZorn zurückerkämpfen,
aber auchMitleid und Liebe, also unser
einfaches,gewöhnliches Herz, unsere
menschliche Natur.Der Dichter und
EinsiedlerTao Yuanming schrieb im
viertenJahrhundertüber den sagenhaf-
tenAttentäter JingKe:„Der Edlestirbt
für seine Freunde, er nimmt sein
Schwertund zieht los.“
Die Freundevon LiZehua, daswa-
rendie hungrigen Katzenauf denStra-
ßen vonWuhan. IhreHerrchen und
Frauchenwarennicht mehr da. LiZe-
huahat sie bemerkt, er hatüberall
nach abgekochtemWasser gesucht, hat
Instantnudeln zubereitet und sie die-
senheimatlosen Tieren hingestellt:
„Hallo,ihr Kleinen,kommt nur,ich
habwas zu essen...“
Ichmussihm danken, diesem LiZe-
hua, geboren 1995, ein zartes, stilles,
sauberes Gesicht.Die Hoffnung derZu-
kunftruht auf solchen Menschen. Ich
als Schriftsteller darfsolche kleinen
Tröpfchen Hoffnung notieren, das ist
eine große Ehre.

Liao Yiwu,geboren 1958 in China, ist
Schriftsteller.Seit 2011 lebt er im Exil in
Berlin, 2012 erhielt er denFriedenspreis des
Deutschen Buchhandels. Zuletzt erschien
sein Buch„HerrWang, der Mann, dervor
den Panzernstand –Texte aus derchinesi-
schen Wirklichkeit“ (S.Fischer).

Ausdem ChinesischenvonMartinWinter.

Berlinale-Sieger


in Iranverurteilt


Wegfreifür die


Komische Oper


Leibniz-Preis


verschoben


FarbigeModelle:Wieein amerikanischesKunstmuseumin de kolonialistischen


Zeiten seine BesucherhintersLicht führt.VonSusanne Klingenstein, Boston


Wieso gibt’sÜberstunden


im Krematorium?


ZurVerhaftung deschinesischen Journalisten


Li Zehua inWuhan /VonLiao Yiwu

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