Frankfurter Allgemeine Zeitung - 06.03.2020

(sharon) #1

SEITE 14·FREITAG,6.MÄRZ 2020·NR.56 Feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


W


äreesnach Franz JosefStrauß
gegangen, säßen wir jetzt nicht
hier und äßenLangostino aus
Färöer,Taube aus der Bresseund Zander
aus dem Schwarzachtal. Danngäbe es
hier garnichts, und dortdrüben,wo inmit-
tendes Oberpfälzer Seenlandesdie Fa-
brikschornsteine vonBMW und Caterpil-
lar friedlichschmauchen, stünde die ato-
mareWiederaufarbeitungsanlageWa-
ckersdo rf.Kaumgefährlicher als eine
Fahrradspeichenfabrik sei sie, schwadro-
nierte Strauß, wasHunderttausende Men-
schenganz anderssahen und den heftigs-
tenProteststurminder bundesrepublika-
nischen Geschichteentfachten.Nach lan-
gemzähen Kampfkonntensie dieAtom-
anlage verhindern undmachten damit
den Wegfür HubertObendorfer frei, der
nun endlich seinen Lebenstraumverwirk-
lichenkonnte: Er bautesichauf einem Hü-
geloberhalbseines HeimatweilersHofen-
stettenein Wellness- und Genusshotel,
das inzwischen hundertsechzig Zimmer,
vier Sterne, ein hochdekoriertesFein-
schmeckerrestaurant und zumindestim
Geiste eine Gedenkplakette für dietapfe-
renDemonstrantenvonWackersdorfhat.
Wenn Obendorferinsein Herzblickt,
sieht er dortallerdingskeinen Hotelier,
sonderneinen Koch. Er hat beide Berufe
gelernt, viele Jahrelang in guten Häu-
serngearbeitet und in seinem 1997 eröff-
netenHotel auchein Gourmetlokal na-
mens „Eisvogel“fest eingeplant.Doch
die Anfangsjahrewarensokräftezeh-
rend, dassererst2007 die Mußefand,
sichernsthaftumsein Herzensvögelchen
zu kümmern–und prompt mit einemMi-
chelin-Stern belohnt wurde, dem vor
drei Tagenein zweitergefolgt is t. Jetzt ist
er Mittefünfzig,steht nochimmer jeden
Abend an Herdund Pass,und selbst
wenn er bald denStab an seinen Sohn
übergeben will, wirddie HauteCuisine
seine Leidenschaft bleiben,die er mit vie-
len Kinderkochkursen auchinder nächs-
tenGeneration entfachen will.
Obendorferist Oberpfälzer mit Leib
und Seele, dochinseiner Küchealles an-
dereals Lokalpatriot. Regionalitätkön-
ne niemalsvorQualitätkommen, sagt
der Chef und schickt uns zumAuftakt
gleicheinmal auf einegehaltvolleWelt-
reise mit Stationen bei einem bayeri-
schen Kartoffelküchlein mit Paprika-
Creme, einer Calzone mit Pizza-Marghe-
rita-Geschmack, einem peruanischen
Saiblings-Cevichemit Avocado und Gyo-
za-Teigtaschen aus Japan mit Enten-
fleischfüllung. So lässt es sic hleben in
Wackersdorf, denken wir uns und nippen
mit einem Prosit auf den bayerischen
GroßmachtweltpolitikerFJSanunseren
doppelt angesetztenTeeaus Wurzelge-
müse im Cognac-Glas, der mit Ölenvon
Schnittlauch, Liebstöckel, Lorbeer,Wa-
cholder und Piment aromatisiertwird.
Danachsindunser eGeschmacksner-
venendgültigbereit fürdie Gänsestopf-
leber,die als geeiste Platteauf einem Blau-
krautsalat in einemSud au sBlaubeeren

undErdbeerkernöl lie gt, bedecktvonge-
pic keltem Preiselbeeren-Gelee und einem
PulverausgetrocknetenWaldbeeren.Das
istein wilder, wagemutigerTeller,der mit
allen Konv entionen der klassischen Haute
Cuisine bricht, allerdingsnicht ganz die
Balancezwischeneinges chüchterterStopf-
leberund he rrischem Blaukrautfindet.
HubertObendorferlässt es gernekra-
chen undkochtamliebstensobaroc k,
wie es seinerStatur angemessen ist. Doch
er schlägt selten über die Stränge, dazu ist
er alter Hasegenug, auchwenn viele sei-
ner Gerichtevermuten lassen, hier sei ein
junger Wilder am Werk.Den Label-
Rouge-Lachs zum Beispiel beizt er,brät
ihn alsTataki an, krönt ihn mit einer Ma-
yonnaise ausNussbutter und Dill,nap-
piertihn mit einem Schaum aus Safran
und Tomatenwasser,plaziertihn rund um
einenfermentiertenChicorée,vollendet
das Ganzemit Gartenkresse undNussbut-
ter-Crumble undfindetdabei ganz unan-
gestre ngt das Gleichgewicht aus Süße
und Bitterkeit, Wucht und Eleganz,Eigen-
willigkeit undVerständlichkeit.

Genausoverfährtermit seinem Lan-
gostino, der nur unter dem Salamander
gegart,mit Apfel, Lardo und Erdnüssen
belegt undvonkoreanischem Kimchi be-
gleitet wird–einerhochgefährlichen Bei-
lage, die mit ihrer kraftstrotzenden Säure
und Schärfe leicht einganzes Gericht in
Stückehauenkann. DochObendorfer
zähmt das Kimchi mit einem wirkungs-
vollen Trick: mit einem Pulvervon dehy-
drier temgriechischen Joghurt, das allen
Furorder koreanischen Geschmackskrie-
gerabsorbiertund sie in die sanftmütigs-
tenWesen verwandelt.
Aufgutes Einvernehme nund ha rmoni-
sches Miteinander legt Obendorfernicht
nur auf demTeller,sondernauchinsei-
nem Hotelgrößten Wert,das für ihn Le-
benszweckund Lebenssinn ist. Erwohnt
selbstimHaus, verschönertund verbes-
sertespausenlos, teilt sichdie Arbeit mit

Frau und Kindern, und auchdie Ange-
stellten sollen das Gefühl haben, zu einer
Familie zugehören. Das klapptsogut,
dassObendorfertrotz seinerLageamäu-
ßersten Rand Deutschlandskaum Proble-
me mit demPersonal hat.Auchwir füh-
len uns bei ihm nichtverloren am Ende
der Welt und bekommen schongarkeine
ProvinzialitätaufdemTellerserviert,son-
derneine getauchte Jakobsmuschel, aus
der er seine oberpfälzischeVariantedes
„Marymontaña“ mit maximaler Ge-
schmacksintensivierung macht: Die Mu-
schel wird geräuchert, mitfrischem Meer-
rettichund frittiertem Engelshaar deko-
riertund in eine Bouillon mit einer Bru-
noise ausMirepoix undKalbszunge gebet-
tet.Undals wäre da sGanze des guten Ge-
schmacksnochnicht genug, gibt es zusätz-
licheine Praline aus dem Rindermark,
während die PlaylistimRestaurant dazu
passend HardRockspielt.
Endgültig alskochenderWeltbürger
aus Wackersdorfentlarvt sichHubert
Obendorfermit seiner Miéral-Taube.Er
serviertsie nicht nurklassischals Brust

und Keule, kombiniert sie nicht nurmit
den vertrauten AromenvonFrühlings-
zwiebeln, Schnittlauch, Perlzwiebeln,
Haselnuss, Purple CurryundPanko, son-
dernauch mit einem tropischexotischen
Püree aus Jackfruit,das mit seiner
Fruchtsäure die Süße derTaube wunder-
barausgleicht.Und ganz zum Schlussbe-
kommen wir ein Schichtkunstwerkaus
Belper Knolle, Crème brûlée,Ziegenkä-
se, Kartoffel-Espuma und süßsaurem
Kürbis, während draußeninder Dunkel-
heit Wackersdorfnur mehr eineferne
Ahnung ist–und wir jetzt wissen,dass
es nochGerechtigkeit auf dieserWelt
gibt. JAKOB STROBELYSERRA

Eisvogel,im Ho telBirkenhof, Hofenstetten55,
92431NeunburgvormWald, Telefon:
09439/ 9500, http://www.landhotel-birkenhof.de.
Menü ab 120 Euro.

HirokazuKore-edaistkeinRegisseur,
der nur eine Geschichteerzählt. Seine
Filme haben immer mindestens eine
zweit eSchicht, die ein tieferes Problem
philosophischbetracht et.Man kann sich
also sicher sein, dasssein neuerFilm
„La Vérité–Leben und lügen lassen“,
nur vordergründigvoneiner zwischen-
menschlichenWahrheitssuche handelt.
Es is tder er steFilm, den der japanische
Arthouse-Regisseur imAuslandgedreht
hat.Die französischeFilmdivaCathe-
rine Deneuvespielt darinFabienne,
eine alternde französischeFilmdiva, die
mit einer letztengroßen Rolle abtreten
will und außerdemgerade ihreAutobio-
graphie publizierthat.Juliette Binoche
tritt als ihreTochter Lumir auf, eine
erfolgreiche Drehbuchautorin, die samt
Mann (Ethan Hawke) und Kind aus
Amerika angereistist,ummit der Mut-
terden Er folg des Buches zufeiern.
Dochschon beim ersten Blätterndarin
musssie feststellen, dassdie Mutter hier
einigesgeschönt hat.Undsobeginnt
zwischen den beidenFrauen ein Ringen
um die titelgebendeWahrheit ihrerFa-
miliengeschichte–dochdas is teben nur
die er ste, die offensichtliche Ebene.
Kore-eda, der aufgrund seiner schar-
fenBeobachtunggern mit dem japani-


schen AltmeisterYasujiroOzu vergli-
chen wird, sichselbstjedocheher in der
Tradition der Arbeiterdramen des briti-
schenRegisseursKen Loachsieht, will
hier keine konv entionelle Mutter-Toch-
ter-Beziehung erzählen. Er nimmtdie
Hauptfiguren nur alsAusgangspunkt für
tiefergreifende Betrachtungen über den
Zustand unserer Gesellschaft, so wie er
das schon in früherenFilmen tat: Da be-
obachteteeine zum Leben erwachte Sex-
puppe die Einsamkeit der Menschen in
der modernen Großstadt und hinterfrag-
te,wie MännerFrauen behandeln(„Air
Doll“, 2009); da suchteein Polizistdie
Wahrheit in einem Mordfall und disku-
tierte am Ende mit dem Hauptverdächti-
gendarüber,wem dasRechtzum Töten
zusteht („The ThirdMurder“, 2017); da
nahmen vierVagabunden und Kleinkri-
minelle ein kleines Mädchen bei sich
auf undstellen inFrage, wieFamilien-
strukturen eigentlichfunktionieren
(„Shoplifters“, für dengabes2018 in
Cannes die GoldenePalme).
Auch „La Vérité“ kreistruhig um sein
Thema und schaut sichgleichzeitig an,
wasdas Alternmit un seitlen Menschen-
geschöpfen macht.Der Figur derFabien-
ne stellt Kore-eda die Geschichtedes
Science-Fiction-Filmsgegenüber,den
die Divaparallel zum Besuchder Toch-

terdreht.Darin entscheidetsicheine
Frau gegendas Älterwerden und muss
zusehen, wie ihreFamilievorihr stirbt.
Da Lumir beschlossen hat, ihrer Mutter
bei diesem letztenFilmprojekt zu hel-
fen, findetein Teil der Handlung an die-
sem Filmse tstatt.Wenn dieTochter
dortalso mit ihrer das Alternnicht ak-
zeptierenden Divenmutter derenkapri-
ziösesVerhalten diskutiert, dannge-
schieht das amRande vonFilmszenen,
in denen eine nichtalterndeFilmmutter
mit ihrer alterndenTochter ,die vonder
Divenmuttergespielt wird, ihreLebens-
entscheidungen diskutiert. Dassdiese
Idee nichtverkopftzergrübelt wird,
sondernsichleichthin in die Handlung
webt, liegt auchanden großartigenDar-
stellern. Binoche un dDeneuvewerfen
sichmit Freude die Bälle hin und her.In
einer der eindrucksvollstenSzenen des
Films nimmt die Divaweinend ihre
Tochter in denArm.Gerade als man ihr,
die so hartzua llen anderen und sich
selbstwar,die Emotion abnimmt, schüt-
telt sie sie ab und zerstörtden Moment
durch den Hinweis, für ihreAbschluss-
szene imFilm, beider ihr dieTränen
fehlten,wäre dies die perfekteEmotion
gewesen. Fiktion undRealitätverdrehen
sichhier ineinander wie dieTreppen bei
M. C. Escher. MARIAWIESNER

Nichts als die Wahrheit:„La Vérité“ im Kino


Weltküche aus Wackersdorf


GESCHMACKSSACHE


Sie mussden Spiegelnicht anschauen, esreicht, dass der Spiegelsie anschaut undbewundert:Catherine Deneuve. FotoProkino


Eines der schönstenBücherReinhard
Kaisershat ein anderergeschrieben, der
letzt eErzbischofvonUppsala namens
Olaus Magnus, aber ohne denÜberset-
zer und Herausgeber ausFrankfurthätte
uns Heutigediese Nordlandbeschreibung
aus dem 16. Jahrhundertkaum erreicht:
2006 gabKaisergemeinsam mit Elena
Balzamo eine klug bearbeiteteund ge-
streck te Version vonOlaus Magnus’„His-
toriadegentibus septentrionalibus“ her-
aus, nacheiner frühneuhochdeutschen
Übersetzungvon1567. Der neueTitel
„Die Wunder desNord ens“ istangesichts
dieserFülle vonkuriosen,wahnwitzigen
und sehr bedenkenswertenSchilderun-
gennicht nur inhaltlichberechtigt, er
trif ftauch aufdie Buchgestaltung zu:Bei-
gegeben istdem Band eineReproduktion
der legendären Carta Marina, die eben-
falls vonOlaus Magnusstammt und die
Landschaftenzeigt, die er beschreibt, in-
klusiveder schönstenFabelwesen.
Erschienenist das Buchals 261. Band
der „Andere nBibli othek“ ,jener Buchrei-
he, derReinhardKaiser vonAnfang an
als Übersetzer,Lektor ,Bandherausge-
ber,Ideengeber und ingewisserWeise
auchals Ar chivar verbunden ist, denn es
istseinervorausschauenden Sammlertä-
tigkeit zuverdanken, dassAusstellungen
wie die 2013 in Leipziggezeigtezur Ge-
schichteder Anderen Bibliothek mit Pla-
katen, Bestellzetteln oder auchdem von
Kaiser redigiertenMagazinen zu Einzel-
bänden der Buchreihe üppig bestückt
werden konnten.
„EinesTagesschreibstdudie Chronik
des Verlags“, habeFranz Greno ihm auf-
getragen, als die AndereBibliothekgera-
de er st angefangen hatte, undtatsächlich
wäre wohl niemand berufener alsKaiser,
die Geschichteder Buchreihe, die nach
zweiVerlagswechseln nun im eigenen
Verlag erscheint, zu schreiben. Der 1950
in ViersengeboreneAutor, der 1974 in
Köln seinStudium der Germanistik und

Sozialwissenschaftenabgeschlossen hat,
arbeitet seit 1980 frei im Buchgewerbe
für diverseVerlage.
Entstanden sind soRomane wie „Der
kalteSommer des DoktorPolidori“, der
den Arzt LordByrons in den Blick
nimmt,der mit seinemPatientenund des-
sen Geliebter sowie dem Ehepaar Shel-
leyeinigeZeit im Jahr 1816 am Genfer
See zubringt und so auchder Geburtder
„Frankenstein“-Idee beiwohnt–Polidori
selbststeuerteinen Vampir-Roman zu
den dorterzählten Gruselgeschichten
bei, wasKaiser listig und überraschend
durch eine Vorgeschichtemotiviert.
KaisersBlickindie Tiefen der Litera-
turgeschichte istsicher ,sein Urteil fun-
diert, und seinTalent, das Gefundene für
uns unwiderstehlichaufzubereiten, offen-
bartsichinjedem Buch, an dem er betei-
ligt is t. MorgenfeiertReinhardKaiser sei-
nen siebzigsten Geburtstag. spre

Es is tnie zu spät für denRuhm: Der Oberpfälzer HubertObendorfer


hat gerade mit Mittefünfzig für seinRestaurant „Eisvogel“ den


zweiten Michelin-Stern bekommen. Erkochtgerne wie ein jungerWilder.


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Gedenken


„Lebenswege“,das Trauerportal derF.A.Z., bietet
HinterbliebenenRaum, ihrem Schmerz angemessen
Ausdruck zuverleihen. Hier finden sichTraueranzeigen
über denTagihrer Veröffentlichung hinaus mit der
Möglichkeit, eineKondolenzbotschaft zu hinterlassen.

Mehr erfahren Sie unter lebenswege.faz.net

ReinhardKaiser FotoJürgenBauer

EinFreund der Fabeln


Sammeln undStre uen: ReinhardKaiser wirdsiebzig

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