Süddeutsche Zeitung - 13.03.2020

(Elle) #1

Der Unvollendete: Nachdem zu Beginn der
Woche eine Reihe europäischer Staaten
Veranstaltungen mit über 1000 Menschen
im Raum coronabedingt verboten hatten,
erfolgten am Mittwochnachmittag Klassik-
konzertabsagen und Saalschließungen im
Minutentakt. Mit davon betroffen war
auch der vierteilige Zyklus der neun Sinfo-
nien Ludwig van Beethovens, mit dem die
Wiener Philharmoniker zusammen mit Di-
rigent Andris Nelsons gerade durch Euro-
pa touren. Im Münchner Gasteig waren die
Wiener an zwei Abenden bis zur Fünften,
zur Schicksalssinfonie gekommen, als das
behördlich verordnete Aus eintraf und ei-
nen Traum beendete.
Die Wiener Philharmoniker wären theo-
retisch ideal für diese neun Stücke, die zwi-
schen 1799 und 1824 in Wien komponiert
und aufgeführt wurden. Doch die Wiener
Philharmoniker entstanden erst in der Ro-
mantik 1842 als ein privater Zusammen-
schluss von Hofopernmusikern. Sie sind
bis heute ein Privatverein und ein romanti-
sches Orchester. Das ist in ihrer vor zehn
Jahren entstandenen Gesamtaufnahme
der Beethoven-Sinfonien mit Christian
Thielemann unüberhörbar. Während alle
anderen Weltorchester sich unter dem Ein-
fluss von Nikolaus Harnoncourt, John Eliot
Gardiner und Pierre Boulez für die Moder-
ne und die historische Aufführungspraxis
öffneten, für kleine Besetzungen, genaue
Beachtung der Partituranweisungen, zügi-


gere Tempi, verweilten die Wiener lange
bei einer romantischeren Sicht der Dinge:
voller Gefühl in die Breite und Tiefe zie-
lend, die ganze Welt umarmend.
Dann aber kam Andris Nelsons ins
Spiel. Der 1978 in Riga geborene Musiker
ist, das lässt sich nach dem Münchner Beet-
hoven-Zyklus-Torso ohne jede Übertrei-
bung sagen, der heutigste, freieste und ei-
genständigste unter den ganz großen Kon-
zertdirigenten. Nelsons arbeitet derzeit als
Musikchef in Boston und am Leipziger Ge-
wandhaus. Mit den Wienern hat er die Beet-
hoven-Sinfonien schon vor einem Jahr auf
CD herausgebracht, jetzt wollte dieses
Dreamteam Europa von sich und Beetho-
ven überzeugen. In München haben sie auf-
geben müssen.

Unter Nelsons erfinden sich die Philhar-
moniker neu, sie kehren zu den Anfängen
zurück. Sie, die die historische Auffüh-
rungspraxis großzügig übersprungen ha-
ben, formulieren zumindest in den ersten
vier Sinfonien den Beethoven-Goldstan-
dard für die Post-Harnoncourt-Ära. Mag
Nelsons noch so rasante Tempi nehmen,
immer unterspielen diese fabelhaften Mu-
siker ihr Können und ihre Virtuosität. Nie

klingt das Ensemble brillant und hochge-
züchtet. Denn immer legen sie Wärme und
Schmäh mit in ihr Spiel, die ihnen böse
Menschen als Schlamperei ankreiden.
Aber das ist es nicht. Sondern Humanität.
Die Wiener, Nelsons liegt da genau auf ih-
rer Line (oder sie auf seiner?), bringen das
Kunststück fertig, den übermenschlichen
Anspruch Beethovens mit menschlichem
Maß auszusöhnen.
Titanentum und Häuslichkeit, Wahn-
witz und Geborgenheit, Entfesselung und
Innigkeit: All das ist gleichzeitig hörbar. So
entwerfen Nelsons und die Wiener via Beet-
hoven ein modernes Menschenbild. Dieser
Idealmensch, egal ob Frau oder Mann, ist
kraftvoll, klug und oft hinreißend witzig,
er ist agil, rücksichtsvoll, draufgängerisch,
auch schwärmerisch, visionär und liebe-
voll. Nie zeigt er sich fanatisch, nie driftet
erin die Vereinzelung ab. Hate Speech oder
Das-Volk-sind-wir-Attitüden sind ihm so
fremd wie das Schielen auf den bestmögli-
chen Deal. Da tritt kein Blender auf, son-
dern ein diesseitiger Realist, der die klei-
nen Dinge verzaubert, aber dem großen
Schaubudenzauber misstraut.
Die Streicher ertrinken nie in einem jen-
seitsweltlichen Schmelz, sie sind geerdet,
angeraut und immer präsent. Elysisches,
bloß um der Schönheit Schönes gibt es an
diesen beiden Abenden nie zu hören. Die
Bläser, Holz wie Blech, stimmen in diesen
Grundton ein, ohne wie bei so vielen ande-

ren Spitzenorchestern je die Streicher zu
übertönen. Auch die Hörner sind so gar
nicht glatt, sondern immer naturherb und
hinreißend im heiklen Mittelteil des Eroi-
ca-Scherzos.
Nelsons organisiert den Klang immer
im Vordergrund. Er macht die Details alle
hörbar, er stuft die Instrumentalgruppen
und die sich subtil dahineinfindende Pau-
ke genau und stets flexibel. „Das atmende
Klarsein“ heißt eines der späten faszinie-
renden Stücke Luigi Nonos, der Text ist
von Rainer Maria Rilke: Genau das steht in
leuchtenden Großbuchstaben von unsicht-
barer Hand geschrieben über diesen bei-
den Konzertabenden.

In den motorischen, Barockes beschwö-
renden Passagen, in den kontrapunkti-
schen Fugati, in den Klangteppichen wird
manchmal schlagartig klar, was Dmitri
Schostakowitsch sich bei Beethoven aus-
borgte. Und nicht nur in den Scherzi und
Menuetten schwingt die musikantische Ur-
tümlichkeit und Lebenslust kleiner Dörfer
im europäischen Osten mit. Oder ist das so-
gar eine melancholische Reminiszenz an
die niedergemordete Welt des Schtetl? Nel-
sons kann seine ganz auf Vielgestalt setzen-

de Lesart völlig natürlich und schlüssig
klingen lassen, er lässt sich nie zum Forcie-
ren, Überbetonen oder Umwerten verfüh-
ren. Beethovens 200 Jahre ferne Welt ist
ihm hörbar in jeder Wendung nah und ver-
traut. Aber Nelsons selbst ist ein Mann, der
mit beiden Beinen und ohne zu Fremdeln
im Krisen-Corona-Jahr 2020 steht. Das er-
möglicht ihm einen sensationellen Spagat
zwischen dem Damals und dem Heute. Der
Hörer hat das Gefühl, auf eine Zeitreise mit-
genommen zu werden, auf der er entdeckt,
dass ihm die Beethoven-Zeit genauso nahe
ist wie die seine. Was eine Illusion ist, weil
der Hörer das Damals nur durch die Brille
Nelsons zu sehen bekommt.
Schon am ersten und erst recht am zwei-
ten Abend verdichtet sich beim Publikum
das Gefühl, etwas Grandioses zu erleben,
was aber nicht zu seinem Abschluss kom-
men wird. Nur wenige Stunden vor dem
dritten Konzert kommt die Absage, auf de-
ren Ausbleiben ein jeder gehofft hat. Was
jetzt tun? Die CDs anhören? Der Rezensent
jedenfalls traut sich nicht, die Platten mit
den Sinfonien Sechs bis Neun in den CD-
Player zu schieben. Aus Angst enttäuscht
zu werden, aus dem Wissen heraus, dass
das erregte Mitfiebern von 2000 gleichzei-
tig anwesenden Hörern doch essenziell zu
einem Konzert dazugehört. Das kann kei-
ne Konserve ersetzen. Also lieber das Un-
vollendete als das größte mögliche Glück
hinnehmen. reinhard j. brembeck

Das Ausmaß der Krise, die das Coronavi-
rusausgelöst hat, erkennt man daran, dass
es keinen Bereich menschlicher Kommuni-
kation und Zusammenkunft mehr gibt,
der nicht auf Streaming umgestellt hat
oder gerade dabei ist, dies zu tun. Wie etwa
die Musiker des „Shanghai Symphony Or-
chestra“, die bereits seit Ende Januar Unter-
richtsvideos und Proben im Netz posten.
Gianna Nannini streamt ihr „virtuelles
Konzert gegen Corona-Einsamkeit“ gleich
aus dem Wohnzimmer. Das macht auch Pi-
anist Igor Levit, der am Donnerstagabend
ab 19 Uhr von zu Hause auf Twitter live-
streamen will. Der Papst hält seinen Mor-
gengottesdienst mit nur wenigen vatikani-
schen Mitarbeitern und überträgt die Mes-
se ins Netz. Das kulturelle Leben Italiens
steht überhaupt jetzt unter dem Hashtag
„#iorestoacasa“ – „Ich bleibe zu Hause“.
Nach der Maxime: „Wenn das Publikum
nicht kommen kann, muss die Aufführung
zum Publikum kommen“, musizieren der-
zeit die Mitglieder des Mailänder Sinfonie-
orchesters Giuseppe Verdi in einem leeren
Saal, ihr Auditorium erreichen sie via You-
tube-Stream. Mitschnitte ihrer Auftritte
sind gesammelt unter dem Hashtag „#La-
musicanonsiferma“ – „Die Musik endet
nicht“. Diese kann man – wie alle anderen!


  • natürlich auch aus Deutschland abrufen.
    Die für den 12. März geplante Eröffnung
    der Ausstellung „The Beginning. Kunst in
    Österreich 1945 bis 1980“ in der Wiener
    „Albertina modern“ findet außer im klei-
    nen Kreis nur per Facebook-Stream im
    Netz statt. Der Verlag Kiepenheu-
    er&Witsch verlegt sein Programm mit Le-
    sungen und Autorengesprächen, das dem
    Ausfall der Leipziger Buchmesse zum Op-
    fer fiel, komplett ins Digitale und nennt es
    „Leipziger Büromesse 2020“. Die Staats-
    oper „Unter den Linden“ in Berlin weicht
    nach der Schließung aller großen Auffüh-
    rungsstätten ebenfalls ins Internet aus
    und startet eine Zusammenarbeit mit dem
    Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB). Den
    Auftakt macht die Oper „Carmen“, die vor
    leeren Rängen aufgeführt wird, aber über
    die Internet-Plattformen der Staatsoper
    und des Senders kostenlos gestreamt wer-
    den kann. Für die Premiere der Oper „Ido-
    meneo“ am 22. März unter Simon Rattle
    wird eine ähnliche Lösung angestrebt.
    Das ist eine Empfehlung an alle öffent-
    lich rechtlichen Sendeanstalten: Sie kön-
    nen ihrem Informationsauftrag gerade
    jetzt mit Streams von Kulturveranstaltun-
    gen gerecht werden, die sonst ausfallen
    würden. Berlin meldet übrigens auch
    noch, dass die Bibliotheken des „Verbunds
    der Öffentlichen Bibliotheken Berlins“
    (VÖBB) ihre Ausleihfristen verlängert ha-
    ben und entliehene Medien nicht zur drit-
    ten Verlängerung in einer Bibliothek vorge-
    legt werden müssen. Ebenso kündigt man
    jetzt schon für einige Veranstaltungen der
    abgesagten, für den neunten bis elften Ju-
    ni geplanten Computerspielmesse „E3 Ex-
    po“ in Los Angeles zahlreiche Netz-Übertra-
    gungen als Ersatz an. Daran wird man sich
    schnell gewöhnen. bernd graff


von christine dössel

N


achdem auch in Berlin der Spielbe-
trieb an allen Bühnen wegen der Co-
ronaviruskrise eingestellt wurde,
ist die Uraufführung von Marius von May-
enburgs „Die Affen“ die vorerst letzte grö-
ßere Premiere der Stadt gewesen.
Zwar hatte auch die Schaubühne schon
zuvor den Laden dicht gemacht, und das
(ausverkaufte) Festival F.I.N.D. für interna-
tionale neue Dramatik, das mit der Premie-
re der „Affen“ hätte eröffnet werden sol-
len, wurde zur Frustration vieler abgesagt.
Doch da „Die Affen“ im kleinen, wie ein
Halbrund gestalteten „Globe“ der Schau-
bühne angesetzt waren, das nicht mehr als
280 Zuschauer fasst, konnte das Stück ge-
rade noch aufgeführt werden, bevor auch
der restliche Spielbetrieb beendet worden
ist.
Aufheiterung oder Seelentrost in dieser
angstkeimverseuchten Zeit darf man sich
davon aber nicht erhoffen. Es ist ein dys-
topisch-zoologisches Stück, das den Men-
schen als zerstörerische Kraft und End-
punkt einer fehlgelaufenen Weltentwick-
lung betrachtet. Ein Lebewesen, das sich
mutwillig seiner eigenen Lebensgrundla-
ge beraubt, macht in der Evolution keinen
Sinn mehr. Also Schluss damit und zurück
zu den Ursprüngen: da, wo der Mensch als
Affe begann.


Mayenburg, Hausautor der Schaubüh-
ne und auch Regisseur, dreht den Spieß
der „Planet der Affen“-Filme um: Bei ihm
ist es der Homo sapiens, der seine Sprache,
seine ohnehin viel zu kurz gekommene Ver-
nunft und den aufrechten Gang aufgibt
und sich zum Primaten zurückentwickelt.
Es ist eine Absage an die Evolution bezie-
hungsweise deren Umkehr in die entgegen-
gesetzte Richtung. In einer der gelegent-
lich wie apokalyptische Couplets in den
Text eingebauten Verspassagen heißt es:
„Wahrscheinlich ist es wirklich schon/
zu spät./ Uns bleibt noch ein Jahrzehnt/
mit etwas Glück, / bevor hier alles aus dem
Lot gerät./ Es führt kein Weg nach
vorn,/ nur noch zurück.“
Endzeitstimmung von Anfang an. Die
halbrunde Bühne liegt wie eine Insel da,


schwarzgrauer Sand, zwei Felsen, ein Gar-
ten- und ein Plastikliegestuhl. Die Rück-
wand wird von dem Bühnendesigner Sé-
bastien Dupouey mit naturphänomenalen
Welt(raum)-Traumbildern als Videolein-
wand bespielt: rauschendes Meer, tanzen-
de Quallen, wehende Palmen, Sterne im
All. Über der Szenerie hängt wie ein grüner
Asteroid ein Riesenknäuel aus Blätter-
zeug, Kabelsalat, flimmernden Flachbild-
schirmen, eine Art moosbewachsener Welt-
raumschrottball. Er kann herabgelassen
werden und dient als Affenfelsen.
Am Anfang sehen wir Rupp, die Hauptfi-
gur des Stückes, noch in seiner menschli-
chen Gestalt. Bei Robert Beyer sieht er aus
wie der kleine Bruder von Steve Jobs: ein
weltgewandter Entscheidertyp mit Den-
kergesicht, unrasiert, smart, beiger Rolli
unterm Jackett. Dass dieses Jackett tannen-
baumgrün und aus Samt ist, was die Kos-
tümbildnerin Anneke Goertz bei der opti-
schen Ausstattung von Rupps Familie als
Kennzeichnung aufnimmt und in Grün-Va-
rianten weiterspinnt, hat – wie das ganze
Setting – etwas schwer Symbolträchtiges.
Mit Betonung auf „schwer“. Die betrübten
Blicke der Figuren und die nichts Gutes ver-
heißende, teils sphärisch wabernde Musik
tun das Ihrige, die Koordinaten gleich mal
auf Weltuntergang und die Gemüter auf
deutsche Schwermut einzustellen. Dabei
kann von Mayenburg Komödie („Peng“,
„Stück Plastik“), und als Komödie wurden
auch „Die Affen“ angezeigt.
Nun erwartet ja niemand gleich eine Af-
fengaudi, aber ein bisschen mehr Satire,
Komik, Biss, mehr von dem sonst bei Ma-
yenburg oft überschäumenden Groteskhu-
mor wären schon gut gewesen. Diesmal ist
es dem Autor mit seinem Thema bitter-
ernst, und da er sein Stück selber insze-
niert, was hier eher kontraproduktiv ist, be-
kommt der ganze Abend diesen Anstrich:
bitter und ernst. Nur leider ist das auch:
fad und zahm. So verständlich die Wut da-
hinter ist, die Wut auf das ewige Weiter-So
des Menschen, gepaart mit dem Gefühl
„Es reicht!“ – ohne ausgefeilte Karosserie
macht die Wut als Motor noch kein Stück.
Auch die Figuren dienen hier nur dem Fu-
ror der Sache, Profil gewinnen sie nicht.
Robert Beyer als Rupp spuckt gegen-
über seiner Frau Kehle (Jenny König) aus-
giebig seinen Menschenenkel heraus:
„Kein andres Tier ist so beschissen dumm
und ruiniert sich selber alles.“ Dabei war
der Typ mit seiner Firma bisher selber an

der Ausbeutung Afrikas und der Zerstö-
rung von Naturparks beteiligt. Jetzt wird
er vom Öl-Saulus zum Öko-Paulus, rasiert
sich nicht mehr, lässt seine Sprache verfal-
len und mutiert zum Schimpansen. Er
zieht dafür kein schlichtes Affenkostüm
an, sondern sieht wirklich aus wie ein Men-
schenaffe, mit Haaren wie aus seiner Haut
gewachsen. Die Maske der Schaubühne
hat da Großartiges geleistet, und wie wür-
devoll und überzeugend Beyer das spielt,
ist sehenswert. Genija Rykova (mit Gret-

chenfrisur) und Mark Waschke (als großer
Bub), vom Regisseur oft stehen gelassen,
spielen Rupps Kinder: die Tochter folgsam
und besorgt, der Sohn blaffend und aufbe-
gehrend. Sie sind aber auch, in den unver-
mittelten Szenenwechseln des Stücks,
Journalisten, CEOs, Wissenschaftler. Leu-
te, die den Affen wahlweise erforschen
oder ausstopfen wollen und ihn ins All
schießen, als Versuchstier für das nächste
menschliche Großprojekt: der Eroberung
neuer Lebenssphären. Von dort blickt Ast-

ronaut Rupp auf die gebrechliche „Oma Er-
de“ und kehrt zu ihr zurück, nun Alphatier
einer ganzen Affenhorde. Denn auch die an-
deren sind am Schluss zu Affen mutiert, ge-
ben entsprechende Laute von sich, klet-
tern und springen herum. Sie tun das ex-
trem naturalistisch und so tierisch gut,
dass man sagen muss: Die Schauspieler
sind als Affen tatsächlich besser. Ein Para-
dies ist dieser „Naturzustand“ aber nicht.
Denn siehe, auch der Affe hasst und tobt
und bekämpft seine Gegner.

Wegen des Virus sagen viele Clubs der
Hauptstadt ihre Veranstaltungen und Par-
tys ab. Das „Berghain“ schließt für mindes-
tens fünf Wochen, der Karneval der Kultu-
ren zu Pfingsten und das Straßenfest zum
Ersten Mai werden nicht stattfinden. Die
Partyszene macht einer Studie der Berli-
ner „Clubcommission“ zufolge Umsätze
von 1,48 Milliarden Euro pro Jahr, drei Mil-
lionen Touristen kommen auch wegen der
Berliner Szene. Pamela Schobeß, Betreibe-
rin des Clubs „Gretchen“, spricht von „Aus-
nahmesituation“: „Niemand hat Rückla-
gen, vier Wochen zu überleben.“ Sascha
Disselkamp, Geschäftsführer des „Sage“,
glaubt, dass viele Clubs für immer schlie-
ßen. Linken-Fraktionsvize Caren Lay for-
dert darum, dass Clubs als Kultureinrich-
tungen Theatern und Opernhäusern gleich-
gestellt und unterstützt werden. vma


Berlin schließt alle seine Kultureinrichtun-
gen. Die staatlichen Theater, Opern, Kon-
zerthäuser, Landesmuseen, Gedenkstät-
ten und Galerien werden ihren Betrieb vor-
erst bis zum Ende der Osterferien, also bis
zum 19. April, einstellen. Das verkündete
Donnerstagabend der Berliner Kultursena-
tor Klaus Lederer (Die Linke). Auch Privat-
veranstalter würden dem Entschluss nach
Rücksprache mit den Gesundheitsämtern
folgen. Derweil versprach Kulturstaatsmi-
nisterin Monika Grütters (CDU) Künstler
und Kultureinrichtungen bei den Folgen
des Coronavirus zu unterstützen. „Wir
müssen auf unverschuldete Härten und
Notlagen reagieren und sie ausgleichen.“
Absagen von Kulturveranstaltungen und
spürbarer Besucherrückgang könnten „ge-
rade kleinere Einrichtungen und freie
Künstlerinnen und Künstler in erhebliche
Bedrängnis“ bringen. Der Deutsche Kul-
turrat hatte gemeinsam mit Kulturpoliti-
kern der Grünen ebenfalls einen Aktions-
plan gefordert. Der solle „unbürokratisch
Soforthilfe, etwa in Form von Darlehen, Mi-
krokrediten und Kompensationen für Aus-
fälle“ anbieten. kna, sz

DasMoka Efti Orchestrakommt auf die
Bühne, und sein Chef und Pianist Nikko
Weidemann begrüßt das Publikum mit
den Worten: „Eigentlich sollte jeder von
euch einen Tapferkeitsorden kriegen.“ Ei-
nen Orden für Anwesenheit in Zeiten der
Seuche. So mutig muss man gar nicht sein:
Die Muffathalle in München fasst bis zu
1400 Menschen, nun stehen etwa 300 her-
um, halten locker den Abstand zum Nächs-
ten, worauf zu achten man auch beim Ein-
lass gebeten wurde.
Das etwas Irritierende daran ist, dass
das Mokka Efti Orchestra gegründet wur-
de, um den Rausch, die Ekstase und die Fei-
erwut einer Epoche erfahrbar zu machen.
Das geht normalerweise nicht ohne Körper-
kontakt. Die Epoche umfasst die späten

Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts in
Berlin, als die Stadt die lebendigste der
Welt war. Zu dieser Zeit spielt die Serie „Ba-
bylon Berlin“, für die Nikko Weidemann
und Mario Kamien die Musik schrieben
und auch die dafür notwendige Band grün-
deten, welche im Film in den grandios in-
szenierten Partynächten im Moka Efti als
hochmoderner Emotionsbeschleuniger zu
erleben ist. Das Lokal gab es wirklich, es be-
saß die erste Rolltreppe Berlins und spielte
Jazz wie heute das Berghain Techno.
Nach den ersten beiden Staffeln der Se-
rie machte sich das Orchester selbständig,
brachte eine eigene Platte heraus und
tourt nun mit dem Material von „Erstaus-
gabe“, sofern derzeit möglich. Als noch al-
les möglich war, war das Moka Efti Orches-

tra der perfekte Sound einer Zeit, die lust-
voll die Reminiszenz an dieses Gefühl aus-
kosten wollte: diesen Tanz auf dem Vul-
kan, den man feiert, weil man spürt, eine
Zeit ändert sich und die Gesellschaft gleich
mit, man weiß nicht, was kommt, ist aber
wenig optimistisch, also lieber noch ein-
mal der ganz große Rausch. Den zelebrie-
ren die 14 Musiker auch in München, das
Blech knallt auf den Punkt, das Schlagzeug
und der Bass treiben die Musik gnadenlos
voran, die klangliche Imagination einer
Zeit funktioniert in perfekter Lebendig-
keit. Dazwischen seltsame Einsprengsel
von Mario Kamien, der sich Berliner Prole-
tensongs neu erdacht hat. Aber auch ein
Blues, gesungen von Roland Satterwhite,
der sich dazu zupfend auf seiner Geige

begleitet, als wäre diese ein Gitarre aus New
Orleans. Dann schleicht sich eine Trompete
dazu, ein bisschen das Klavier von Weide-
man – ein bezaubernd zarter Moment.
Grandios wird das Konzert, wenn es
zum Spiegel des Moments wird. Wenn Wei-
demann den „Fatalist Blues“ singt: „Und
wie es weitergeht, und wie die Welt sich
dreht, ist mir egal, ganz egal.“ Danach rast
die Musik wieder über den nächsten Ab-
grund hinweg, zum nächsten Auftritt der
fabelhaft singenden Schauspielerin Sever-
ija Janušauskaitė, dem dunklem Glück der
Serie wie des Konzerts. Jeder Ton tiefster
Ausdruck, dem Ende nah, doch darüber lä-
chelnd: „Zu Asche, zu Staub, dem Licht ge-
raubt. Doch noch nicht jetzt, Wunder war-
ten bis zuletzt.“ egbert tholl

Corona und KulturVor der Absageflut kam es noch zu einigen Auftritten – manche Einrichtungen weichen ins Netz aus


„Kein andres Tier ist so


beschissen dumm und ruiniert


sich selber alles“


Aufrechter Gang?


Nein, danke


In Marius von Mayenburgs Stück „Die Affen“ an der


Berliner Schaubühne wird die Evolution umgekehrt


Partycrash


undClubsterben


Unterstützung


Alle Berliner Bühnen zu,
Grütters verspricht Hilfe

Wunder warten bis zuletzt


Berlin gestern, München heute: Das „Moka Efti Orchestra“ lädt noch einmal ein zum letzten Tanz auf dem Vulkan


Das letzte Konzert


Die Wiener Philharmoniker und Dirigent Andris Nelsons müssen ihren Beethoven-Sinfonien-Zyklus in München abbrechen


Netzkultur


Wie Künstler und Institutionen
auf das Internet umsteigen

Keine Konserve kann
das erregte Mitfiebern von 2000
anwesenden Hörern ersetzen
Nelsons und die Wiener
entwerfen via Beethoven ein
modernes Menschenbild

DEFGH Nr. 61, Freitag, 13. März 2020 (^) FEUILLETON HF2 13
Ist der Affe der bessere Mensch? Szene mit Jenny König und dem zum Tier verwandelten Robert Beyer. FOTO: ARNO DECLAIR
Passend zum Abgrund der Gegenwart:
das Moka Efti Orchestra. FOTO: IMAGO

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