Süddeutsche Zeitung - 13.03.2020

(Elle) #1
interview: helmut böttiger

D


as im Folgenden erstmals gedruck-
te Gespräch mit Günter Grass über
Paul Celan wurde am 20. Mai 1995
im Haus von Günter Grass in Behlendorf in
Schleswig-Holstein geführt. Anlass waren
die knappen Erwähnungen seiner Freund-
schaft mit dem sieben Jahre älteren Paul
Celan in Grass’ Buch „Vier Jahrzehnte. Ein
Werkstattbericht“, das 1991 im Steidl Ver-
lag erschienen war. Paul Celan starb am



  1. April 1970 in Paris, Günter Grass am 13.
    April 2015 in Lübeck. sz


SZ: Als noch unbekannter junger Künst-
ler sind Sie für einige Jahre nach Paris ge-
gangen und haben dort auch Paul Celan
kennengelernt.
Günter Grass: Das war die schwierigste
Freundschaft, die ich erlebt habe.


Wie kam der Kontakt zustande?
Ich bin 1956 von Berlin nach Paris gezogen,
und gleich zu Anfang besuchte mich Chris-
toph Meckel, und er war bei Paul Celan an-
gekündigt. Ich wusste, dass Paul Celan da
wohnt, aber ich hätte keinen Antrieb ge-
habt, ihn einfach so zu besuchen. Meckel
hat angefragt, ob ich mitkommen könnte,
und wir besuchten ihn dann beide. Er be-
grüßte uns, freundlich, aber ein bisschen
so, wie Stefan George das getan hätte, eher
weihevoll. Und Meckel machte dann einen
Fehler. Celan legte ihm einen neuen Ge-
dichtband hin, Meckel blätterte so darin
herum, und dann nahm Celan ihm den
Band aus der Hand und sagte: So liest man
nicht meine Gedichte! Der Besuch war
auch relativ kurz.


Das klingt eher nicht wie der Beginn
einer Freundschaft.
Meckel reiste dann wieder ab, aber Celan
und ich haben uns wiedergesehen. Ich glau-
be, dass auch er Interesse daran hatte, wir
haben uns verabredet, ich hatte kein Tele-
fon, ich rief ihn an oder schrieb eine Post-
karte. Wir haben uns in der Stadt getrof-
fen, auch an der Avenue d’Italie, wo wir
wohnten. Und mehrere Male kam auch sei-
ne Frau, sie kam mit der Metro angereist
und bat mich zu kommen, Paul ginge es
ganz elend. Ich erinnere mich an einen kon-
kreten Besuch, als ich mitkam. Da war ich
schon darauf vorbereitet: Er lag auf dem
Sofa, hatteDie Zeitin der Hand, die hing
vom Sofarand runter, eine Kompresse auf
dem Kopf, ich kam rein, und er sagte: Lies
das! Da war wieder etwas von Hühnerfeld
erschienen oder irgendetwas, was mit dem
Plagiatsvorwurf von Claire Goll zu tun hat-
te. Und den hat er dann, wenn er nach
Deutschland fuhr, berechtigt oder auch
übertrieben, mit latentem Antisemitismus
gleichgesetzt, er schmiss das alles in eine
Schublade. Es war sehr schwer, mit ihm
überhaupt darüber zu reden.


Haben Sie Celan schon damals als psy-
chisch gefährdet erlebt?
In Paris nicht. Aber wenn er in Deutsch-
land war – bis zum Verfolgungswahn. Dass
er auch unbedachte Äußerungen von jun-
gen Leuten ungeheuer gewichtig nahm
und sich verletzt fühlte...


Bei Ihnen scheint das nicht der Fall gewe-
sen zu sein.
Gleich zu Anfang gab es eine Auseinander-
setzung zwischen uns, weil er zum Posie-
ren neigte. Und ich sagte, im Jardin du Lu-
xembourg, dass ich nicht die Wand bin, ge-
gen die man spricht. Das amüsierte beide.
Und von da an konnten wir miteinander so
umgehen, dass es lockerer war. Was mir
niemals gelungen ist – ich hab das mehr-
mals versucht –, ihn mal mit anderen
Freunden bekannt zu machen, mit dem
Schweizer Bildhauer Robert Müller, mit
dem sind wir manchmal zum Bal Nègre ge-
gangen, tanzen, an der Place Pigalle. Das
ging nicht. Einmal kulminierte diese Ge-
schichte, als er mich bat, ein Gutachten zu
schreiben, über seine Lyrik im Vergleich zu
Goll. Als Beweis dafür, dass das nicht epigo-
nal sei, was ich auch immer gesagt hatte.
Es mögen dann drei Schreibmaschinensei-
ten gewesen sein, Überschrift: „Über die
Beliebigkeit der Genitivmetapher“. Und
das passte ihm natürlich nicht. Ich hab da
auf eine witzige Art deutlich gemacht, was
man mit einer Genitivmetapher alles an-
stellen kann, wie austauschbar Genitivme-
taphern im Prinzip sind. Und er hat dar-
über gelacht, aber etwas säuerlich. Und er
empfand das nicht als ausreichend, um ihn
von diesem Vorwurf freizusprechen. Er ist
überhaupt immer sehr verletzt und unge-
schickt und unsicher damit umgegangen,
und hat damit den Gegnern, die aus zusätz-
lichen Motiven gegen ihn waren, eine Blö-
ße geboten, besonders, wenn er nach
Deutschland fuhr. Wovon er jedes Mal völ-
lig erschlagen zurückkam.


Was hat Sie an Celan interessiert?
Dieser Konflikt ist die eine Seite, die ande-
re Seite aber ist, dass ich ungeheuer von
ihm profitiert habe. Er war ein Belesener –
mit dem Wort „gebildet“ ist längst nicht al-
les gesagt. Er wusste alles, und er gab sehr
viel. Und hat mich, als er merkte, dass ich
an einem Roman arbeite – das ist wieder ei-
ne andere Geschichte, er ist über kleinere
Prosastücke nicht hinausgekommen, aber
er hatte ein Bedürfnis, er hätte gerne Prosa


geschrieben. Und da er mündlich ein ausge-
zeichneter Erzähler war, voller Witz, voller
derber Pointen, voller Leben, hätte ich ihm
das gewünscht. Aber da war die eigene
Sprachbarriere, die er sich aufgebaut hat-
te, mit der Lyrik. Jedenfalls habe ich ihm
aus der „Blechtrommel“ mal vorgelesen,
die ersten Kapitel, und er hat mich sehr ge-
stärkt und ermuntert weiterzumachen.

Aber seine Vorstellung von Lyrik war
Ihnen fremd?
Das Merkwürdige ist, dass er das Bild die-
ses Priesterlichen selber stilisiert hat.
Wenn er etwas vorlas, wenn er ein Gedicht
las, das war zum Weglaufen. Schrecklich,
mit Lichtausmachen und Kerzenanzün-
den, eine wirklich verschmockte Stim-
mung, die er selber herstellte. Und dem wi-
dersprach, wenn man mit ihm umging,
sein Witz. Seine immer wieder ausbrechen-
de Lebenslust. Er trank gerne mal einen,
fing dann sofort an zu singen. Russisch
meistens, steckte dann auf einmal voller
Revolution. Wir haben uns beide einmal
sinnlos betrunken. Ich hatte Ferien ge-
macht, in der Normandie, und von dort ei-
ne Flasche weißen Calvados mitgebracht.
Hochprozentig, dieser Calvados, 60 Pro-
zent. Die haben wir ausgetrunken. So am
Nachmittag. Meine Frau, die machte gera-
de ihre Ballettausbildung und kam nach
Hause zurück, sie fand uns beide glücklich
lallend, vollkommen betrunken und sin-
gend in dieser winzigen Wohnung. Und
dann kam ja noch eins dazu, 1959 im
Herbst kamen in diese Wohnung noch

zwei Kinder hinein. Da wurden meine zwei
ältesten Söhne geboren, Zwillinge. Und dar-
an nahm Celan lebhaften Anteil. Er hatte
ein festes Gehalt, solide fundiert, und
wenn er uns zum Essen eingeladen hat, da
hat er auch gemerkt, dass wir ziemlich zu-
gelangt haben – das reicht also alles nicht
aus, und in einer solchen Situation leisten
sie sich auch noch Zwillinge! Das hat er im-
mer so mit leicht kopfschüttelndem Re-
spekt als Leichtsinn verbucht...

Das scheint so gar nicht zu dem Priester-
lichen und Kerzenanzünden zu passen,
das Sie eben geschildert haben.
Das hörte dann allerdings mehr und mehr
auf, weil – da hab ich gelacht! Ich war völlig
ungeeignet dafür. Und in dem Alter damals
war ich rücksichtsloser, heute würde ich
wohl mehr auf ihn eingehen – was falsch
wäre! Leute, die nach Paris fuhren und ihn
bewunderten, die vor ihm auf den Knien la-
gen und „Meister“ zu ihm sagten, die gab’s
ja genug. Daran hat’s nicht gefehlt. Wenn-
gleich er immer sehr einsam war.

Woher kam dieses Weihevolle?
Das war sein Programm. Er sah den Dichter
als Seher. Und dann ist der Schritt zum
Priester und dieser Stefan-George-Weihe
naheliegend. In diese Zeit fiel der Verlags-
wechsel Celans. Von der Deutschen Verlags-
Anstalt zu S. Fischer. Es muss 58 gewesen
sein, in dieser Zeit, meine erste Frau war bei
den beiden zu Besuch und der Sohn war viel-
leicht drei oder vier Jahre alt. Und da sprach
er auf dieses Kind ein und sagte: Dein Papa
hat einen neuen Verleger. Der erste war

sehr böse, und das ist jetzt ein guter Verle-
ger! Aber da musste er dann auch selber la-
chen. Aber es war sehr ernst gemeint, als er
damit anfing...

Hat es ihn nicht verletzt, wenn Sie lach-
ten?
Das hat ihn nicht verletzt, er hat nur ge-
merkt – er konnte sich durchaus auch als
Darsteller begreifen –, dass die Darstel-
lung nicht bei mir ankam. Natürlich, wenn
jemand sich wie Stefan George gebärdet,
dann stellt er ihn dar! Und das in dieser
Zeit! Meiner Meinung nach, und das habe
ich ihm auch gesagt, ist die Art und Weise,
wie er seine Texte liest und wie er sie gele-
sen hat, wie er sie darstellt – das wider-
spricht den Gedichten. Das war wahr-
scheinlich das stärkste Argument, denn
daran war er interessiert. Aber er war ein
miserabler Interpret seiner Gedichte.

Wovon handelten Ihre literarischen
Gespräche?
Er hat mir vieles vermittelt, weil er merkte,
wo meine Neigungen lagen. Ich kannte
zum Beispiel Rabelais nicht. Und er hat mir
das sofort mit der besten Übersetzung raus-
gesucht, ich habe bei ihm regelrecht ge-
lernt. Ich war 17, als der Krieg zu Ende war,
mit 15 hörte bei mir die Schule auf – was
ich bis dahin wusste, das habe ich mir wild,
unsystematisch angelesen. Da waren Lö-
cher, die er natürlich bemerkt hat, auf so
eine freundschaftliche und angenehme
Art. Nie besserwisserisch. Auch Dinge, die
mir nicht unbedingt lagen, die ich aber

dann doch mit Interesse wahrgenommen
habe und die seinen Neigungen wahr-
scheinlich viel eher entsprachen, Fin de
Siècle, französischer Symbolismus, das ha-
be ich durch ihn kennengelernt.

Bei alldem waren aber Ihre Gegensätze
beim Schreiben von Gedichten nicht zu
übersehen.
Er schätzte meinen Gedichtband, „Die Vor-
züge der Windhühner“, das kam ihm nicht
ins Gehege. Auch mein Plädoyer fürs Gele-
genheitsgedicht war etwas, was ihm entge-
genkam. Und ich halte so ein Gedicht wie
„Engführung“ für viel wichtiger als die „To-
desfuge“. Bei der „Todesfuge“, da gibt’s Din-
ge, die ich kritisch sehe, auch von der Ästhe-
tisierung her. „Engführung“ aber ist für
mich ein revolutionäres Gedicht. In diesen
späteren Sachen ist er wirklich auf seiner
Höhe und völlig unabhängig. Er hat den
Fehler gemacht, dass er sein Herkommen
nicht offenlegte. Er ist von den frühesten
Gedichten an unabhängig gewesen, aber
mit deutlichem Herkommen. Es gab gar
keine Veranlassung dazu, das zu verber-
gen. Aber das passte wiederum nicht zu sei-
ner Auffassung vom Dichter. Diese Auffas-
sung hatte etwas vom Geniebegriff des


  1. Jahrhunderts, das fällt vom Himmel,
    was ihn betraf.


Haben Sie mit Celan über den deutschen
Literaturbetrieb gesprochen?
Ich glaube, er hat sehr darunter gelitten,
dass er in Frankreich nicht wahrgenom-
men wurde. Es gab da eine merkwürdige Sa-
che. 1958, ich hatte schon den Preis der
Gruppe 47, hat er mich mitgenommen zu ei-
nem Empfang des Verlags Éditions du Seuil
und hat mich der Lektorin für fremdspra-
chige Literatur vorgestellt. Mit dem Ergeb-
nis, dass Éditions du Seuil heute noch mein
Verlag ist, dass alle Prosabände und politi-
schen Schriften dort erschienen sind. Nur

die Lyrik nicht, das ist in Frankreich ja
schwierig, und das betrifft auch Celan. Die
beiden kannten sich, die Lektorin und er,
seit vielen Jahren, und ich hab es nach sei-
nem Tod immer wieder versucht: Ihr müsst
jetzt mal, ihr seid der Verlag... - Ja ja, wir wis-
sen’s, es fehlt an guten Übersetzern, es ist
unmöglich! Dabei hat er umgekehrt sehr
viel aus dem Französischen ins Deutsche
übersetzt. Ihm hat dieses Gegengewicht ge-
fehlt. Und dann dieser Empfang bei Seuil!
Er kannte die französischen Schriftsteller,
die da waren, ich kannte die gar nicht. Dass
sie mich nicht wahrnahmen, als einen jun-
gen deutschen Schriftsteller, ist klar, sie ha-
ben mich höchstens gefragt, wo man in

Deutschland Ferien machen könne, da hab
ich sie alle in den Schwarzwald geschickt.
Auf so etwas wäre Paul Celan nicht gekom-
men. Der war sofort verletzt! Weil auch die
nicht wussten, wer er war!

Die Begegnungen mit ihm waren an-
scheinend immer spannungsgeladen.
Es war immer spannungsgeladen, aber es
ging, was uns beide betraf. Und ich glaube,
es ging auch mit Walter Höllerer, die paar
Mal, die ich beobachtet habe, wenn ich da-
bei war. Einmal kam Höllerer mit mehre-
ren Schriftstellern, unter anderem mit
Karl Krolow, nach Paris. Paul Celan führte
diese Gruppe, und ich war auch dabei, als
Fremdenführer durchs Marais. Er wusste
von jedem Haus, wer da gewohnt hat, vor
der Revolution und nach der Revolution
und was das für einen Stellenwert hatte.
Und er rauchte sehr viel. Und sprach und
rauchte und zündete sich eine Zigarette an.
Und steckte offenbar das brennende
Streichholz in die Streichholzschachtel.
Die entflammte, und er hatte sie in der
Hand, er hat es ausgeblasen, und wir sahen
alle, wie die Hand rot war und anfing anzu-
schwellen. Und er blickte drauf und sprach
aber weiter und wollte seine Erklärungen
nicht unterbrechen. Wir sahen, wie das im-
mer größer wurde und immer grauenhaf-
ter aussah. Niemand wagte natürlich, ihn
zu unterbrechen. Wir gingen weiter durch
dieses Viertel, bis er eine Apotheke sah und
sagte: Einen Moment bitte! Ich glaube, ich
muss nun doch die Hand ein bisschen ver-
sorgen. Verschwand in der Apotheke, hat
sich eine Salbe geholt. Es war richtig eine

Darbietung! Das konnte er! Er war ein
Schauspieler!

War bei ihm die Inszenierung immer
dabei?
Wir haben auch Stunden gehabt, wo er sich
einfach hat fallenlassen. Er ist sehr stolz ge-
wesen auf seine Mandelstam-Übersetzun-
gen und auch sehr glücklich darüber, und
das hat er auch anders vorgelesen, merk-
würdigerweise: Da hatte man fast das Ge-
fühl, dass er sich von seiner Existenz erholt
hat. Auch Alexander Blok, „Die Zwölf“ hat
er gemacht, er hat das ganz vorgelesen,
eine wunderbare Übersetzung. Wenn man
das denn Übersetzung nennen will, es ist
eine Nachdichtung, das ist ein Stück deut-
sche Literatur geworden. Wunderbar! Und
das las er auch anders! Und war dann ganz
gelöst und locker.

Hat sich Ihre Beziehung geändert, als Sie
durch die „Blechtrommel“ schlagartig
berühmt wurden?
Das hat überhaupt nichts geändert. Im Ge-
genteil. Das Erste, was er machte, als ich
den Preis der Gruppe 47 bekam, war, dass
er mich zu dieser Einladung zur Editions
du Seuil mitnahm und zu der Lektorin sag-
te: Das müsst ihr bringen! Der Roman war
ja nicht fertig, 1958 hab ich ja noch dran ge-
arbeitet. Es kann auch Anfang ’59 gewesen
sein, aber das Buch war noch nicht raus.

Es entstand keinerlei Konkurrenz?
Das gab’s bei uns überhaupt nicht, es gab
überhaupt kein Konkurrenzverhältnis.

Haben Sie mit Celan über Politik disku-
tiert?
Da waren wir eigentlich einer Meinung.
Das war ja eine sehr aufregende Zeit da-
mals in Paris. Die Themen kreisten eben
nicht nur um Deutschland, sondern um
Mendès France, den ich nach wie vor für
den größten französischen Politiker der
Nachkriegszeit halte. Dass er Jude war,
war für Celan natürlich auch wichtig. Und
es spielte sicher mit eine Rolle, dass die Fa-
milie seiner Frau katholisch-antisemitisch
war. Und dass diese Ehe von der Familie sei-
ner Frau nie akzeptiert worden ist. Wenn
es auf dieses Thema kam, da gingen bei
ihm die Jalousien runter, und sie war da
ganz still und beklommen. Wenn er getrun-
ken hatte, kamen die Jugendrevolutionslie-
der hoch, aber er hat sie ironisch gesungen.
Als ich ihn kennenlernte, war er kein Kom-
munist, aber er war sehr stark an der Tages-
politik interessiert.

Hat sich Celan immer noch als ein Linker
verstanden?
Ganz gewiss, ja. Aber er ist weder in Hin-
sicht auf die kommunistische Partei wie
auf die sozialdemokratische Partei festzu-
legen gewesen. Eher so linksanarchistisch.
Wir hatten beide auf unterschiedliche Wei-
se eine Distanz zu Deutschland. Ich zu dem
Adenauer-Deutschland, er insgesamt. Ich
musste ihm natürlich immer alles klein-
klein erzählen, wenn ich zurückkam, denn
ich war gezwungen, so alle 4,5 Monate
nach Deutschland zu fahren, meistens per
Autostopp, denn ich hatte ja kein Geld in
Paris.

War es schwer, sich mit ihm zu verabre-
den?
Ich hab ihn angerufen, und ich kann mich
nicht erinnern, dass er sich einmal geziert
hätte. Und ich erinnere mich an die Male,
als Gisèle sagte: Komm! Das war weit, also
durch die ganze Stadt hindurch mit der Me-
tro: Komm bitte. Paul geht’s sehr schlecht.
Wir sind spazieren gegangen im Jardin du
Luxembourg, er ist aber auch einige Male
bei uns in der Avenue d’Italie zum Essen ge-
wesen. Nie mit Gisèle, fällt mir jetzt ein.
Wir, meine Frau und ich, waren aber oft bei-
de bei ihm zum Essen eingeladen. Das war
anstrengend. Weil er in Gegenwart seiner
Frau sehr förmlich und sehr apodiktisch
war. Als wir einmal dort weggingen, muss-
ten wir in der nächsten Kneipe wenigstens
zwei Calvados trinken, sie auch, um uns da-
von zu erholen.

Interessant, dass er zu Hause so förm-
lich war.
Steif, wie in jeder französischen bürgerli-
chen Familie! Ich glaube nicht, dass es von
ihr kam, sondern dass das sein Wunsch
war, das gab ihm Halt. Gisèles Tat, das ist
jetzt eine Vermutung von mir, ist es ge-
wesen, gegen den Willen ihrer Familie die-
sen Juden zu heiraten. Der französisch-ka-
tholische Antisemitismus, das ist noch
einmal eine ganz besondere Spielart. Das
ist der Gottesmörder! Das ist gar keine Ras-
sismusfrage. Dass sie sich so entschieden
hat, ist enorm, weil sie eine sehr schüchter-
ne und stille Person war. Merkwürdig ist,
dass er so gut wie nie über seine Lehrertä-

tigkeit an der École Normale gesprochen
hat. Mir ist das damals gar nicht so deut-
lich gewesen, aber das war ein Eliteinsti-
tut. Er schüttelte das ab, er hat damit sein
Geld verdient.

Hatten Sie weiter Verbindung zu ihm, als
Sie wieder zurück nach Deutschland
zogen?
Ich hab ihn noch ein einziges Mal auf der
Buchmesse gesehen, und zwei, drei Mal,
als ich in Paris zu tun hatte, als ich von Ber-
lin dahin kam. Aber da war er schon – nicht
mehr ganz da. Ich konnte mir das nicht
mehr erklären – er bemühte sich, und ich
auch. Aber es war sehr, sehr schwierig.
Weil er völlig vereinsamt war. Verschlos-
sen. Recht kurz vor seinem Tod sah ich ihn
noch einmal in Berlin. Er war ganz steif
und hatte ein gefrorenes Lächeln. Da war
nicht mehr ranzukommen. So, wie ich mit
ihm diese wenigen Jahre zusammen gewe-
sen bin, wie ich ihn erlebt habe, das war
nicht mehr möglich. Ich glaube, von den
Germanisten war Peter Szondi einer, den
er geschätzt hat. Wir haben uns auch ein-
mal in Zürich getroffen, das fällt mir jetzt
ein, da war Szondi auch dabei. Wir sind auf
dem Zürichsee gerudert. Ich weiß nicht
mehr, um was es ging, aber jedenfalls hat
er da zum Wasser gesprochen.

Die vollständige Fassung des hier gekürzt abge-
druckten Interviews erscheint im Herbst im The-
menschwerpunkt zu Paul Celan in Band 5 der Reihe
„Freipass. Schriften der Günter und Ute Grass Stif-
tung“ im Ch. Links Verlag in Berlin.

„Er war ein Belesener – mit
demWort ,gebildet‘ ist
längst nicht alles gesagt.“

„Wir haben auch Stunden
gehabt, wo er sich einfach
hat fallenlassen.“

„Wir hatten beide
aufunterschiedliche Weise
eine Distanz zu Deutschland.“

Paris als Ort der deutschen Literatur: Günter Grass, der 1956 in die französische Hauptstadt gezogen war, im Jahr 1962 vor einem Kiosk. Seit dem Erscheinen der „Blechtrommel“ im Jahr 1959 war er ein
berühmter Mann. Mit Paul Celan (rechts) verband ihn in diesen Jahren eine schwierige Freundschaft. FOTOS: SZ PHOTO (LINKS) INTERFOT / AUSTRIAN NATIONAL LIBRARY

Er hat zum Wasser gesprochen


Im Jahr 1995 hat Günter Grass in einem bisher unpublizierten Interview Auskunft über seine Freundschaft mit Paul Celan gegeben. Grass lernte den Dichter


und seine Frau Gisèle Lestrange in den späten Fünfzigerjahren kennen, als er in Paris an seinem Roman „Die Blechtrommel“ arbeitete


(^14) LITERATUR Freitag, 13. März 2020, Nr. 61 DEFGH

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