Die Schwelle zum Erwachsenwerden ist
heuteauch die Schwelle in die digitale
Welt. Wie oft bei solchen Schwellen, gibt es
aber keinen sauberen Übergang. Vielmehr
vermischen sich an ihr die Bereiche, die sie
eigentlich voneinander trennt. In einem
solchen Grenzbereich ist der Jugendro-
man „Niemandsstadt“ von Tobias Gold-
farb angesiedelt.
Es ist natürlich ein Vorurteil, dass sich je-
der „digital native“ praktisch von Geburt
an mit jedem Computer und allem was da-
zugehört auskennt. Auch für junge Men-
schen kann die Digitalisierung eine große
Herausforderung sein, wenn auch auf an-
dere Art als für die Älteren. Nach einer
Kindheit mit Zeichentrickvideos bei You-
tube und harmlosen Computerspielen wer-
den viele Jugendliche spätestens auf dem
Pausenhof der weiterführenden Schulen
mit den Dynamiken, Regeln und Gefahren
sozialer Netzwerke konfrontiert. Die Welt
der überall abrufbaren Daten und der stän-
digen Verfügbarkeit des Selbst bricht da
über manchen so alles bestimmend her-
ein, wie über die beiden Schülerinnen Jose-
fine und Elisabeth in „Niemandsstadt“. Die
eine, Elli, kommt mit der Selbstdarstel-
lung in der digitalen Welt instinktiv klar,
die andere, Fine oder Fein, hat nicht mal
ein Smartphone und möchte mit der gan-
zen Sache am liebsten auch gar nichts zu
tun haben. Beide merken aber: Irgendwas
stimmt hier nicht, mit der Welt und beson-
ders mit dieser Stadt. Vor allem Fine ist sen-
sibilisiert dafür, wie Berlin immer mehr
von einer anderen Welt überlagert wird
und die Wirklichkeit nicht mehr so leicht
vom Fantastischen zu unterscheiden ist:
„Wenn ein Drache am Fernsehturm vorbei-
fliegt, ist es einfach. Dann bin ich drüben.
Wenn die Steinplatten der Gehwege auf La-
va schwimmen und sich in den Ritzen klei-
ne Dämonen tummeln, bin ich drüben. Dä-
monen sind nicht so schlimm, wie alle den-
ken. Frau Granitz aus dem dritten Stock ist
viel schlimmer.“ Haben diese fantasti-
schen Gestalten, die an jeder Ecke zu lun-
gern scheinen, irgendetwas zu tun mit
dem Digitalkonzern „Magick“, der alle
Menschen mit mechanischen Krähen aus-
spioniert und angeblich aus einer alten
Spielkonsole eine künstliche Intelligenz
entwickelt hat? Irgendwie geht die ver-
huschte Fine zwischen diesen Welten verlo-
ren und Eli, die nicht ganz sicher war, ob
sie die Mitschülerin mobben möchte oder
lieber mit ihr befreundet wäre, macht sich
auf die Suche zwischen Großstadt und
brandenburgischer Provinz, digitalen Räu-
men und fantastischen Welten.
Goldfarb scheint sich bei diesem Aben-
teuer selbst keine Grenzen gesetzt zu ha-
ben. Den Assoziationen, Wortspielen und
Zitaten lässt er freie Bahn, auch wenn man-
ches Witze und Symbole sind, die wahr-
scheinlich nur ältere Leser verstehen, wie
der nach James Joyces Bruder Stanislaus
benannte Buchladen, Anspielungen auf
die deutsche Romantik oder die Chatgrup-
pe „Josef und seine Brüder“. Nötig wären
diese Verkomplizierungen nicht, vieles
bleibt ohnehin etwas zu vage. Die kurzen
Kapitel sind oft skizzenhaft, von skurrilen
Ideen und Beobachtungen getragen. Diese
mäandernde Erzählweise passt aber gut zu
Jugendlichen auf Sinn- und Selbstsuche.
Junge Leser bekommen nebenbei noch ei-
niges beigebracht, nicht nur, dass man
sich besser nicht alleine und ohne jeman-
dem Bescheid zu sagen mit Fremden im
Wald trifft. Was die Digitalisierung be-
trifft, hat der Roman durchaus einen päd-
agogischen Anspruch. Soziale Medien,
künstliche Intelligenz und sogar das Dark-
net werden in die Erzählung eingebettet
und erklärt, ohne zu belehrend zu wirken.
Deshalb wirkt es umso seltsamer, dass
im Verlauf der Handlung zunehmend die
Welten des Fantastischen und des Digita-
len gegeneinander ausgespielt werden, als
seien sie einander unbedingt ausschließen-
de Gegensätze. Denn bietet nicht gerade
der digitale Raum der Fantasie auch in der
grauesten Großstadt ungeahnte Möglich-
keiten? Der Roman versucht diese selbstge-
machte Trennung zu kitten, aber so recht
gelingt es ihm nicht. nicolas freund
Wenn Menschen sich über ihre Smart-
phones unterhalten, dann nicht unbe-
dingt nur darüber, was das Gerät alles Tol-
les kann. Oft geht es dann auch darum,
wie oft man das Ding in der Hand hat (zu
oft), dass man es genießt, wenn man mal
nicht erreichbar ist (in den Bergen neu-
lich), dass man jetzt einen handyfreien
Tag pro Woche plant (Samstag). Erwach-
sene Menschen wirken da oft ein biss-
chen hilflos, denn das Vertrackte ist ja,
dass man Medien nicht einfach benutzt
und fertig. Man muss wissen, wie man
mit ihnen umgeht. Dass Medienkompe-
tenz wichtig ist, womöglich gar entschei-
dend für die Demokratie, darüber sind
sich in Zeiten von Hass im Netz, Fake
News und populistischen Wahlerfolgen
viele einig. Nur: Wie lernt man das? Und
wie praktisch wäre es, wenn wir von An-
fang an einen vernünftigen Umgang mit
Medien gefunden hätten?
Genau das – einen „vernünftigen Um-
gang mit Smartphone, Tablet und Inter-
net“ – verspricht das Heft „Mach deinen
Medienführerschein“ von Thomas Fei-
bel. Es richtet sich an Kinder ab acht Jah-
ren. Und, klar: ihre Eltern, wie der Unterti-
tel verrät (welche junge Leserin, welcher
junge Leser würde sich schon etwas „Ver-
nünftiges“ wünschen?) Die Brücke könn-
te ganz gut gelingen.
Auf 40 Seiten fasst das Buch anschau-
lich Grundwissen zusammen, es geht um
Computer und Tablet , um Hardware und
Software, um E-Mail und Youtube, es gibt
Tipps zum „einfach mal Abschalten“ ge-
nauso wie zu Gaming, sozialen Netzwer-
ken, Online-Shopping und dazu, wie man
vertrauenswürdige Quellen erkennt.
Dann folgt die Prüfung zum Medienfüh-
rerschein. Das klingt nach ein bisschen
viel, ist es auch, allerdings: So vielfältig ist
das Internet nun mal. Voll und bunt ist
auch das Layout, und auch wenn es man-
chen zu überfrachtet sein könnte, macht
es neugierig.
Die Zielgruppe ist absichtlich beson-
ders jung gewählt. Der Gedanke dabei:
dass Kinder sich schon einmal mit all
dem befasst haben, bevor sie selbst ein
Smartphone besitzen, wie der Autor in ei-
nem Interview auf der Verlags-Home-
page selbst sagt. Schön ist, dass die soge-
nannten neuen Medien hier zwar etwas
sind, das bewusst und begrenzt genutzt
wird, aber trotzdem nicht verteufelt wer-
den. Smartphones und das Internet sind
eben in aller erster Linie nützlich – und
sie dürfen auch Spaß machen. Schwierig
wird das Buch nur an den Stellen, an de-
nen es seinen jungen Leserinnen und Le-
sern Internet-Jargon erklären will. Wel-
che Emojis was bedeuten, welche Arten
von Selfies man wie nennt („Belfie“, „Us-
sie“, „Suglie“) – das sind Dinge, die wohl
kaum jemand von Erwachsenen erfahren
will, und die sich vor allem so schnell än-
dern, dass sie im gedruckten Buch fehl
am Platz wirken. Allerdings: Am schöns-
ten wäre es natürlich, wenn Eltern und
Kinder darüber ins Gespräch kommen.
Wie nennst du das, wenn man möglichst
blöd schaut auf einem Foto? Welche Bil-
der findest du o.k., welche nicht? Weitere
Sätze, an die „Mach deinen Medienführer-
schein“ wunderbar anknüpft: „Wieso
guckst du dir das an?“ Und: „Leg doch
mal das Handy weg!“ Ganz egal, ob sie
von Erwachsenen oder von Kindern ge-
sagt werden. elisa britzelmeier
Thomas Feibel: Mach deinen Medienführer-
schein. Vernünftiger Umgang mit Smartphone,
Tablet und Internet. Carlsen Verlag, Hamburg
- 62 Seiten, 6.99 Euro.
DEFGH Nr. 61, Freitag, 13. März 2020 (^) KINDER- UND JUGENDLITERATUR 15
„Es war einmal ein Junge, der hatte es am
Anfang seines Lebens gar nicht leicht. An-
ders gesagt, seine Kindheit hatte ganz schö-
ne Löcher, durch die ein rauer, kalter Wind
blies.“ Heinz Janisch und Maja Kastelic er-
zählen die Lebensgeschichte von Hans
Christian Andersen und lassen staunen –
über Andersens Werdegang ebenso wie
über die Erzählkunst, die Autor und Illus-
tratorin in diesem Bilderbuch unter Be-
weis stellen. Denn hier wird gleich auf meh-
reren Ebenen erzählt, die einerseits ge-
konnt miteinander verwoben, anderer-
seits über die Farbgebung der Bildwelten
doch klar voneinander getrennt sind. Da
ist zunächst die in warmen Brauntönen
und Pastellfarben gestaltete Rahmenhand-
lung, in der Elsa und ihre Mutter mit der
Pferdekutsche nach Kopenhagen reisen.
Dem Mädchen im hellblauen Knisterkleid
sitzt ein älterer Herr in einem dunklen An-
zug mit hellblauer Fliege gegenüber. Die
beiden kommen ins Gespräch, und der
Mann, der sich als H.C. Andersen zu erken-
nen gibt, beginnt zu erzählen: von seiner
Kindheit auf der dänischen Insel Fünen,
von den ärmlichen Verhältnissen, in denen
er aufwächst, seinem Vater, dem Schuster,
der so früh sterben wird, und von der Faszi-
nation der Geschichten, die er abends vor-
gelesen bekommt. „Kein Wunder, dass
Hans später selbst Theaterstücke und Ge-
schichten schreiben sollte. Das Märchen-
buch des Vaters hatte ihm Flügel ge-
schenkt. Hans hat durch die Bücher und
Geschichten fliegen gelernt!“
In ihren Bildern erschafft die Illustrato-
rin Maja Kastelic für die Märchen – die des
Vaters und jene, die Andersen später selbst
schreibt – eine ganz eigene Zauberwelt, die
sich durch kräftig satte Farben deutlich
von der Rahmenhandlung und den sepia-
farbenen Erinnerungen an die Kindheit
und den ruhmreichen Aufstieg zum Schrift-
steller abhebt. Und in der es viel zu entde-
cken gibt: Figuren und Szenen aus den Mär-
chen der Gebrüder Grimm ebenso wie An-
dersens Märchenfiguren, Anspielungen
auf Kinderbuchklassiker oder aber leben-
de Personen. Wer genau hinsieht, kann ne-
ben Pinocchio, Muminpapa und dem klei-
nen Prinzen auch Janisch und Mitarbeiter
des NordSüd Verlags leicht verfremdet in
der Menge vor dem nackten Kaiser entde-
cken. Gerne folgt man der so in Wort und
Bild zum Märchen stilisierten Geschichte
eines Lebens, in der sich Andersen selbst
vom armen Entlein zum bewunderten
Schwan wandelt und am Ende zwar nicht
mit dem fliegenden Koffer, aber immerhin
mit der Kutsche in Richtung Kopenhagen
davonschwebt. (ab 4 Jahre)
marlene zöhrer
Heinz Janisch: Hans Christian Andersen. Die Reise
seines Lebens. Mit Illustrationen von Maja Kastelic.
NordSüd Verlag, Zürich 2020. 56 Seiten, 16 Euro.
Schon wieder hatte ein Mann Zar Chi Win
ineinem vollbesetzten Bus an die Brust ge-
fasst. In Myanmar sind solche Belästigun-
gen alltäglich, doch die meisten Frauen
wehren sich nicht dagegen. Anders Zar Chi
Win: Die 17-Jährige schob den Mann weg,
trat ihm auf den Fuß und zog dann mit fünf
Freundinnen los, um 300 Trillerpfeifen an
Frauen und Mädchen zu verteilen. So wür-
den sie bei Zudringlichkeiten Krach schla-
gen und Aufmerksamkeit erreichen kön-
nen. Die Aktion breitete sich aus und wur-
de zum Erfolg. Mittlerweile hält der bloße
Anblick einer um den Hals hängenden Pfei-
fe Männer davon ab, übergriffig zu wer-
den. Kleiner Aufwand – große Wirkung!
In dem großformatigen, reich bebilder-
ten Band „Wonder Girls – Unsere Reise zu
den mutigsten Mädchen der Welt“ erzäh-
len 90 Mädchen-Aktivistinnen aus drei-
zehn Ländern ihre Geschichten. Sie stellen
Gegebenheiten infrage und rebellieren ge-
gen das, was sie als falsch empfinden. Die
meisten sind zwischen zehn und achtzehn
Jahre alt, sind selbstbewusst, energiegela-
den, kreativ, und arbeiten ebenso planvoll
wie beharrlich an der Verwirklichung ihrer
Träume. Joyce aus Malawi setzt sich für
das Verbot von Kinderehen ein, Hellen aus
Kenia bringt Leuten das Gärtnern im Sack
bei. Ebenfalls in Kenia leitet Brenda ein
Hühnerstallprojekt, um arbeitslosen Ju-
gendlichen eine Perspektive zu geben. Siu
aus dem südpazifischen Inselstaat Tonga
moderiert eine wöchentliche Radiosen-
dung, die auf Kindesmisshandlung auf-
merksam macht.
Beim Lesen wird deutlich: Jede und je-
der kann die Welt ein Stück verbessern, so-
fern der Wille zum Wandel da ist. Um das
gesteckte Ziel zu erreichen, darf man aber
auch nicht darin nachlassen, sein Anliegen
an verschiedenen Orten und auf vielfälti-
gen Plattformen vorzustellen. Und es
braucht Mitstreiter: „In Wahrheit passiert
gar nichts ohne ein Team. Man kann nicht
alles alleine machen“, wie Melati aus Bali
unumwunden feststellt. Im Alter von zwölf
Jahren gründete sie zusammen mit ihrer
zwei Jahre jüngeren Schwester Isabel eine
Gruppe, die die Menschen in dem Inselpa-
radies dazu bringen will, Nein zu Plastiktü-
ten zu sagen. Die Schwestern waren be-
reits im Radio, im Fernsehen, hielten Vor-
träge vor bis zu 1000 Kindern, entwarfen
Flugblätter, T-Shirts, Buttons und Plakate,
traten in den Hungerstreik und konnten
Jane Goodall als Mentorin gewinnen.
Nicht alle der vorgestellten Mädchen rie-
fen eigene Initiativen ins Leben, einige
schlossen sich auch bereits bestehenden
Organisationen an, die gegen Kinderehen,
für Menschenrechte oder soziale Projekte
kämpfen. Gerade in ärmeren Ländern wer-
den Mädchen zurückgesetzt, daran gehin-
dert, Selbstvertrauen auszubilden und ihr
Potenzial zu entfalten. Die Kinder-Aktivis-
tinnen kommen dabei selbst zu Wort. Ihre
Schicksale berühren, und die vielen Foto-
grafien, die übrigens voller Lebensfreude
stecken, veranschaulichen ihren Einsatz.
Denn „Mädchen brauchen andere Mäd-
chen als Vorbilder“, hat Sandy, eine geflüch-
tete Irakerin, erkannt.
Wie gut also, dass nun dieses Buch vor-
liegt, verfasst von der Fotografin und Auto-
rin Paola Gianturco. Unterstützt wurde sie
von ihrer elfjährigen Enkelin Alex Sangs-
ter, die viele der Aktivistinnen interviewte,
entweder persönlich oder via Snapchat,
Skype und Facetime. Der Wunsch und die
Hoffnung der Autorinnen, dass die Lektü-
re Mädchen auf der ganzen Welt ermun-
tert, miteinander in Kontakt zu treten,
könnte so Realität werden.
Ein erster Schritt wäre, die Mitmach-
ideen aus dem Buch aufzugreifen, oder ei-
ne Verbündete zu werden, indem man sich
für die jeweiligen Gruppen einsetzt, zum
Beispiel für „School Girls Unite“ oder „Co-
lorful Girls“ und sie konkret mit Geld, Ener-
gie und Zeit unterstützt. (ab 12 Jahre)
verena hoenig
Paola Gianturco/ Alex Sangster(Text und Fotogra-
fien): Wonder Girls – Unsere Reise zu den mutigs-
ten Mädchen der Welt. Elisabeth Sandmann Ver-
lag, München 2019. 184 Seiten, 29,95 Euro.
Tobias Goldfarb:
Niemandsstadt. Roman.
Thienemann Verlag,
Stuttgart 2020.
368 Seiten,15 Euro.
Der Titel von Sandra Niermeyers Kinder-
buch ist ungefähr so wie der Vorhang der
Umkleidekabine, vor der ihre Hauptfi-
gur Lale am Anfang steht: Er verbirgt et-
was, womit man nicht rechnet. „9 Tage
mit Okapi“ ist die Geschichte überschrie-
ben, die niedlich-harmlose Illustration
auf dem Cover zeigt ein Mädchen mit
Topfpflanze und ein Okapi. Wer deshalb
ausschließlich eine Kind-Tier-Freund-
schaftsgeschichte oder etwas zum The-
ma Klima erwartet, liegt indes falsch. In
„9 Tage mit Okapi“ geht es Niermeyer
um das Thema Mobbing in der Schule.
Und mit Hilfe des Regenwald-Bewoh-
ners gelingt es ihr, die Geschichte leich-
ter und verträglicher zu machen, die
Kurzhalsgiraffe ist quasi ein geschicktes
Ablenkungsmanöver.
Eines Tages steht das Tier nämlich in
einer Umkleidekabine und probiert
Strumpfhosen an. Das allein ist schon
ein recht schräger Umstand. Dass das
Okapi auch noch sprechen kann, wirkt
dann schon natürlich – so schnell lassen
sich die Figuren und mit ihnen die Leser
auf das märchenhafte Element ein. Es ist
die Drittklässlerin Lale, die das Tier in
der Umkleide entdeckt und ihm sofort
behilflich sein will, ebenso wie ihre Mut-
ter. Als wäre es das Selbstverständlich-
ste auf der Welt, nehmen sie das Okapi
mit nach Hause, versorgen es mit Topf-
pflanzen und Selbstgestricktem. Und La-
le lässt sich erzählen, wie es von anderen
Tieren gehänselt wurde wegen seines di-
cken, gestreiften Hinterns: Es hat beim
jährlich ausgetragenen Urwald-Wettbe-
werb gewonnen, in dem das hässlichste
Tier gekürt wird.
Parallel zu den Erlebnissen mit dem
Okapi siedelt Niermeyer die Handlung
in Lales Klasse an. Dort gibt es die beste
Freundin Alina, die geborene Wortführe-
rin, hübsch, reich, talentiert – aber ge-
hässig. Und dort gibt es Nora, die Außen-
seiterin, dicklich und verängstigt. Sie ist
das Mobbing-Opfer der Klasse. Auch La-
le ist nicht unschuldig, wenn es darum
geht, den ein oder anderen fiesen Spruch
loszulassen. Ganz wohl ist ihr dabei je-
doch nicht, erst recht nicht, seit das Oka-
pi bei ihr ist, und sie mit dessen Unglück
vertraut ist. So beginnt Lale schließlich,
ihr Verhalten zu ändern.
Bei „9 Tage mit Okapi“ ist die pädago-
gische Absicht offensichtlich. Niermeyer
hält aber eine gute Balance zwischen ab-
wechslungsreichen Abenteuern und den
Selbstreflexionen der jungen Protagonis-
tin. Da sie in Lale eine sympathische Mit-
läuferin erschaffen hat, die ihre Rolle in
kleinen Schritten abstreifen kann und
möchte, bietet sie den jungen Lesern
eine Identifikationsfigur an. Das ist zwar
spürbar, aber gut gemacht ist es auch.
(ab 8 Jahre) yvonne poppek
Sandra Niermeyer: 9 Tage mit Okapi. Mit Illustra-
tionen von Caroline Opheys. Magellan Verlag,
Bamberg2020. 200 Seiten, 14 Euro.
Matthias Reimer verwendet für seine
Nacherzählung des „Reineke Fuchs“ die
Urfassung, das mittelniederdeutsche
Epos von 1498. Er schafft keine berei-
nigte Fassung für Kinder, sondern
scheut sich nicht, auch die brutalen Aktio-
nen des gerissenen Helden vorzuführen.
500 Jahre später scheint dieses Lehr-
stück über die Verkommenheit der Ge-
sellschaft, die Niedertracht von Adel und
Geistlichkeit, die der begabte Lügner
Fuchs zu seinem eigenen Vorteil aus-
nutzt, an Aktualität nichts verloren zu ha-
ben. Dazu schafft Reinhard Michl ein Bes-
tiarium der feinsten Illustration. Alle Fi-
guren, vom Fuchs über Isegrim, den
Wolf, über König Nobel, den Löwen, und
Grimbart, den Dachs, behalten ihre von
der Natur vorgegebene Gestalt und ver-
körpern doch durch Augen und Mimik
die menschlichen Schwächen. bud
Reineke Fuchs. Nacherzählt von Matthias Reimer.
Mit Illustrationen von Reinhard Michl. Insel-Bü-
cherei, Frankfurt 2019. 91 Seiten, 18 Euro.
Wieso guckst
dudir das an?
Thomas Feibels Führerschein
für die neuen Medien
Wettbewerb
im Urwald
Ein Okapi als
Familienmitglied
FUNDSTÜCK
Durch die Bücher fliegen lernen
Die Geschichte des Hans Christian Andersen erzählt auf einer Kutschfahrt nach Kopenhagen.
Ein Bilderbuch von Heinz Janisch und Maja Kastelic
Illustrationen aus Paola Gianturco, Alex Sangster: Wonder girls
Man kann nicht alles allein machen
Eine Reise zu jungen, mutigen Rebellinnen in aller Welt
Illustration von Reinhard Michl:
Reineke Fuchs
Ein Drache am Fernsehturm
Berlin als fantastische digitale Welt
Illustration aus Heinz Janisch und Maja Kastelic: Hans Christian Andersen. Die Reise seines Lebens