Süddeutsche Zeitung - 13.03.2020

(Elle) #1
Unter freien Menschen, hat Pieke Bier-
mann mal geschrieben, habe Sprache ver-
führerisch viele Spielarten. Sie selbst be-
herrscht besonders viele davon, man
spürt ihren Genuss an Jargons und
Sprachebenen verschiedener Milieus in al-
lem, was sie schreibt. Und es gibt nicht
nur eine Pieke Biermann, es gibt sie als
Schriftstellerin, Krimiautorin, Kritikerin,
als Reporterin, als Aktivistin. Sie betreibt,
sagt sie, einen „gemischten freien Schreib-
warenhandel“ seit 1976, und sie übersetzt
aus dem Englischen und Italienischen.
Den populärsten Preis, den es für litera-
rische Übersetzer ins Deutsche gibt, den
Preis der Leipziger Buchmesse, hat sie
jetzt für ein Buch bekommen, das sie
selbst für den deutschen Markt entdeckt
hat. Es heißt „Oreo“, und als es 1974 zum
ersten Mal erschien, ging es unter: Ein Ro-
man, abgemischt aus kurzen Absätzen,
Tabellen und Schemata, Rechenformeln,
jiddischem Vokabular, intellektuellen
Scherzen und Gossenton war zu schwie-
rig für die Lebenszeit der Autorin Fran
Ross. Die wurde 1935 geboren, wie die
Hauptfigur des Romans als Tochter einer
afroamerikanischen Mutter und eines jü-
dischen Vaters, und starb 1985. Der Ro-
man heißt wie der berühmte amerikani-
sche Keks, aber „Oreo“, außen schwarz, in-
nen weiß, ist im Amerikanischen auch ei-
ne Bezeichnung für Schwarze mit dem
Verhalten eines Weißen. Jedenfalls benö-
tigte dieses verrückte Buch, um verstan-
den zu werden, unsere identitätspolitisch
bewegten Zeiten und eine Übersetzerin
wie Biermann, die die Genauigkeit und
das Selbstbewusstsein aufbringt, sich mit
so einem Text zu messen.
Eine Übersetzerin, die so gezielt mit un-
terschiedlichen Codes hantiert, muss Ma-

terialistin sein. Und das ist sie auch poli-
tisch: „Berufsbild: Herz der Familie“ hieß
die Magisterarbeit der 1950 in Niedersach-
sen geborenen Pieke Biermann und han-
delte von unbezahlter Hausarbeit. Über-
haupt finden sich in ihrer Biografie viele
Themen, an denen die Frauenbewegung
bis heute laboriert. „Von Kindheit an ge-
wohnt, eigenes Geld zu verdienen“, liest
man weiter in einem biografischen Ab-
riss, „Jobs aller Klassen: vom Treppenput-
zen und Geschirrspülen im Krankenhaus
über Briefträgerin bis Verlagslektorin, da-
zwischen Anschaffen in Nachtklubs der
höheren Mittelklasse; dank letzterer Be-

rufserfahrung ein paar Jahre ‚Frontfrau‘
der westdeutschen Hurenbewegung.“
Über Letzteres gibt es ein Buch ausdem
Jahr 1980 von Biermann: „Wir sind Frau-
en wie andere auch! Prostituierte und ihre
Kämpfe“. Besonders ihr Vorwort zur Neu-
auflage von 2014 ist ein irres Kapitel bun-
desrepublikanischer Sittengeschichte.
Und übrigens auch der Frauengeschichte,
denn als die erbittertsten Gegnerinnen
von Pieke Biermann entpuppten sich Ali-
ce Schwarzer und die Feministinnen ei-
ner bestimmten Richtung, die Prostituti-
on bis heute ausschließlich mit Unterdrü-
ckung in Verbindung bringen. Dagegen
haben sich aktivistische Sexarbeiterin-
nen mit dem Prostitutionsgesetz von
2002 zumindest etwas rechtliche Sicher-
heit erkämpft. Biermann selbst ließ die Sa-
che, die durch ihr Buch und ihr persönli-
ches Outing einen Schub bekommen hat-
te, gegen Ende der Achtziger hinter sich,
„die Bewegung war als Plural präsent und
brauchte keine Einzelkämpferin mehr“.
Als Angestellte im Rowohlt-Verlag
hielt sie es nur zwei Jahre aus, bis heute
lebt sie als freie Autorin in Berlin. 1987 er-
schien ihr erster eigener Roman „Potsda-
mer Ableben“, ein Krimi, 1990 las sie beim
Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-
Preis in Klagenfurt aus ihrem zweiten Ro-
man „Violetta“, es folgten weitere Krimis.
In den letzten Jahren übersetzt sie vor
allem, etwa den Zeitungsroman „Die Un-
perfekten“ von Tom Rachmann oder aus
dem Italienischen die Bücher von Andrea
Bajani. Heute, sagt sie, suche sie sich die
Bücher selbst aus, die sie übersetzt, und
verwandle sich ihnen dann vollkommen
an, fresse sich hinein. Wie in Fran Ross’
„Oreo“: „Für dieses Buch würde ich
durchs Feuer gehen.“ marie schmidt

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von hanno charisius

W


äre Deutschland ein Atomkraft-
werk, dann würden gerade ein
paar rote Lichter hektisch in der
Kontrollzentrale blinken. Ein Störfall, die
Kernschmelze droht. Die Betreiberfirma
würde das Kraftwerk abschalten und je-
der fände die Entscheidung richtig.
Deutschland ist kein Kraftwerk, aber
der Störfall ist da: Sars-CoV-2 hat das Po-
tenzial zu töten und den volkswirtschaftli-
chen GAU auszulösen. Deshalb wäre es
richtig, jetzt abzuschalten. Lieber kontrol-
liert für ein paar Wochen in den Pausen-
modus wechseln, als sich vom Virus wei-
ter Richtung Kollaps treiben zu lassen.
Natürlich ist ein Staat komplexer als
ein Kraftwerk und die Folgen einer Ab-
schaltung, eines gesellschaftlichen Shut-
downs, wären katastrophal. Unterneh-
men würden in den Konkurs getrieben,
die Konjunktur würde vollends in den Kel-
ler fahren, die privaten Einschränkungen
wären enorm. Die Wirtschaft zumindest
ließe sich mit Geld vom Staat vielleicht
stabilisieren. Aber was epidemiologisch
passiert, wenn jetzt nicht gehandelt wird,
offenbart ein Blick über die Alpen: Eine
Katastrophe ganz anderen Ausmaßes.
Vor zehn Tagen war die Lage in Italien
etwa so wie zurzeit in Deutschland, zahl-
reiche Fälle, aber das öffentliche Leben
ging kaum eingeschränkt weiter. Inzwi-
schen sind viele Krankenhäuser vollkom-
men überlastet. Ärzte müssen wohl bald
entscheiden, wer noch Hilfe bekommt
und wen sie sterben lassen. Sie können
sich nicht mehr um alle kümmern.
Solche Notlagen zu verhindern, liegt in
der Hand der Politik. Die Bundeskanzle-
rin Angela Merkel sagte am Mittwoch, es
werde „das Notwendige“ getan in
Deutschland. Diese Aussage lässt sich
zwar bald überprüfen. Denn wenn die
Zahl der Neuinfizierten in einigen Tagen
nicht gesunken ist, wissen wir: Es wurde

offensichtlich nicht getan, was notwen-
dig ist. Doch solange sollten wir nicht war-
ten.
Biologische Tatsachen verzögern der-
zeit die Entscheidungsfindung. Die heuti-
ge Zahl der Infizierten spiegelt lediglich
wider, wie das Virus in der vergangenen
Woche um sich gegriffen hat. Wie der Er-
reger derzeit wütet, ob die vereinzelten
Schulschließungen, die angeordneten
und selbst auferlegten Quarantänen, ver-
mehrte Handhygiene und Absagen von
Großveranstaltungen etwas bringen,
wird man frühestens in einigen Tagen an-
hand der Zahl der Neuinfektionen beur-
teilen können. Solange dauert es im Mit-
tel zwischen Infektion und Ausbruch der
Krankheit. Hinzu kommen die Tage bis
zur offiziellen Diagnose.

Zurzeit zumindest steht Deutschland
nicht ganz schlecht da. Damit das so
bleibt und die Zahl der täglich Neuinfizier-
ten wieder deutlich kleiner wird, ist ein
drastisches Vorgehen notwendig. Unter-
nehmen, Schulen, Unis, alle Einrichtun-
gen, in denen sich täglich viele Menschen
begegnen, müssen geschlossen werden,
spätestens sobald dort eine Infektion ent-
deckt wurde. Auch über den öffentlichen
Nahverkehr muss endlich nachgedacht
werden, immerhin die größte tägliche
Massenveranstaltung, die noch nicht ab-
gesagt wurde.
Ein wie leichtes Spiel das Virus hat,
hängt nach wie vor nicht nur von politi-
schen Entscheidungen ab. Jeder und jede
kann selbst Verantwortung übernehmen,
infektionsträchtige Orte meiden, auf Hy-
giene und Abstand zu anderen achten.
Wer sich selbst vor dem Erreger schützt,
kann ihn nicht weitergeben.

von marc beise

A


ls die US-Notenbank, die wichtigste
der Welt, wegen der Corona-Krise
am Monatsanfang überraschend ih-
ren Leitzins senkte, mutmaßten selbst se-
riöse Finanzspezialisten, die Fed müsse et-
was Brisantes wissen, das sie den Bürgern
vorenthalte. Solche Verschwörungstheo-
rien blühen jetzt, sie sind Unsinn und den-
noch nicht wegzukriegen – weshalb Trans-
parenz die erste und wichtigste Aufgabe
auch der Geldpolitik ist. Denn am Geld
hängt das Wirtschaftsleben rund um den
Globus, hängen Wohlstand und Stabilität,
gerade in dieser globalen Krise.
Die neue Präsidentin der Europäischen
Zentralbank (EZB), Christine Lagarde, be-
müht sich in Habitus und Wortwahl sehr
um Offenheit und Transparenz, das ist ein
wohltuender Unterschied zu ihrem Vor-
gänger Mario Draghi und in diesen ver-
rückten Tagen ein Segen. Aber klar war
auch: Die Profis würden die neue Chefin
an den ersten konkreten Entscheidungen
der Notenbank messen. Die Erwartungen
waren hoch, und damit zeichnete sich ab:
Die EZB würde es garantiert niemandem
recht machen können. Die einen forder-
ten weitreichende Maßnahmen, je mehr,
desto besser, die anderen wussten schon
im Vorfeld, dass die EZB sowie nichts wür-
de bewirken könne.
Nun sind die Beschlüsse da, und man
kann sagen: Spektakulär sind sie nicht.
Prompt reagierten die Marktteilnehmer,
die ohnehin in Panik sind angesichts der
Abschottung der Vereinigten Staaten, und
verkauften weiter Aktien wie verrückt.
Aber nicht die Tagesbörsen entscheiden
über die Qualität der Geldpolitik; abge-
rechnet wird in Wochen und Monaten.
Es ist richtig, dass die EZB den Leitzins
nicht weiter gesenkt hat, der ohnehin
schon bei null Prozent liegt. Fragwürdig
ist es, dass sie bis zum Jahresende weitere
120 Milliarden Euro in Anleihenkäufe ste-

cken will. Denn die Währungshüter kön-
nen mit einer lockeren Geldpolitik nur auf
die Nachfrageseite zielen, zum Beispiel
Verbraucher bewegen, mehr einzukaufen
und damit die Produktion anzukurbeln,
was wiederum Jobs sichert. Aber die Wirt-
schaft leidet auf der anderen, der Ange-
botsseite: Unternehmen können nicht
mehr fertigen, weil sie kein Material mehr
bekommen, Dienstleister haben keine
Kunden mehr, Geschäfte müssen ge-
schlossen bleiben. Noch mehr Geld wird
daran nichts ändern.

Wohl aber hilft es, wenn Unternehmen,
die vor dem Ruin stehen, Kredite bekom-
men, um durchzuhalten. Und wenn Ban-
ken, deren Kredite nicht mehr bedient
werden, nicht gleich in eine Schieflage ge-
raten. Entsprechende Gegenmaßnahmen
hat die EZB beschlossen, und das kann hof-
fentlich vor allem kleinen und mittelgro-
ßen Firmen helfen. Vermutlich müssen
die Bilanz- und andere Regeln für Banken
weiter gelockert werden, womöglich brau-
chen sie direkte staatliche Unterstützung.
Gut auch, dass die Bankenaufseher den
für dieses Jahr geplanten Stresstest auf
2021 verschieben. Diesmal kann man
nicht sagen, dass die Banken sich ihre Pro-
bleme selbst eingebrockt hätten.
Anders als die Notenbank hat es die Po-
litik in der Hand, schnell und massiv zu
helfen. Die Koalition hat dazu zu Wochen-
beginn schon einiges beschlossen, Hilfen
bei Kurzarbeit, Liquiditätshilfen. Wirt-
schaftsminister Peter Altmaier (CDU) und
Finanzminister Olaf Scholz (SPD) wollen
am Freitag weitere Maßnahmen für Unter-
nehmen vorstellen, auch aus Brüssel wird
noch einiges kommen. Es muss groß sein,
und es muss schnell gehen.

E


s war eine überfällige Entschei-
dung, die das Bundesamt für
Verfassungsschutz (BfV) getrof-
fen hat. Der sogenannte Flügel
der AfD ist nun ein offizielles Be-
obachtungsobjekt, er gilt als „rechtsextre-
mistische Bestrebung“. V-Leute und Tele-
fonüberwachungen sind erlaubt, um die
Absichten der nationalistisch-völkischen
Truppe um Björn Höcke aufzuklären.
Weit wichtiger noch ist die Botschaft, die
der Staat damit an die Partei und ihre Wäh-
ler sendet: Mindestens die von Mitglie-
dern des Flügels – er hat geschätzt 7000
Mitglieder – propagierten Alternativen
für Deutschland vertragen sich nicht mit
dem Grundgesetz. Man darf eine andere
Politik wollen, aber keinen anderen Staat,
man darf Menschenrechte und Verfas-
sungsgrundsätze nicht missachten. Weite
Teile der AfD kennen diesen Unterschied
in ihrem Furor nicht. Oder wollen ihn
auch gar nicht kennen.


Bereits seit einem Jahr führte der Ver-
fassungsschutz den Flügel (und die Ju-
gendorganisation Junge Alternative) als
sogenannte Verdachtsfälle. Dies war auch
ein Angebot an die AfD, hatte sie doch
stets behauptet, sich von radikalen Kräf-
ten trennen zu wollen. Aber nichts davon
erwies sich als wahr. Der Flügel ist nur
mächtiger geworden. Höcke, den die Par-
tei selbst einmal ausschließen wollte,
steht nun in ihrem Zentrum. Der Flügel
sei „eine ganz wichtige Strömung inner-
halb der Partei“, lobt die Fraktionsvorsit-
zende der AfD im Bundestag, Alice Wei-
del. Mitten im deutschen Parlament gibt
es für viele der AfD-Abgeordneten keine
Grenzen mehr. Er höre Reden, die ihn an
Nazis erinnerten, sagte der sächsische Mi-
nisterpräsident Michael Kretschmer.
Mit der Werbekampagne „Wir sind
Grundgesetz“ wehrt sich die AfD gegen
das Vorgehen des Verfassungsschutzes.
Sie stilisiert sich zum Opfer, und das in ei-
ner Zeit, in der es, wie zuletzt in Hanau,
echte Opfer gibt. Der mutmaßliche Mör-
der des Kasseler Regierungspräsidenten
Walter Lübcke soll für die AfD Plakate ge-
klebt haben. Aber die Partei will nicht se-
hen, welche Verantwortung sie für ein Kli-
ma trägt, in dem Rassisten und Rechtsex-
tremisten glauben, den Volkswillen zu
vollstrecken. Dabei hat sie dieses Klima
mit Reden von Diktatur, Lügenpresse, Wi-


derstand und Systemparteien mit geschaf-
fen. Ja, es gibt in der AfD solche, die versu-
chen, den Einfluss der Höckes zurückzu-
drängen. Die eine konservative, eine rech-
te, aber keine rechtsradikale Partei wol-
len. Aber was machen sie dann noch in der
AfD? Recht allerdings hat die Partei mit
dem Hinweis, dass zahlreiche Gewaltakte
in dieser gefährlichen Atmosphäre inzwi-
schen auch Mitgliedern ihrer Partei gel-
ten. Hass mit Hass zu bekämpfen war
schon immer die schlechteste Idee.
Viele hatten sich nun ein eindeutigeres,
weitreichenderes Signal vom Verfassungs-
schutz erhofft. SPD und Grüne forderten
die Beobachtung der gesamten Partei,
Bayerns Ministerpräsident nennt sie die
„neue NPD“. Allerdings spricht viel dafür,
dass der Verfassungsschutz vernünftig
handelt. Die juristischen Hürden für die
flächendeckende Beobachtung einer Par-
tei sind besonders hoch, bereits jetzt klagt
die AfD vor dem Verwaltungsgericht Köln
gegen die vorherige Einstufung des Flü-
gels als Verdachtsfall, spricht von „stigma-
tisierenden und ehrschädigenden“ Aussa-
gen, die der Partei schadeten. Noch weiß
der Verfassungsschutz also nicht einmal,
ob die Gerichte das Vorgehen gegen den
Flügel für zulässig erklären werden.
Gegen die gesamte Partei vorzugehen
wäre mindestens riskant. Es ist übrigens
gut, dass Gerichte die Entscheidungen
des Verfassungsschutzes überprüfen, an-
ders darf es im Rechtsstaat nicht sein – ge-
rade wenn es um die AfD geht, die ihre An-
hänger überzeugen will, dass die Beobach-
tung des Flügels nicht das unausweichli-
che Ergebnis ständiger Grenzüberschrei-
tungen sei. Sondern dass es sich um ein
Komplott der politischen Gegner handle.
Ein Scheitern des Staates vor Gericht wäre
ein Triumph für die AfD. Ein Erfolg aber
würde hoffentlich mindestens einige Wäh-
ler davon überzeugen, dass Leute wie Hö-
cke eine Schande für dieses Land sind. Es
wäre übrigens auch besser, wenn Politiker
aufhören würden, dem Verfassungs-
schutz ständig zu sagen, was er tun soll.
Früher galt in diesem sensiblen Bereich
eine gewisse Zurückhaltung. Sie war klug
und wäre es auch heute wieder.
Ohnehin ist die jetzige Entscheidung
nicht das Ende aller Überlegungen. Die ge-
samte Partei bleibt weiter als Prüffall ein-
gestuft, auch dies ist eine Phase der Be-
währung. Irgendwann in diesem Jahr
muss sich der Verfassungsschutz entschei-
den, ob er die gesamte Partei schärfer ins
Visier nimmt. Und man darf vermuten,
dass es auch hier für die AfD nicht sonder-
lich gut aussieht.

D


ie Corona-Pandemie wird
nicht nur viele Menschen das
Leben kosten und die Volks-
wirtschaft demolieren, sie
bringt auch ihr politisches
Gift aus, wird über den Bestand von Regie-
rungen und Präsidentschaften entschei-
den und ultimativ über das Vertrauen vie-
ler Menschen in ihre Führungsfiguren.
Gesundheitssysteme, die Arbeitswelt, Bil-
dung, Sport, Musik, Theater – außerhalb
von Kriegszeiten gab es kaum Momente,
wo alle Facetten des Lebens derart syn-
chron und wuchtig der Ungewissheit und
der Angst ausgesetzt waren.
In dieser Notsituation zeigt sich die Grö-
ße einer politischen Führungsfigur an ih-
rer Fähigkeit, die Dimension der Krise zu
erfassen und den richtigen Ton zu setzen.
Dazu gehört das Eingeständnis der eige-
nen Machtlosigkeit. Angela Merkels Bot-
schaft vom Mittwoch war in dieser Hin-
sicht eindeutig: Vieles bleibt für Virologen
wie Politiker ungewiss, die Krise wird fast
alle treffen, wir bemühen uns um Linde-
rung, bereitet euch auf das Schlimmste
vor – und bewahrt Zivilität.


Die Botschaft des US-Präsidenten
zeugt hingegen von einer eklatanten Füh-
rungsschwäche. Er bläst sich auf und sug-
geriert Stärke – wo er doch eigentlich we-
nig zu bieten hat. Das kommt bei Donald
Trump nicht ganz unerwartet, allerdings
ist nun der Moment erreicht, wo dieser
Mann durch seine Ignoranz und die fal-
sche Wortwahl Leben in großer Zahl ris-
kiert – Leben von US-Bürgern.
Trump hat zunächst die Corona-Er-
krankung heruntergespielt (weniger
schlimm als Grippe). Dann vermittelte er
den Eindruck, dass die amerikanischen
Gesundheitsbehörden bestens gewapp-
net seien, obwohl alle Informationen dar-
auf hindeuten, dass die Infektionsdyna-
mik ähnlich wie in Italien oder Spanien
verlaufen könnte, wo zu spät und zu we-
nig getestet wurde. Es fehlen in den USA
Testmaterial und eine Gesundheitsbüro-
kratie, die medizinische Versorgung ist
ungleich und voller Lücken.
Trump will Steuern senken und setzt
die Notenbank unter Druck für eine Zins-
senkung, reduziert die Pandemiebekämp-
fung also auf ein Problem der Wirtschaft.
Und zuletzt beginnt er ein Feindbild zu
schaffen, um die eigene Verantwortung zu


minimieren. Das Virus hat nun eine Fah-
ne: die der Europäischen Union. Darin
liegt sein eigentlicher politischer Sünden-
fall in der Krise.
Wohlgemerkt: Es spricht vieles dafür,
den internationalen Reiseverkehr zu redu-
zieren, um die Verbreitung des Virus zu
verlangsamen. Trump aber suggeriert,
dass er sein Land vor Corona schützen
kann, wenn er Ausländer fernhält. Er defi-
niert nach seinem Willkürempfinden eine
Zielgruppe (Europäische Union, nicht
aber Großbritannien) und versäumt es, im
selben Atemzug zu erklären, wie er Zehn-
tausende noch im Ausland reisende US-
Bürger zu behandeln gedenkt. Amerikas
Wirtschaft reagiert geschockt auf die
Abschottungsfantasien, und die Märkte
bestrafen Trumps Kindergartenlogik mit
einem Absturz.
Vor allem aber suggeriert der Präsi-
dent, dass sich die Infektion fernhalten
lasse, wo sie doch längst in vielen Regio-
nen der USA grassiert. Kommunikation
ist hier der Schlüssel zur bestmöglichen
Pandemiebekämpfung: Ein Virus kennt
keine Grenzen und keine Nationen. Wer
die Pandemie aber als nationales Problem
definiert und Schuldige sucht, steckt so-
fort mitten in einem gefährlichen Spiel
mit Tätern und Opfern, das sich nach Be-
lieben manipulieren lässt.
Trump setzt diesen Ton, er bewegt Ge-
fühle, heizt Emotionen an – für ihn hat der
Wahlkampf begonnen, oder eigentlich:
der politische Überlebenskampf. Denn
würde in den nächsten Wochen gewählt in
den USA, dann spräche vieles gegen seine
Wiederwahl. Die Demokraten haben ei-
nen vernünftigen Kandidaten der Mitte
gefunden, die Angst um Gesundheit und
Arbeitsplätze erfasst ganz Amerika, der
Präsident ist heillos überfordert und
merkt es nicht einmal.
Trump folgt seinen nationalistischen
und xenophoben Impulsen, und er beschä-
digt erneut die Beziehung zu den Staaten
Europas, die er so oft schon dem hausge-
machten Stress ausgesetzt hat. Europa
sollte sich von diesem Spiel mit dem Sün-
denbock nicht anstecken lassen, auch
wenn Länder wie Tschechien der Verlo-
ckung kaum widerstehen können. Der
Kontinent hat weit mehr zu verlieren als ei-
nen Binnenmarkt und den Schengen-
raum. Europa erlebt nun seine schicksal-
hafte Verflochtenheit. Kein Land der Welt
wird sich in dieser Krise mit der Benen-
nung eines Sündenbocks sicherer fühlen
können, kein Corona-Kranker darf durch
politische Schuldzuweisung auf wunder-
same Heilung hoffen.

Die körperliche Begrüßung
und vor allem der Hand-
schlag, darin sind sich An-
thropologen einig, ist ein zu-
tiefst menschliches Bedürf-
nis und wird in Europa mindestens seit
der Antike gepflegt. Denn so eine Annähe-
rung verrät einiges: Reiche man einander
die Hand, zeige das, dass man keine Waf-
fe bei sich trägt und wohl friedvolle Ab-
sichten hat. Menschen erfahren so auch
etwas über den Gemütszustand des ande-
ren. Schwitzt die Hand, ist die Person wo-
möglich nervös. Ist der Händedruck
schwach, kann das Ängstlichkeit oder
Desinteresse anzeigen. Das tief verinner-
lichte Ritual ist meist in Sekunden vollzo-
gen, so schnell, dass man es ständig und
überall macht, ohne groß darüber nachzu-
denken, und damit nicht nur Körpersi-
gnale, sondern auch Erreger weitergibt.
In Asien hingegen ist der Handschlag ver-
pönt, eine leichte Verbeugung aber zollt
Respekt. In arabischen Ländern ist die
„Hand aufs Herz“ gern gesehen, auf das
eigene wohlgemerkt. Für die Gesundheit
ist das von Vorteil. Doch auch dort, ähn-
lich wie in Südeuropa, wird gerne auf
Wangen geküsst, was den Virentausch
wiederum erleichtert. Deshalb kursieren
nun in der Corona-Krise vielfach Alterna-
tivvorschläge im Netz. Auf Twitter zeigt
ein Video Menschen, die sich per Fuß grü-
ßen. Erst rechts, dann links. Klappt pro-
blemlos. Und hebt die Stimmung. clli

4 HF2 MEINUNG Freitag,13. März 2020, Nr. 61 DEFGH


FOTO: ISOLDE OHLBAUM

DEUTSCHLAND UND DAS VIRUS

Abschalten, jetzt


DIE WIRTSCHAFT UND DAS VIRUS

Kredit oder Ruin


Was wäre, wenn? sz-zeichnung: burkhard mohr

AFD


Schande für das Land


von georg mascolo


CORONA-KRISE


Pandemie der Schuld


von stefan kornelius


AKTUELLES LEXIKON


Gruß


PROFIL


Pieke


Biermann


Übersetzerin, die
für manches Buch
durchs Feuer geht

Um die Infektionszahlen
zu senken, braucht es
drastische Maßnahmen

Nach der EZB ist jetzt die
Politik am Zug. Die Firmen
brauchen weitere Unterstützung

Der Verfassungsschutz sendet


ein Signal, das hoffentlich


viele Wähler verstehen


US-Präsident Trump schafft


ein Feindbild, um die eigene


Verantwortung zu minimieren

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