Süddeutsche Zeitung - 13.03.2020

(Elle) #1
V

or dem Obersten Gerichtshof in
New York tritt eine Frau an die Mi-
krofone und verkündet das Straf-
maß gegen Harvey Weinstein. Sie
zeigt ein Blatt Papier, damit es jede und
jeder sehen und nicht nur hören kann:
23 Jahre. Gloria Allred ist die Anwältin von
Miriam Haley und Jessica Mann. Mehr als
hundert Frauen werfen Weinstein sexuelle
Belästigung vor, doch die Fälle dieser bei-
den führten schließlich zur Verurteilung.
Nach der Verkündung eilen die Haupt-
zeuginnen aus dem Gerichtssaal. Sie
kämpfen mit Tränen. Draußen warten
weitere Frauen, unter ihnen Stars wie Sal-
ma Hayek, die Weinstein im Zuge von
„Me Too“ angeklagt hatten. In ihrem ers-
ten Fernsehinterview spricht die ehemali-
ge Produktionsassistentin Miriam Haley
von Dankbarkeit. Dankbar dafür, gehört
worden zu sein. Dankbar für den Glauben,
den die Jury ihren Worten geschenkt hat.
Dieser Fall ist ein Meilenstein, er wird
Juristen in den USA und Deutschland be-
schäftigen. Der ehemalige Hollywoodmo-
gul wurde in nur zwei von fünf Anklage-
punkten schuldig gesprochen, doch das
Strafmaß fällt extrem hart aus. Seine Ver-
teidigung möchte in Berufung gehen, „ob-
szön“ sei das Urteil. Doch das Signal ist in
der Welt: Im Jahr 2020 kann man nicht
mehr „nur“ von geringeren Sexualdelikten
sprechen. Obszön ist, wer es wagt, das zu
tun. Im deutschen Strafrecht hätte Wein-
stein für erzwungenen Oralverkehr zwei
bis vier Jahre Haft erhalten. In den USA be-
wegt sich das Strafmaß dafür zwischen
mindestens fünf und maximal 25 Jahren.
Ich möchte hier nicht die juristische
Debatte beleuchten, sondern das, was
„Me Too“ für die Opfer geleistet hat. Was
können wir in Deutschland daraus lernen?
Die Geschichte von „Me Too“ ist kurz. Ei-
nes Nachts ging der Hashtag um die Welt.
Er wurde zu einer Art digitalen Decamero-
ne, in dem Frauen weltweit ihre Miss-
brauchserfahrungen sammelten. Der Jour-
nalist Ronan Farrow publizierte zur selben
Zeit imNew Yorkerseine Recherchen über
das Weinstein-Missbrauchsimperium.
DieNew York Timesentschloss sich, die
Geschichten der Frauen Fall für Fall zu pu-
blizieren. Durch dieses Schneeballprinzip
setzte ein Paradigmenwechsel ein: Bei der
Bewertung von sexuellem Missbrauch
wurden verstärkt die Stimme der Opfer ge-
hört. Dem Opfer wurde geglaubt. Frauen
solidarisierten sich miteinander. Redaktio-
nen sahen sich in der Pflicht, über die Er-
lebnisse der Opfer zu informieren. Die
Grundlage des Opferschutzes – Empathie



  • wird gestärkt. Begleitet von dem Bemü-
    hen, vor Gericht recht zu erhalten.
    All diese Erfahrungen haben wir in
    Deutschland bislang nicht gemacht. „Me
    Too“ ist hier nur reden, wenig handeln.
    Hier sitzt die Angst zu tief: Medien fürch-


ten, Tätern unrecht zu tun. Das sei Sache
der Justiz. In Deutschland gehen folglich
kaum Opfer an die Öffentlichkeit, als gäbe
es hier keinen sexualisierten Machtmiss-
brauch. Es fehlt einer wie Ronan Farrow,
der sich journalistisch dem Thema wid-
met. Für viele deutsche Journalisten gilt
noch immer, was Weinsteins Verteidige-
rin Donna Rotunno während des Prozes-
ses gegen die Frauen vorbrachte: der Zwei-
fel gegen das Opfer.
Trägt sie in irgendeiner Form Verant-
wortung? Gab es nicht einen Moment, in
dem das Opfer die Tat hätte verhindern
können? Hatte das Opfer gar ein berufli-
ches Eigeninteresse an der Beziehung und
nahm den Missbrauch in Kauf? Als ob ein
irgendwie geartetes Eigeninteresse sexuel-
len Missbrauch rechtfertigt. Nein heißt
Nein. Diese Haltung findet man natürlich
nicht nur in Deutschland. Doch anders als
in den USA hat sich zu ihr keine wirklich
mächtige Gegenhaltung entwickelt.

Man hört immer wieder die Frage: War
es überhaupt eine Straftat, wenn die Frau
mit dem Täter in Beziehung stand? Dabei
ist doch längst bekannt, dass sexueller
Missbrauch oft Missbrauch in nahen Be-
ziehungen ist. Ein Missbrauch der Macht,
die der Mann entweder schon vor der Tat
hat oder mit diesem Delikt herstellen
möchte. Auch der Einwand, dass die miss-
brauchten Frauen von Weinstein profi-
tiert haben, verhöhnt die ökonomische Ab-
hängigkeit vieler, vor allem ärmerer Frau-
en. Im Fall von Weinstein verhöhnt sie
Frauen, die schön und erfolgreich sind.
Als wären das milde Gaben genug, und
Frauen müssten in Kauf nehmen, ihr Ta-
lent nicht unbehelligt verwirklichen zu
dürfen. Intrigen werden ihnen unterstellt,
alles, nur kein Mitgefühl entgegenge-
bracht. Dabei kennt jeder die ungleiche
Machtverteilung der Männerfestung Hol-
lywood. Ein falscher Satz über Weinstein
hätte jede Frau die Karriere gekostet.

Immer noch ist die Ansicht weitverbrei-
tet, dass Frauen für ihre Autonomie einen
besonderen Preis zu entrichten haben. Die-
se Ansicht stützt am Ende jedes kleine und
große Missbrauchssystem. Das Weinstein-
Urteil setzt dagegen ein anderes Signal:
Weibliche Autonomie bedeutet auch, dass
sich Frauen auf dem Weg zu einer Karriere
frei bewegen können müssen: Eine Art Bar-
rierefreiheit, wo das Machtgefälle zwi-
schen den Geschlechtern ausgeprägt ist.
In Deutschland und Europa stehen wir
beinahe ungläubig vor der Kraft, die „Me
Too“ in den USA entfaltet. Hier drohen wir
diese Chance zu versäumen. Bekannt sind
nur drei große deutsche Fälle: Dieter We-
del, wo es juristisch nicht vorangeht, Ex-
WDR-Filmchef Gebhard Henke und Ex-
Musikhochschulpräsident Siegfried Mau-
ser. Danach wurde es ruhig. Man fürchtet
um die Unschuldsvermutung, als wäre
Deutschland der einzige Rechtsstaat. Die
Täterschutzreflexe greifen unterdessen
weiterhin, selbst dann, wenn Täter verur-
teilt wurden, wie zuletzt bei Polanski.
Weinstein ist der erste juristische Er-
folg der noch jungen Bewegung. Sie muss
sich jedoch nicht an juristischen Erfolgen
messen lassen, sondern am Bewusstseins-
wandel in der Öffentlichkeit. Den Geist
von „Me Too“ fand man diese Woche in ei-
nem offenen Brief von Rowohlt-Autoren,
die von „ihrem Verlag“ fordern, Woody Al-
lens Autobiografie nicht zu publizieren.
Sie schreiben: „Wir haben keinen Grund,
an den Aussagen von Woody Allens Toch-
ter Dylan Farrow zu zweifeln.“ So funktio-
niert der Rechtsstaat nicht, rufen die Kriti-
ker empört. Das stimmt. Doch so funktio-
niert „Me Too“. Den Opfern beistehen, die
Täter zur Verantwortung ziehen. In New
York zeigte diese Haltung nun erste Aus-
wirkungen auf den Rechtsstaat. Den muti-
gen Frauen sei gedankt.

Falsche Versprechungen

Jagoda Marinić ist Schrift-
stellerinund Kolumnistin
derSüddeutschen Zeitung.

DEFGH Nr. 61, Freitag, 13. März 2020 (^) MEINUNG 5
Nur Reden
Die harte Strafe gegen Harvey Weinstein zeigt:
In den USA hat die „Me Too“-Bewegung echte Wirkung.
Hierzulande gilt weiter der Zweifel gegen das Opfer
VON JAGODA MARINIĆ
Man fürchtet um die
Unschuldsvermutung, als sei nur
Deutschland ein Rechtsstaat
BILD: ULRIKE STEINKE
STEINKES ANSICHTEN
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