Handelsblatt - 13.03.2020

(backadmin) #1
„Die Lage in Deutschland ist sehr
ernst. Wir tun alles, um unsere
Bevölkerung zu schützen.“
Markus Söder, Bayerns Ministerpräsident, zum Kampf
gegen das Coronavirus

Worte des Tages


Italien


Doppelt


getroffen


W


as hilft schon das Lob
der Weltgesundheits -
organisation für die „ag-
gressiven“ Maßnahmen Italiens, um
das Coronavirus zu bekämpfen?
Oder die Worte „Wir sind alle Italie-
ner“ von EU-Kommissionspräsiden-
tin Ursula von der Leyen? Das tut
den traumatisierten Italienern gut,
doch die meisten Experten sagen,
dass es noch Monate dauern kann,
bis die ersten Erfolge zu sehen sind
und das Land zur Normalität zu-
rückkehrt.
Italien ist doppelt getroffen. Die
höchste und schnellste Verbreitung
von Covid-19 außerhalb Chinas und
eine erschreckende Zahl von Todes-
fällen sind das eine. Wie auch die
sich jetzt schon abzeichnenden
existenzbedrohenden Folgen für
die Wirtschaft. Das andere sind die
Probleme, die die drittgrößte Volks-
wirtschaft im Euro-Raum seit Jah-
ren mit sich schleppt: die rekord -
hohe Staatsverschuldung, die unge-
bremste Ausgabenpolitik, die
Wachstumsschwäche und die Ren-
diteprobleme der Banken.
Alles zusammen ergibt einen toxi-
schen Mix. Denn die Pandemie trifft
das Land zu einem Zeitpunkt, wo
alle Zeichen gerade wieder auf Mi-
nus drehen. Die Rezession wäre
auch ohne die Coronaseuche ge-
kommen. Auch die Nachfolge -
regierung der Populisten ist keine
notwendige Reform angegangen.
In der Finanzbranche dagegen
sah es besser aus. Gute Jahresab-
schlüsse der Großbanken, hohe Di-
videnden, immer weniger notlei-
dende Kredite in den Büchern und
eine momentan durch die Krise ins
Stocken geratene Fusion waren po-
sitive Signale.
Doch jetzt sind alle Gewinne weg
und die Verluste immens. Spätes-
tens die Halbjahreszahlen werden
das Desaster offenbaren. Die Refi-
nanzierung wird zusehens schwieri-
ger, die Liquiditätsengpässe größer.
Die Regierung wird mit ihrem Hilfs-
paket die Banken in die Pflicht neh-
men. Es sieht nicht gut aus. Dieses
Mal sollte Roms Ruf nach Europa
und nach einem Abweichen von
strikten Regeln ernstgenommen
werden – nicht so wie bei der
Flüchtlingskrise.


Allein wird die Finanzbranche den
Coronaschock nicht auffangen
können, meint Regina Krieger. Die
Vergangenheit rächt sich nun.

Die Autorin ist Korrespondentin
in Italien.
Sie erreichen sie unter:
[email protected]


W


ir sind alle Amerikaner.“ Mit die-
ser Schlagzeile drückte die fran-
zösische Zeitung „Le Monde“ ei-
nen Tag nach den Terroranschlä-
gen am 11. September 2001 das
Mitgefühl vieler Menschen mit den USA aus. Heute,
da das Coronavirus offiziell zur Pandemie erklärt
wurde, sind solche Solidaritätsbekundungen rar. „In
diesem Moment sind wir alle Italiener“, hat zumin-
dest EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen
diese Woche betont. Mal abgesehen davon, dass man
sich eine ähnliche Botschaft auch für die Chinesen
gewünscht hätte, sieht die Realität ohnehin anders
aus. Vielerorts gilt: Jeder ist sich selbst der Nächste.
Diesen egoistischen Reflex sieht man nicht nur in
leer gekauften Regalen in den Supermärkten oder
gestohlenen Atemmasken in den Krankenhäusern,
sondern gerade auch in der Abschottungspolitik vie-
ler Regierungen, wie sie jetzt besonders drastisch
durch das Einreiseverbot des US-Präsidenten Donald
Trump für die meisten Europäer zum Ausdruck
kommt. Statt Mitgefühl zu zeigen, spricht Trump
vom „ausländischen Virus“ und gibt den Europäern
für dessen Verbreitung die Schuld. Die chinesische
Führung ist nicht viel besser, weist alle Verantwor-
tung von sich und schürt Verschwörungstheorien,
das Virus könne aus den USA eingeschmuggelt wor-
den sein. „All politics is local“, diese Erkenntnis aus
den 1980er-Jahren von Tip O‘Neill, dem damaligen
Sprecher des US-Repräsentantenhauses, bewahrhei-
tet sich auf dem vorläufigen Höhepunkt der Pande-
mie in besonders bitterer Weise.
Aber es ist ja nicht nur Trump, der in der aktuel-
len „Weltkrise“ (Emmanuel Macron) auf einen im-
mer hilfloser wirkenden Nationalismus setzt. Selbst
in der Europäischen Union gibt es kaum Gemein-
schaft, aber umso mehr nationale Alleingänge. Ob
Testverfahren für das Virus, Einreisebeschränkun-
gen, Schul- und Universitätsschließungen oder die
Absage von Großveranstaltungen – eine gemeinsame
oder zumindest koordinierte Linie ist nicht zu erken-
nen. Dass auch Deutschland sich dem egoistischen
Reflex nicht entziehen kann, zeigt sich zum Beispiel
an dem Verbot, Schutzkleidung auszuführen, das, so
heißt es in Berlin, nur eine Reaktion auf einen ähnli-
chen Exportbann der Franzosen sei. Machten sich
die Nachbarn in den dunkelsten Zeiten des Protek-
tionismus in den 1930er-Jahren gegenseitig zu Bett-
lern (beggar thy neighbour), machen sie sich nun ge-
genseitig krank.
Obwohl das Virus keine Grenzen und Hautfarben
kennt und auch keinen Unterschied zwischen Demo-
kratien und Diktaturen macht, gibt es bislang keine

globale Antwort auf die Pandemie. Das war bei ähnli-
chen Schocks für die Weltwirtschaft noch anders.
Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise im Oktober
2008 lud der damalige US-Präsident George W. Bush
die 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer
nach Washington ein, um, so hieß es damals in der
Einladung, „die Fortschritte bei der Bewältigung der
aktuellen Krise zu überprüfen, ein gemeinsames Ver-
ständnis ihrer Ursachen zu fördern“. Bis heute hat es
die G20 nicht geschafft, einen ähnlichen Krisengipfel
zu organisieren. Auf der G7-Ebene gab es zwar eine
Telefonkonferenz, konkrete Maßnahmen wurden je-
doch nicht beschlossen. Stattdessen suchen Regie-
rungen und Zentralbanken ihr Heil im Alleingang:
Die US-Notenbank ging mit einer kräftigen Zinssen-
kung voran, die Bank of England zog nach, und die
EZB stemmt sich nun mit Notkrediten und zusätzli-
chen Anleihekäufen gegen die drohende Rezession.
Die Geldpolitik hat ihr Pulver aber bereits nach
der Finanzkrise weitgehend verschossen und verfügt
im Kampf gegen den Angstfaktor einer Pandemie
nur über stumpfe Waffen. Die Wirtschafts- und Fis-
kalpolitik der Regierungen könnte den unweigerlich
kommenden Konjunktureinbruch jedoch abfedern,
insbesondere wenn sie international koordiniert
würde. Orientieren sollten sich die Politiker dabei an
dem hippokratischen Eid der Ärzte und alles vermei-
den, was den wirtschaftlichen Schaden noch größer
macht. Die USA und China könnten im beiderseiti-
gen Interesse ihre Strafzölle aussetzen. Der britische
Premierminister Boris Johnson könnte seine Dro-
hung fallen lassen, die wirtschaftlichen Beziehungen
zur EU Ende des Jahres notfalls zu kappen, sollte bis
dahin kein Freihandelsabkommen ausgehandelt
worden sein. Und alle WTO-Mitglieder sollten sich
verpflichten, für die nächsten sechs Monate alle Im-
portzölle, Einfuhrquoten oder Exportverbote für
medizinische Hilfsmittel, Desinfektionslösungen und
Seifen aufzuheben.
Ein solches Zeichen internationaler Solidarität
würde nicht nur die Finanzmärkte beruhigen, son-
dern auch den Spielraum für gezielte Steuersenkun-
gen, staatliche Überbrückungshilfen für notleidende
Firmen und mehr öffentliche Investitionen vergrö-
ßern. Viele der bisher angekündigten Maßnahmen
gehen zwar in die richtige Richtung, werden der Di-
mension der Krise aber nicht gerecht. Vor allem aber
müssen wir das Virus des nationalen Egoismus be-
kämpfen. Denn im Moment sind wir alle Chinesen.

Coronakrise


Im Moment sind


wir alle Chinesen


Den Kampf gegen
die Pandemie können
die nationalen
Regierungen
nur gemeinsam
gewinnen,
meint
Torsten Riecke.

Selbst in der


Europäischen


Union gibt es


kaum Gemein-


schaft, aber


umso mehr


nationale


Alleingänge.


Der Autor ist International Correspondent.
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Meinung

& Analyse

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WOCHENENDE 13./14./15. MÄRZ 2020, NR. 52
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„Für einen solchen
Deutschlandfonds
halte ich eine Größenordnung
von bis zu 100 Milliarden Euro
für notwendig. “
Carsten Linnemann, Unionsfraktionsvize, fordert
einen Fonds, um die Liquidität der von der Krise
betroffenen Unternehmen sicherzustellen.

„Das wäre eine
Rezession im
Zeitraffer.“
Stefan Kooths, Konjunkturchef des
Instituts für Weltwirtschaft, über die
Prognose, dass die deutsche Wirtschaft
nach einem Einbruch im ersten Halbjahr in
der zweiten Jahreshälfte bereits wieder
wachsen könnte

Stimmen weltweit


Die sozialdemokratische schwedische
Tageszeitung „Aftonbladet“ (Stockholm)
kommentiert die Vorwahlen bei den
US-Demokraten:

B


ernie Sanders hat sich gegen das Estab-
lishment seiner eigenen Partei gerichtet
und eine „politische Revolution“ verspro-
chen. Er hat viele progressive Junge, besonders
mit etwas höherer Ausbildung, um sich versam-
melt. Aber die Arbeiterklasse und die afroameri-
kanischen Wähler haben ihn mit Skepsis betrach-
tet. Ex-Vizepräsident Joe Biden ist dagegen ein er-
fahrener und stabiler Kandidat der Parteimitte –
vielleicht ist er der Richtige in einer Zeit der Un-
ruhe wegen Covid-19 und der politischen Polari-
sierung. Aber ihm fehlt vieles von den ideologi-
schen Spitzen, die dafür gesorgt haben, dass sich
so viele Junge bei den Demokraten engagieren.
Das Beste wäre vermutlich, wenn Biden der lin-
ken Demokratin Elizabeth Warren die Kandida-
tur für die Vizepräsidentschaft anbietet und ver-
sucht, beide Parteiflügel einzufangen. Eine Sache
ist nämlich sicher: Wenn die Demokraten zer-
splittert sind, gewinnt Donald Trump die Wahl
im Herbst.

Zu der Coronavirus-Krise und den davon
ausgelösten Hamsterkäufen schreibt die
spanische Zeitung „El Periódico“:

I


n diesen Zeiten ist es zwingend erforderlich,
dass die Bürger die Ruhe bewahren. Es gibt
kein Risiko, dass es zu Versorgungsengpäs-
sen kommt. Und es gibt keinen Grund zur Hyste-
rie. Übertriebene Reaktionen und unsoziales Ver-
halten verschärfen nur die ohnehin kritische Si-
tuation. Die Behörden müssen die Bürger trans-
parent informieren und die öffentlichen Dienste
mit ausreichenden Mitteln ausstatten. Die Men-
schen müssen unterdessen alle Anweisungen der
Gesundheitsbehörden befolgen. Auf dem Spiel
steht die Gesundheit vor allem der schwächsten
Menschen. Aber auch der wirtschaftliche Wohl-
stand. Diese globale Epidemie wird immer mehr
dpa, obs, picture alliance / Kay Nietfeld/zur schlimmen weltweiten Krise.

Fatale Konsequenzen der Coronavirus-Krise
könnten dank der Europäischen Zentralbank
wohl abgewendet werden, schreibt die Wiener
Tageszeitung „Der Standard“:

I


nmitten der vielen frustrierenden Meldun-
gen gibt es aber auch beruhigende Nachrich-
ten. Die Banken sind dank der strengen Vor-
gaben, die nach der Wirtschaftskrise ausgegeben
wurden, heute besser kapitalisiert als vor zehn
Jahren und sollten deutlich widerstandsfähiger
sein. Ein Glück ist, dass der wichtigste Schutz -
mechanismus für die Euro-Zone noch aktiviert
ist: die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zen-
tralbank. Die EZB hat spät, dafür aber umso ag-
gressiver die Zinsen gesenkt. Dadurch kommen
Banken und Unternehmen bis heute extrem
günstig an Kredite. Das wird viele Betriebe, de-
nen über Nacht die Einnahmen weggebrochen
sind, durch die kommenden Wochen und Mona-
te tragen. Würde die EZB die Geldschleusen erst
jetzt öffnen, dauerte es Wochen, bis die Hilfen
ankommen. Das wäre für die Wirtschaft fatal.

E


s war ein starkes Signal, das Chinas Staats- und
Parteichef Xi Jinping über chinesische Staatsme-
dien verbreiten ließ. Demonstrativ besuchte er
am Dienstag die Stadt Wuhan in Zentralchina, die als
Epizentrum des Coronavirus gilt. Seht her, selbst die
am schwersten von dem Krankheitserreger betroffene
Stadt ist nun so sicher, dass der wichtigste Mann des
Landes sie bereisen kann: Das sollte das Signal sein. Am
Donnerstag dann teilte die chinesische Gesundheitsbe-
hörde mit, dass der Höhepunkt der Epidemie in China
überschritten sei.
In der Tat sinkt die Zahl von neu mit dem Krankheits-
erreger angesteckten Menschen. Und in der Tat wirkt
eine solche Meldung in Zeiten, in denen täglich aus
dem Rest der Welt erschreckende Nachrichten kom-
men, beruhigend. Inzwischen haben fast alle chinesi-
schen Provinzen ihre Warnlevel herabgesetzt. Die Stra-
ßen und Restaurants in der Volksrepublik füllen sich
nach wochenlanger Leere langsam wieder mit Men-
schen. Unternehmen nehmen ihren Betrieb wieder auf.
Chinas Zentralregierung braucht die Normalisierung.

Nicht nur weil die Wirtschaft durch den wochenlangen
Ausnahmezustand arg mitgenommen ist. Peking stellt
sich als Retter des Landes dar, als Bezwinger des Virus,
der alles richtig gemacht hat. Das steht in völligem Kon-
trast zu dem Eindruck, den die Bevölkerung gerade am
Anfang der Krise hatte, was zu ungewohnt deutlicher
Kritik an den Verantwortlichen führte.
Für eine Entwarnung ist es ohnehin noch zu früh. Zu
viele Unsicherheiten bestehen. Die Fallzahlen könnten
wieder steigen.
So beginnt China gerade erst damit, die harten Res-
triktionen, die der Bekämpfung des Virus dienen sollten,
zu lockern. Ver- und Gebote, mit denen allein 56 Millio-
nen Menschen in der besonders betroffenen Provinz Hu-
bei gezwungen wurden, wochenlang zu Hause zu blei-
ben, nicht zu reisen, in vielen Fällen sogar nicht einmal
die Wohnung zu verlassen, bestehen weiterhin. Auch
Schulen und Universitäten sind landesweit weiterhin ge-
schlossen. In Peking und anderen Städten trauen sich
viele Menschen immer noch nicht wieder auf die Straße.
Außerdem steigt das Risiko, dass Menschen, die aus dem
Ausland heimkehren, andere anstecken.
Vor allem aber: Es stellt sich die Frage, ob die gemel-
deten Daten zu den Neuinfizierten auch wirklich kor-
rekt sind. Schon zuvor hatte es Zweifel an der Vollstän-
digkeit der Zahlen gegeben. Wenn Chinas lokale Behör-
den von der Zentralregierung so unter Druck gesetzt
werden wie derzeit, neigen sie dazu, die Daten zu mani-
pulieren. Es bleibt also zu hoffen, dass China das
Schlimmste hinter sich hat. Vorsicht ist dennoch weiter-
hin geboten.

Coronavirus


Noch keine Entwarnung


Auch wenn die neuesten
Fallzahlen aus China optimistisch
stimmen – die Krise ist längst
noch nicht überstanden,
argumentiert Dana Heide.

Die Autorin ist Korrespondentin in China.
Sie erreichen sie unter:
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Wirtschaft & Politik
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