Handelsblatt - 13.03.2020

(backadmin) #1
Andrea Cünnen, Anke Rezmer Frankfurt

A


uf den „schwarzen Montag“ folgt ein
noch schwärzerer Donnerstag. Der
durch die Coronakrise ausgelöste Aus-
verkauf an den Märkten verläuft so ra-
sant wie in der Finanzkrise. Der deut-
sche Leitindex Dax brach am Donnerstag um mehr
als zwölf Prozent ein. Erstmals seit vier Jahren no-
tierte er zeitweise wieder vierstellig bei 9 139 Punk-
ten. Am Montag war er bereits fast acht Prozent ein-
gebrochen und verzeichnete damit den größten Ta-
gesverlust seit den Terroranschlägen auf das World
Trade Center am 9. September 2001. An der Wall
Street ist das Bild ähnlich desaströs. Wie schon am
Montag wurde der Handel im S&P 500 am Morgen
für eine Viertelstunde ausgesetzt, weil der Index
um mehr als sieben Prozent fiel. Nach der Unter-
brechung rutschten die Kurse aber noch weiter ab.
Investoren, die ihre Hoffnung auf die Europäi-
sche Zentralbank (EZB) gesetzt hatten, wurden ent-
täuscht. Die Notenbank senkte den Einlagensatz
nicht weiter, sondern ließ ihn bei minus 0,5 Pro-
zent. Die Anleihekäufe erhöht die Notenbank nur
moderat um insgesamt 120 Milliarden Euro bis Jah-
resende. Gleichzeitig bietet sie billige Kredite für
die Banken und lockert moderat die Kapitalanfor-
derungen für die Geldhäuser.
Felix Herrmann, Kapitalmarktstratege beim US-
Fondshaus Blackrock findet die Maßnahmen der
Notenbank nachvollziehbar: „Die EZB hat alte Zöp-
fe abgeschnitten, indem sie sich nicht zur Getriebe-
nen der Märkte macht – die Zeiten von Zinssenkun-
gen in der Euro-Zone sind nun vorbei.“ Die Zentral-
bank sei sich bewusst, dass sie in Zeiten eines
Angebotsschocks wie diesem nicht viel ausrichten
könne. „Mit der Ausweitung des Kreditprogramms
TLTRO und der Ausweitung der Anleiheankäufe
hat die EZB das getan, wozu sie noch imstande
war.“ Weil die Notenbank bereits viel von ihrem
Pulver verschossen hat, findet es Herrmann nur
folgerichtig, dass EZB-Chefin Christine Lagarde
jetzt die Hilfe der EU-Politiker fordert.
Christian Kopf, Anleihechef bei Union Invest-
ment, findet zwar die Entscheidung der EZB, den
Einlagensatz unverändert bei minus 0,5 Prozent zu
lassen, richtig. Dennoch hätte er sich mehr von der
Notenbank gewünscht, zum Beispiel eine mutigere
Erhöhung des Ankaufsprogramms. Kopf ist sich
„nicht sicher, ob die EZB den Ernst der Lage voll-
ständig reflektiert hat“.
Das sahen offenbar viele Investoren an den
Märkten auch so. Die durch die Corona-Pandemie
ausgelöste tiefe Verunsicherung wurde durch den
US-Einreisestopp für Reisende aus der EU noch
verstärkt. Noch schwerer wiegt allerdings die Ent-
täuschung über die wenig konkreten Hilfen für die
US-Wirtschaft, die Präsident Trump kurz zuvor
vollmundig angekündigt hatte. Der bekannte US-
Ökonom Larry Summers ätzte über Twitter, der
US-Präsident habe einen Weltrekord aufgestellt:
Rund 500 Milliarden Dollar an Kapital habe er an
den Aktienmärkten mit einer elfminütigen Rede
vernichtet.

Der Dax im Bärenmarkt
Seit seinem Allzeithoch am 19. Februar hat der Dax
bereits mehr als 4 300 Punkte oder 30 Prozent ver-
loren. Alle wichtigen Aktienmärkte sind in einen
sogenannten Bärenmarkt gerutscht, bewegen sich
also mindestens 20 Prozent unter ihren höchsten
Niveaus. Investoren flohen aus Aktien und suchten
in den vergangenen Tagen Schutz bei sicheren
Staatsanleihen wie amerikanischen Treasuries und
deutschen Bundesanleihen. Die Renditen der
Staatspapiere hatten im Gegenzug zu den steigen-
den Kursen am Montag Allzeittiefs markiert. Zu-
letzt profitierten die Bonds aber nicht mehr vom
Ausverkauf am Aktienmarkt.
Strategen stochern im Nebel. Wegen der kaum
abschätzbaren weiteren Entwicklung der Lage
fürchten sie zumindest kurzfristig weitere Kursver-
luste. „Das Virus und die damit einhergehenden
Präventionsmaßnahmen bleiben in den kommen-

den Wochen ein schwer kalkulierbarer Faktor“,
warnt Stefan Kreuzkamp, Chefstratege bei der
Deutsche-Bank-Fondstochter DWS. Kreuzkamp
fürchtet erhebliche Folgen für das globale Wachs-
tum durch Corona. Johanna Kyrklund, Chefanlage-
strategin beim britischen Vermögensverwalter
Schroders, beschreibt die Stimmung so: „Das Pro-
blem ist die Unsicherheit. Mit schlechten Nachrich-
ten könnten Investoren umgehen, aber die Lage ist
noch viel zu unklar.“ Niemand könne beziffern, wie
schnell sich das Virus verbreite und wie groß der
Schaden am Ende ausfalle.
Viele Strategen gehen davon aus, dass die Märkte
ihre Tiefs noch nicht gesehen haben. Konkret wird
die DZ Bank: Christian Kahler hält es für möglich,
dass der Dax auf 8 000 bis 8 500 Punkte fällt. Er
zieht dafür Muster aus vergangenen Rezessionen

Kein Halten

mehr

Historische Verluste an den Aktienbörsen. Chaos an den


Anleihemärkten – die Coronakrise, das Einreiseverbot in die


USA und die Furcht vor einer tiefen Rezession schocken die


Investoren. Und dann enttäuscht auch noch die EZB.


heran. Dabei geht die DZ Bank davon aus, dass die
Unternehmen im Dax in diesem Jahr zehn bis 20
Prozent weniger verdienen werden als 2019.
Auch technische Analysten zeichnen ein düste-
res Bild: Gregor Bauer, unabhängiger Portfolio -
manager sagt: „Charttechnisch wurde eine Unter-
stützung nach der anderen gebrochen.“ Charttech-
nik spiele für die Investoren derzeit aber genauso
wenig eine Rolle wie die fundamentale Analyse:
„Das ist ein Zeichen für die Panik, ebenso wie das
Phänomen, dass Investoren in ihren Verkäufen
kaum noch nach Branchen oder Unternehmen un-
terscheiden. Es ist noch kein Ende des Ausverkaufs
abzusehen“, warnt er.
Mit Blick auf das gesamte Jahr, wollen die Exper-
ten bislang aber noch kein zu pessimistisches Bild
zeichnen. Die DZ Bank sieht den Dax am Jahres -

Finanzen

& Börsen

WOCHENENDE 13./14./15. MÄRZ 2020, NR. 52
30


Vorerst hat DWS-Stratege Kreuzkamp seine
Wachstumsprognose für die Euro-Zone von 0,6
auf null gesenkt, für die USA von 1,6 auf ein Pro-
zent. Mit Blick auf die Gewinnentwicklung dürfte
das Jahr 2020 „gelaufen sein“, meint er. Eine Er-
holung im zweiten Halbjahr dürfte den Schock im
Frühjahr nicht mehr kompensieren. Für die kom-
menden zwölf Monate erwartet er Gewinnrück-
gänge zwischen fünf bis zehn Prozent. Als „klaren
längerfristigen Malus“ kritisiert Kreuzkamp die
bislang geschnürten Fiskalpakete, die statt in pro-
duktivitätssteigernde Investitionen in erster Linie
darauf ausgerichtet sein dürften, den Konsum zu
fördern.
Auch Charttechniker Bauer rätselt, wie lange die-
ser Abwärtstrend anhält: „Irgendwann wird die
Ausbreitung des Virus abebben. Erst dann wird
sich zeigen, wie die Situation in den Unternehmen
wirklich aussieht.“ Die Analysten dürften dann ihre
Kursziele für die Aktien deutlich senken, meint er.
Doch es könnte sich wie schon so oft in Krisenzei-
ten zeigen, dass Aktien in der allgemeinen Panik
übertrieben stark verkauft wurden. Dann dürfte
der Abwärtstrend in einen Aufwärtstrend drehen –
der ideale Einstiegszeitpunkt für Anleger, wie er
betont. Noch sei jedoch nicht konkret absehbar,
wann die Virus-Panik ausgestanden ist.
Wie groß die Angst der Investoren ist, zeigt sich
nicht nur bei Aktien. Auch am Anleihemarkt ver-
kaufen Investoren offenbar wahllos alles, was ris-
kant erscheint. Dazu gehören besonders italieni-
sche Staatsanleihen und die Anleihen von hochver-
schuldeten Unternehmen.

Problemfall Italien
Italien ist am stärksten von der Corona-Ausbrei-
tung betroffen und hat am späten Mittwoch die
vorläufige Schließung von allen Restaurants und
Geschäften außer Supermärkten und Apotheken
angeordnet. Das und die angekündigten Reise -
beschränkungen der USA für Europäer hat die „Ri-
sikoaversion mit Blick auf italienische Staatsanlei-
hen wieder sprunghaft steigen lassen“, sagt Daniel
Lenz, Zinsstratege bei der DZ Bank.
Die Kurse italienischer Staatsanleihen fielen
deutlich, und im Gegenzug stiegen die Renditen.
Absolut gesehen ist die Rendite zehnjähriger italie-
nischer Staatsanleihen mit 1,7 Prozent zwar noch
nicht besorgniserregend, im Vergleich zu Bundes-
anleihen stieg der Abstand und damit der Risiko-
aufschlag aber auf über 3,1 Prozentpunkte und da-
mit auf den höchsten Stand seit Anfang des Jahres.
Noch viel dramatischer sieht die Lage bei den
Anleihen von Unternehmen mit schlechter Bonität
aus. Besonders gut ablesen lässt sich das am Markt
für Kreditderivate, über den sich Investoren vor ei-
nem Zahlungsausfall absichern können.
In Europa stieg der entsprechende iTraxx Cross -
over-Index in den vergangenen drei Wochen auf
5,9 Prozent und damit den höchsten Stand seit No-
vember 2012, also der Zeit der Euro-Schuldenkrise.
Der Indexstand bedeutet, dass Investoren, die ein
Portfolio mit Anleihen vor einem Zahlungsausfall
absichern wollen, dafür jedes Jahr 5,9 Prozent der
zu versichernden Summe zahlen. Vor drei Wochen
lagen die Absicherungskosten nur bei gut zwei Pro-
zent. In dem Index sind 70 Unternehmen mit
schwächerer Bonität vertreten wie zum Beispiel
Thyssen-Krupp, Tui oder Telecom Italia. Firmen-
bonds sind derzeit laut Händlern kaum noch han-
delbar, lediglich Indizes auf Kreditderivate seien li-
quide. Auch das zeigt den Stress an den Märkten.
Unterm Strich bleibt als größter Belastungsfaktor
für die Kapitalmärkte die weltweite Unsicherheit
der Investoren. Die Einschränkungen in den Aus -
sagen der Bankstrategen spiegeln genau das wider:
„Das Coronavirus kann aber sowohl in Europa und
in den USA noch eine Dynamik entfalten, die in
wenigen Wochen eine erneute Anpassung erfor-
dern kann“, warnt etwa DWS-Experte Kreuzkamp.
Am Ende bleibt das Fazit: Für die Pandemie und
die Präventivmaßnahmen gibt es keine histori-
schen Vorbilder. Deshalb bleibt die Lage an den
Märkten unberechenbar.

Monitore an der
Frankfurter Börse:
Seit seinem Rekord
hat der Dax 30 Pro-
zent verloren.

Bloomberg

ende bei 11 500 Punkten. Das liegt zwar deutlich
unter dem vorherigen Kursziel von 13 200 Punkten,
aber auch deutlich über dem aktuellen Stand.
Das Fondshaus DWS hat seine Dax-Prognose per
Jahresende noch weniger, von 14 000 auf 13 000
Punkte, gesenkt. Doch den Prognosen liegt die op-
timistische Annahme zugrunde, dass die Zahl der
Neuansteckungen sowohl in Europa als auch in
den USA im zweiten Quartal den Höhepunkt über-
schritten hat und die Pandemie Wirtschaft und
Märkte in einem Jahr kaum noch tangieren dürfte.
Außerdem unterstellt dieses Szenario, dass es zu
keiner zweiten großen Ansteckungswelle in Asien
kommt. Die DZ Bank geht in ihrem Kernszenario
ebenfalls davon aus, dass die Folgen des Corona -
virus aus wirtschaftlicher Sicht nur einen temporä-
ren Angebots- und Nachfrageschock auslösen.

9 230 Pkt.

19.2.2020 12.3.

14 400

13 000

11 600

10 200

8 800

2 527 Pkt.

19.2.2020 12.3.

3 500

3 250

3 000

2 750

2 500

Ausverkauf an den Märkten
Deutscher Aktienindex
in Punkten

S&P 500
Aktienindex in Punkten

HANDELSBLATT Quelle: Bloomberg




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