Handelsblatt - 13.03.2020

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cherten Wertpapieren (MBS). Allerdings sind der
Fed hier Grenzen gesetzt, sie darf derzeit keine
Unternehmensanleihen oder Aktien kaufen.






Die Politik


wird aktiv


Am Dienstagnachmittag brach Angela Merkel ihr
Schweigen – allerdings zunächst nur hinter ver-
schlossenen Türen. Im Raum der Unionsfraktion,
auf der vierten Ebene im Reichstagsgebäude, schil-
derte die Bundeskanzlerin ihre Einschätzung zur
Coronakrise. Die Lage sei ernst, sagte Merkel nach
Teilnehmerangaben. 60 bis 70 Prozent der Bevöl-
kerung könnten sich mit dem Virus infizieren. Und
auch die wirtschaftlichen Auswirkungen seien ge-
waltig.
Die Kanzlerin berichtete vom Hotel Interconti,
das keine Übernachtungen mehr bekomme. Auch
für Messen und Veranstalter sei die Lage schwierig.
Und andere Unternehmen würden leiden, weil ihre
Lieferketten unterbrochen seien. Ein Konjunktur-
programm brauche man aber nicht, sondern Kurz-
arbeit und Liquiditätshilfen.
Einen Tag später ging Merkel dann an die Öf-
fentlichkeit. Für Freitag ist im Kanzleramt ein Tref-
fen mit der deutschen Wirtschaft geplant. SPD-Fi-
nanzminister Olaf Scholz und CDU-Wirtschaftsmi-
nister Peter Altmaier wollen Vorschläge vorlegen,
wie Unternehmen mit Liquiditätshilfen vor Insol-
venzen geschützt werden können. An entspre-
chenden möglichen Maßnahmen wird schon län-
ger gearbeitet. Sowohl im Finanz- wie Wirtschafts-
ministerium stellt man einen
„Notfall-Werkzeugkasten“ zusammen, wie es in Re-
gierungskreisen heißt. Je nach Verlauf der Krise
will man sich daraus bedienen.
Allerdings wächst die Kritik, die Bundesregie-
rung gehe zu zögerlich vor. So stellten sieben füh-
rende deutsche Ökonomen am Mittwoch einen
Notfallplan vor. Der sieht unter anderem den Ver-
zicht auf einen ausgeglichenen Haushalt vor, um
genügen finanziellen Spielraum zu haben, eine
Wirtschaftskrise einzudämmen. Die Experten for-
dern unter anderem Steuerstundungen und vorü-
bergehende Steuersenkungen. Im Notfall halten
sie auch einen Rettungsfonds für denkbar, mit
dem sich der Staat an Unternehmen beteiligen
könnte – ähnlich wie einst bei der Finanzkrise an
Banken.
Zwar lobt der Bundesverband der Deutschen In-
dustrie (BDI) die wirtschaftspolitischen Maßnah-
men der Bundesregierung, schränkt aber ein, „die


nun angekündigten zusätzlichen Investitionen von
12,4 Milliarden Euro für drei Jahre können nur der
Beginn sein“. Neben kurzfristigen Liquiditäts- und
Kredithilfen auch für größere mittelständische Un-
ternehmen fordert der BDI in seinem Brief bereits
eine ganze Reihe von steuerpolitischen Maßnah-
men ein. „Der deutschen Industrie droht die
längste Rezession seit der Wiedervereinigung. Die
Industrieproduktion ging bereits das sechste Quar-
tal in Folge zurück“, heißt es in einem Brandbrief
an die Abgeordneten des Deutschen Bundestags.
Der Brief liegt dem Handelsblatt vor.
So soll die Bundesregierung fällige Steuerzah-
lungen zinsfrei stunden, insbesondere Vorauszah-
lungen von Einkommen-, Körperschaft- und Ge-

Corona und die Finanzmärkte


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WOCHENENDE 13./14./15. MÄRZ 2020, NR. 52
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werbesteuer. Außerdem plädiert der BDI für eine
Lockerung der Bedingungen der Hermes-Bürg-
schaften und für das KfW-Programm.
In der Bundesregierung, so glauben inzwischen
auch viele Bundestagsabgeordnete, hat man den
Weckruf nicht gehört. „Uns wird es härter treffen
als in der Finanzkrise 2008/2009. Die Rezession
wird tiefer ausfallen“, sagt etwa CDU-Politiker
Carsten Linnemann. Dessen Aussagen sind durch-
aus beachtenswert. Er ist Chef des Wirtschaftsflü-
gels der Union, seine Aussagen beruhen auf den
Rückmeldungen, die er von seinen Mitgliedsunter-
nehmen bekommt. Und deren Einschätzung sei
glasklar. „Die Lage ist dramatisch“, so Linnemann.
Die Immer-mit-der-Ruhe-Politik trifft auch bei
der Opposition auf Unverständnis. Grünen-Frakti-
onschef Anton Hofreiter fordert von der Bundesre-
gierung ein konsequenteres Vorgehen. Erforder-
lich seien „schnelle Liquiditätshilfen, um die Zah-
lungsfähigkeit von Betrieben aufrechtzuerhalten“,
sagte Hofreiter dem Handelsblatt. „Dazu gehören
generelle Steuerstundungen, die Herabsetzung
der Steuervorauszahlung und der Verzicht auf
Stundungszinsen.“
Die Grünen-Abgeordnete Claudia Müller, zu-
gleich Mittelstandsbeirätin des Wirtschaftsministe-
riums, appelliert in einem Brief an Altmaier, zu-
sätzliche Hilfsmaßnahmen zu beschließen. Sie for-
dert die „Stundung von Steuerzahlungen und
Sozialbeiträgen“ für kleine und mittlere Unterneh-
men. Zudem müssten die Liquiditätshilfen, die die
Bundesregierung der Wirtschaft über die Kreditan-
stalt für Wiederaufbau (KfW) zur Verfügung stellt,
verbessert werden. Gleichzeitig sollte die Übernah-
me des Ausfallrisikos „deutlich heraufgesetzt wer-
den“, auf bis zu 90 Prozent schlägt Müller vor. Da-
rüber hinaus fordert sie einen Corona-Nothilfe-
Fonds. Insbesondere kleine Unternehmen könnten
so „schnell und unbürokratisch Hilfen“ erhalten.
Nicht nur in Deutschland wachte die Politik erst
spät auf. Auch in den USA dauerte es seine Zeit.
Am vergangenen Mittwoch traf sich Trump mit
den Chefs der amerikanischen Großbanken im
Weißen Haus. Am Abend, erneut waren die Bör-
sen eingebrochen, wandte sich Trump in einer
Fernsehansprache an seine Landsleute. Er saß am
schweren Schreibtisch im Oval Office, dem „reso-
lute desk“, an dem US-Präsidenten so oft sitzen,
wenn sie die Amerikaner auf Krisen oder Kriege
einstimmen wollen.
Trump sprach von einem „ausländischen Vi-
rus“. Abschottung soll Amerika jetzt retten. „Die
EU hat es versäumt, die gleichen Vorsichtsmaß-
nahmen wie die USA zu treffen und Reisen aus
China und anderen Krisenherden einzuschrän-
ken“, kritisierte Trump. In seiner

Jerome Powell:
Der Fed-Chef senkte
die Zinsen schnell.

REUTERS

Christine Lagarde:
Die EZB-Chefin
packt die Krise an.

UPI/laif

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USA und China: Verschuldung auf Rekordniveau

HANDELSBLATT Quelle: Institut of International Finance

Gesamtverschuldung der Industrie- und Schwellenländer
in Bill. US-Dollar

2002 2006 2010 2014 2019

250

200

150

100

50

0

Schwellenländer
(ohne China)
China

USA

Industrieländer
(ohne USA)

China: Schulden nach Sektoren
in Prozent des Bruttoinlandsprodukts

1997 2019

320

240

160

80

0

Finanzsektor

Staat
Private
Haushalte

Unternehmen

Jeweils zum 1. Quartal

Jeweils zum 2. Quartal

Corona und die Finanzmärkte


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WOCHENENDE 13./14./15. MÄRZ 2020, NR. 52
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Kurstafeln in der Berliner Börse 1929: Der Börsenein-
bruch in den USA erfasste auch Europa.

Gamma-Keystone/Getty Images


  1. Oktober 1987: Die Zeitungen berichteten auf Seite 1 über den
    Crash – den bis heute stärksten Tagesverlust.


Hulton Archive/Getty Images

Der schnellste Crash aller Zeiten


Nie zuvor fiel der Dax so rasch so rasant. Der Vergleich mit älteren Krisen mahnt zur Vorsicht.


Börsenkrise


M


it einem Verlust von 32 Prozent in
knapp drei Wochen erlebt der Dax
das schwärzeste Börsenkapitel in sei-
ner 33-jährigen Geschichte. Nie zu-
vor stürzte er in so kurzer Zeit so stark ab. Jeder
Crash ist anders, doch bestimmte Mechanismen
wiederholen sich. Sie zu vergleichen lohnt sich,
auch um Signale für ein mögliches Ende der Tal-
fahrt zu erkennen. Zwei Trends lassen sich aus-
machen: Oft dauerte es nach Beginn eines Crashs
nur wenige Wochen, bis die Kurse wieder ihr Ur-
sprungsniveau erreicht hatten. Das macht Hoff-
nung für 2020. Aber nur auf den ersten Blick.
Denn viele andere Börsenabschwünge weiteten
sich nach einem ersten Crash zu einem langen
und nervenzehrenden Abschwung aus. Dieser
fiel stets umso stärker und länger aus, je höher
die Aktien vor Beginn eines Crashs bewertet wa-
ren. Daran gemessen sieht es diesmal nicht gut
aus mit einer baldigen Erholung.
Am häufigsten wird der aktuelle Börsenein-
bruch mit dem von der Lungenkrankheit Sars
hervorgerufenen Crash vor 17 Jahren verglichen.
Damals verlor der Dax zwischen seinem Hoch
und Tief 33 Prozent. Also in etwa so viel wie bis-
lang. Allerdings taugt der Vergleich kaum: Weit
mehr als Sars strapazierte damals der drohende
Golfkrieg mit der Truppenintervention der Ame-
rikaner die Nerven der Anleger. Die Erholung ab
März 2003 folgte prompt und nachhaltig, als sich
ein rascher Sieg der Amerikaner und der verbün-
deten Staaten abzeichnete. Sars geriet in den
Hintergrund. Obendrein waren Aktien bei Aus-
bruch der Sars-Epidemie Ende 2002 sehr niedrig
bewertet, weil die Kurse bereits mehr als einein-
halb Jahre tief gefallen waren.
Computercrash 1987: Ein fallender Dollar-
Kurs, das steigende Handelsbilanzdefizit der
USA, die angespannte Lage im Nahen Osten und
höhere Ölpreise lösten am 19. Oktober 1987 den
„Schwarzen Montag“ aus: Der Dow-Jones-Index
verlor 22,6 Prozent. Der gerade ins Leben gerufe-
ne Dax brach um ein Viertel ein. Ursache des
größten Tagesverlusts aller Zeiten waren nicht
ausgereifte computergesteuerte Verkaufspro-
gramme. Erst 1989 erreichten die Kurse wieder
ihr Vorkrisenniveau. Grund für die lange Zeit aus-
bleibende Erholung waren überteuerte Aktien:
Gemessen an den Unternehmensgewinnen und
dem bilanzierten Eigenkapital waren die Gesell-
schaften – und heruntergerechnet ihre Anteils-
scheine – doppelt so hoch bewertet wie im lang-
jährigen Durchschnitt. Das machte die Börsen
anfällig für den Crash und den sich anschließen-
den „Bärenmarkt“. Davon sprechen Börsianer,
wenn die Indizes um mehr als 20 Prozent gegen-
über ihrem Hoch verlieren.
Golfkrieg 1990: Aktien waren moderat bewer-
tet, als nur ein Jahr später Iraks Diktator Saddam
Hussein am 17. Juli 1990 seine Truppen in Rich-
tung Kuwait schickte. Zunächst reagierten die Bör-
sen gar nicht. Der Dax erreichte mit 1 966 Punkten
sogar ein Allzeithoch. Anleger setzten auf ein Ein-
lenken des Diktators und das diplomatische Ge-
schick der USA und ihrer Verbündeten. Doch es
kam anders. Die Iraker überrannten das kleine
Emirat, der Krieg am Golf weitete sich zu einer in-
ternationalen Krise aus, die irakischen Ölexporte
kamen zum Erliegen, und die USA bereiteten mit
ihren Verbündeten die Operation „Wüstensturm“
vor. Während dieser Unsicherheit verlor der Dax
im Herbst 1990 ein Drittel seines Werts – erholte
sich aber 1991 sofort wieder, als sich ein rasches
Ende des Kriegs abzeichnete. Die Voraussetzun-
gen für die nachhaltig positive Börsenentwicklung
schufen das Ende der Sowjetunion samt kommu-
nistischer Marktwirtschaft und die Euphorie um
neue Absatzmärkte in Osteuropa.
Asien- und LTCM-Krise 1997/98: Kräftig ge-
stiegen waren die Aktienkurse vor Ausbruch der
nächsten beiden Krisen – allerdings in Einklang
mit den seit Jahren rasant wachsenden Unterneh-
mensgewinnen. Der Fall des Eisernen Vorhangs
in Europa und die Öffnung Chinas eröffneten

den westlichen Konzernen neue Ertragsperspekti-
ven. Als die „Tigerstaaten“ Südkorea, Thailand,
Indonesien, Malaysia, die Philippinen und Hong-
kong nach maßlosen Investitionen ausländischer
Kapitalgeber und starkem Wachstum in eine Re-
zession fielen, reagierten internationale Investo-
ren mit dem Abzug ihres Kapitals. Die Landes-
währungen stürzten ab, der Dax brach im Früh-
herbst 1997 um gut 40 Prozent ein. Weil die USA
ihr Wachstum aber weiter steigerten, beendeten
die Börsen ihre Talfahrt und setzten ihre „Jahr-
hundert-Hausse“ fort.
Diese wurde nur ein Jahr später durch die
LTCM-Krise ein zweites Mal unterbrochen. Der
milliardenschwere Fonds „Long Term Capital
Management“ und seine mit dem Nobelpreis für
Wirtschaftswissenschaften dekorierten Direkto-
ren finanzierten ihre Investments fast ausschließ-
lich mit Fremdkapital. Weil sich, anders als spe-
kuliert, die Zinsdifferenzen in verschiedenen
Ländern ausweiteten und die LTCM-Manager mit
großen Hebeln arbeiteten, geriet der Fonds in ei-
ne milliardenschwere Schieflage. Marktteilneh-
mer fürchteten den Zusammenbruch des interna-
tionalen Finanzsystems. Im Herbst 1998 verlor
der Dax fast die Hälfte.
Börsenboom 2000 und 1929: Die Notenban-
ken reagierten auf die LTCM-Krise. Sie retteten
den Fonds und senkten die Leitzinsen. Das war
der Startschuss für die Fortsetzung und das Fina-
le der größten Hausse: des Booms um Internetak-
tien. In immer kürzeren Zeiträumen verdoppel-
ten sich die Kurse. Wie im Boom 1929 wurden
auch diesmal eigens Modelle entwickelt, um die
neue Börsenwelt zu rechtfertigen. Unternehmen
wurden nicht an Gewinnen, sondern an mögli-
chen Umsätzen gemessen. „Der Konjunkturzy-
klus ist tot. Es lebe die neue Ära grenzenlosen
Wachstums“ war ein Slogan von 1929, der 1999
wörtlich wiederkehrte. Der Traum vom grenzen-
losen Reichtum platzte 1929 und im Jahr 2000,
weil sich immer höhere Erwartungen an die Un-
ternehmen nicht erfüllten und weniger Anleger-
geld die Börsen erreichte. Den Crashs von 1929
und 2000 folgte keine rasche Erholung. Beide
Male waren Aktien extrem überbewertet. Gemes-
sen am Eigenkapital und an den Konzerngewin-
nen waren die Dax-Konzerne und ihre Aktien im
Jahr 2000 dreimal so teuer, wie es dem langfristi-
gen Durchschnitt entsprach. 1929 waren die
Überbewertungen an der Wall Street noch höher.
Immer neue Krisen inmitten des Börsenab-
schwungs – der 11. September 2001, Bilanzfäl-
schungen großer US-Konzerne wie Enron und
Worldcom und der Irak-Krieg – schwächten die
Wirtschaft, untergruben das Vertrauen in die
Börse und mündeten im „irrationalen Ab-
schwung“: dem Spiegelbild zum vorangegange-
nen und von Nobelpreisträger Robert Shiller so
bezeichneten „irrationalen Aufschwung“. In drei
Jahren verlor der Dax 75 Prozent, der Neue
Markt mit den Technologieaktien 98 Prozent.
Finanzkrise 2008: Fast so rasant wie im aktuel-
len Abschwung fielen die Kurse in der Finanzkri-
se 2008. Weil viele Unternehmen angesichts der
Pleite der amerikanischen Großbank Lehman in
eine Schockstarre verfielen, dabei Investitionen
verschoben und Aufträge stornierten, stürzte die
globale Wirtschaft ab. Ähnliches fürchten Anleger
angesichts verhängter Reisebeschränkungen, Ein-
reiseverbote, abgesagter Messen und Veranstal-
tungen, leerer Stadien und Cafés, gestörter Liefer-
ketten und stillgelegter Produktionsstätten auch
diesmal. Und noch etwas gleicht sich: Vor Aus-
bruch der Finanz- und der Coronakrise 2008 und
2020 waren die Aktienkurse jahrelang stärker ge-
stiegen, als die Unternehmen es schafften, ihre
Gewinne zu erhöhen. Setzen sich die Parallelen
zwischen diesen beiden Krisen fort, dann droht
den Börsen noch ein weiter Weg nach unten.
Bis März 2009 verlor der Dax gegenüber sei-
nem vorangegangenen Hoch 58 Prozent. Daran
gemessen ist bislang erst die Hälfte erreicht.
Ulf Sommer

Börsencrashs in Krisenzeiten


  1. Golfkrieg: Dax-Entwicklung in Punkten


HANDELSBLATT Quellen: Bloomberg, Thomson Reuters

1 572 Pkt.

1 933 Pkt.

Tief am 16.1.1991: 1 323 Pkt.

26.7.1990 12.3.1991

2 000

1 750

1 500

1 250

1 000

Sars-Epidemie: Dax-Entwicklung in Punkten

3 868 Pkt.

3 042 Pkt.

Tief am 12.3.2003: 2 203 Pkt.

11.11.2002 26.5.2004

5 000

4 000

3 000

2 000
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