Die Zeit - 30.01.2020

(Tina Sui) #1
Alfred Bauer holt die amerikanische Schauspielerin Shirley MacLaine 1971 am Tempelhofer Flughafen ab

Fotos: picture alliance/Sammlung Richter; Andre Rival (r.)


»Ein eifriger SA-Mann«


Alfred Bauer war nach dem Zweiten Weltkrieg der erste Direktor der Berlinale. 25 Jahre lang leitete er das Festival, das einen nach ihm
benannten Preis vergibt. Was bis heute unbekannt ist: Seine hochrangige Position in der NS-Filmbürokratie VON KATJA NICODEMUS

A


nfang Januar dieses Jahres er-
reicht das Feuilleton der ZEIT
eine E-Mail. Sie betrifft einen
prägenden Kulturmenschen der
jungen Bundesrepublik: den
ersten Direktor der Berlinale,
Dr. Alfred Bauer, der das Festi-
val von 1951 bis 1976 leitete. Nach dem Zweiten
Weltkrieg machte Bauer die Berlinale als »Schau-
fenster der freien Welt« zu einem der wichtigsten
internationalen Filmfestivals. Schon in den ers-
ten Jahren holte er Stars wie Sophia Loren, Burt
Lancaster und Gina Lollobrigida nach Berlin
und prägte den kulturellen Neuanfang der ge-
teilten Stadt.
In der Mail versammelt der Absender, ein Herr
Ulrich Hähnel, Belege für die nationalsozialis-
tische Verstrickung Bauers. An zentraler bürokra-
tischer Stelle soll er die Filmpolitik der Nazis
mitgetragen haben. Laut der auf etwa sieben
DIN-A4-Seiten zusammengefassten Recherche
hat Bauer, SA- und NSDAP-Mitglied, in der von
Joseph Goebbels 1942 eingerichteten Reichsfilm-
intendanz, dem Steuerungsorgan der national-
sozialistischen Filmpolitik, einen hochrangigen
Posten bekleidet.
Bis heute ehrt die Berlinale Bauer durch einen
ihrer wichtigsten Preise: Nach seinem Tod im Jah-
re 1986 wurde der Silberne Bär für neue Perspek-
tiven in der Filmkunst nach ihm benannt. Mit
dem Alfred-Bauer-Preis ausgezeichnet wurden
unter anderem Zhang Yimou, Andrzej Wajda,
Andres Veiel, Agnieszka Holland, Alain Resnais.
Im vergangenen Jahr ging der Alfred-Bauer-Preis
an die Regisseurin Nora Fingscheidt, deren Film
Systemsprenger über ein verhaltensauffälliges Mäd-
chen zum Publikumserfolg wurde.
Wer ist Ulrich Hähnel, der Absender der E-Mail?
Bei einem ersten Telefonat stellt er sich als an der
Humboldt-Universität promovierter Diplom-Be-
triebswirt vor. Ab 1979 bis zu seiner Übersiedlung
nach West-Berlin im Juni 1988 habe er in der DDR
politisch bedingtes Berufsverbot gehabt. Seine Lei-
denschaft für Filmwissenschaft habe sich durch per-
sönliche Verbindungen zu Filmschaffenden der
Dreißiger- und Vierzigerjahre entwickelt. Während
einer Recherche für Verwandte des Regisseurs Erich
Engel, der mit dem Schauspieler Emil Jannings des-
sen letzten Film drehte, sei er zunächst auf inhaltliche
Fehler in Alfred Bauers Buch Deutscher Spielfilm-
Almanach gestoßen. Dann auf dessen Funktion in
der NS-Zeit. Und so habe er sich in die Akten vertieft.

Ulrich Hähnel schickt mehrere Mails mit kopier-
ten Dokumenten aus dem Bundesarchiv. Schon bei
flüchtiger Sichtung fällt ein Schreiben vom 27. Mai
1942 ins Auge. Offenbar hat es die Reichsfilminten-
danz wegen Bauers Anstellung als Gesinnungszeug-
nis angefordert. Aktenzeichen BAB, R 9361-
II/47386, Briefkopf: Gauleitung Mainfranken,
Kreisleitung Würzburg, Ortsgruppe Würzburg-Süd.
Betreff: Gutachten über den Pg. Dr. Alfred Bauer,
Würzburg, Ludwigkai 28, geb. 18. 11. 1911 (...).
Darin heißt es unter anderem: »Die Familienverhält-
nisse des Angefragten sind in Ordnung. Er ist ein
bescheidener anspruchsloser Mensch, das sittliche
und moralische Verhalten war einwandfrei. Dr. Bau-
er war vor seiner Einberufung ein eifriger SA-Mann.
Der Besuch der Versammlungen war stets ein guter.
Seine politische Einstellung ist einwandfrei, und [es]
wird auch weiterhin von ihm sein voller Einsatz für
Staat und Bewegung erwartet. Heil Hitler!«
In der Betreffzeile wird Bauer zudem als Mitglied
folgender Organisationen ausgewiesen: NSDAP, SA,
Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund.
Nationalsozialistischer Rechtswahrerbund, National-
sozialistische Volkswohlfahrt.

Drei Jahre, von 1942 bis Kriegsende, war
Bauer Referent der Reichsfilmintendanz

Wenige Tage nach dem ersten Telefonat treffen wir
Ulrich Hähnel in einem Berliner Café. Er ist ein ver-
schmitzt wirkender Mann um die siebzig. Sein Wis-
sen über die Filmproduktion des Nationalsozialismus,
das wird in diesem und weiteren Gesprächen klar, ist
umfassend und geradezu furchterregend detailliert.
Dennoch ist er kein Filmwissenschaftler, kein Jour-
nalist, kein Autor. »Es muss ja auch Menschen geben,
die in keine Kategorien passen«, sagt Hähnel. Er sei
schockiert gewesen, als ihm klar geworden sei, welche
Rolle Bauer im »Dritten Reich« gespielt habe. Und
welche Rolle er für die Berlinale auch durch die Preis-
verleihung immer noch spiele. Später wird Hähnel
es ablehnen, für diese Geschichte fotografiert zu
werden. Überhaupt möchte er im Hintergrund blei-
ben. »Ich will einfach nur, dass das rauskommt.«
Gemeinsam gehen wir die Dokumente aus dem
Bundesarchiv durch. Eindeutig ist ersichtlich, dass
der studierte Jurist Alfred Bauer bei der Reichsfilm-
intendanz arbeitete, deren Aufgaben Joseph Goeb bels
im Februar 1942 in einer vor Filmschaffenden ge-
haltenen Rede skizzierte: »Dem Reichsfilmintendan-
ten obliegt die allgemeine Produktionsplanung, die
Ausrichtung der künstlerischen und geistigen Gesamt-

haltung der Produktion und die Überwachung des
künstlerischen Personaleinsatzes sowie der Nach-
wuchserziehung.«
Drei Jahre lang, von 1942 bis Kriegsende, war
Bauer Referent der Reichsfilmintendanz, das bele-
gen Sitzungsprotokolle, Listen, Korrespondenzen,
Schriftwechsel. Laut einer Gehaltsaufstellung vom
Juni 1944 bezog er dort monatlich 1200 Reichs-
mark, zuletzt 1500. Die Akten belegen auch, dass
Alfred Bauer eine organisatorisch zentrale Position
innehatte: Er kontrollierte und überwachte die
personelle Seite der laufenden Spielfilmproduk-
tion des »Dritten Reiches«, also den Einsatz der
Schauspieler, der Regisseure, der Kameramänner,
des sonstigen Filmpersonals. Er erfasste die Pro-
duktionsmeldungen der Filmfirmen – unter ande-
rem der Bavaria-Filmkunst GmbH, Berlin-Film
GmbH, Prag-Film AG, Ufa-Filmkunst GmbH,
Wien-Film GmbH. Als Goeb bels den »totalen
Krieg« ausrief, bearbeitete Bauer die sogenannten
u.k.s, die Unabkömmlichkeitsstellungen der Film-
schaffenden. Das heißt, er war an der Entschei-
dung beteiligt, wer vom Kriegseinsatz freigestellt
wurde und wer in die Rüstungsindustrie oder an
die Front musste.
In Alfred Bauers Wikipedia-Eintrag steht kein
Wort zu seiner nationalsozialistischen Vergangenheit.
In einer 1971 erschienenen Pressemitteilung der
Berliner Festspiele GmbH zu Bauers 60. Geburtstag
heißt es zum Jahr 1942: »Berufung (nach dreijähriger
Kriegsteilnahme) in die damals neugegründete Dach-
gesellschaft des deutschen Films, die UFA-Film
GmbH. Aufgabenbereich: Aufstellung der Disposi-
tionspläne für die deutsche Spielfilmproduktion,
Anfertigung der monatlichen Produktionsberichte
über die in Arbeit befindlichen Filme, Gutachten in
Filmrechts- und Filmwirtschaftsfragen.«
In der von dem Filmhistoriker Wolfgang Jacob-
sen verfassten großen Publikation zum 50. Ge-
burtstag der Berlinale wird dieser Text rund
30 Jahre später fast wörtlich übernommen. Außer-
dem heißt es, Bauer habe eine »Tätigkeit in der
Reichsfilmkammer« ausgeübt.
Dazu muss man wissen, dass jeder deutsche Film-
schaffende, der während der NS-Zeit an einer Pro-
duktion mitwirken wollte – ob als Friseur, Kamera-
mann oder Schauspielerin – Mitglied der Reichsfilm-
kammer sein musste, die eine Art Berufsverband
darstellte. Mitnichten ist die Zugehörigkeit zu diesem
Verband vergleichbar mit Bauers Funktion und hie-
rarchischer Stellung innerhalb der Reichsfilminten-
danz. Als zum Beispiel der Posten des Intendanten

eine Weile unbesetzt war und die Behörde von
Bauers Referenten-Kollegen, dem SS-Mann Wal-
ther Müller-Goerne, stellvertretend geleitet wurde,
war Bauer vorübergehend sogar der zweite Mann
in der Reichsfilmintendanz. Im März 1944 setzte
Joseph Goeb bels dann den SS-Gruppenführer Hans
Hinkel als Reichsfilmintendanten ein. Innerhalb
der NS-Bürokratie war Hinkel schon früh eine
treibende Kraft bei der »Entjudung« der deutschen
Kultur. Nach dem Krieg wurde er für mehrere
Jahre inhaftiert.
Und Alfred Bauer, der Referent, der Hinkel in der
Hierarchie der Reichsfilmintendanz an dritter Stelle
folgte? Wie konnte er sechs Jahre nach Kriegs ende
Leiter der Berliner Filmfestspiele werden?

In seinem Entnazifizierungsverfahren hat
Bauer systematisch verschleiert und gelogen

Die Originalprotokolle von Bauers Entnazifizierungs-
verfahren liegen im Berliner Landesarchiv. Also geht
es an einem trüben Januartag mit der S-Bahn Rich-
tung Henningsdorf, in den Berliner Norden zum
Eichborndamm 115. Ulrich Hähnel wartet in der
Eingangshalle. Die beiden wichtigsten Akten zu
Bauer, knapp 300 Seiten, hat er bereitstellen lassen:
C Rep. 031-01-02 Nr.: 7/1 und 7/2. Wir ziehen uns
in einen Leseraum zurück. Während wir die Doku-
mente Blatt für Blatt durchgehen – wobei Hähnel
auf die entscheidenden Stellen hinweist – wird klar:
In seinem Entnazifizierungsverfahren hat Bauer
systematisch verschleiert und gelogen.
Den Notizen und Protokollen ist zu entneh-
men, dass er zunächst seine NSDAP- und SA-
Mitgliedschaften verschwieg. Außerdem heißt es:
»Es besteht der dringende Verdacht, daß Bauer aus
einer Akte in der Personalkartei der Fachschaft
Film den Fragebogen entfernt hat.«
Im Protokoll des Politischen Prüfungsausschus-
ses vom 5. Dezember 1945 ist Bauers erstes Be-
rufsverbot vermerkt. Rund ein Jahr später, am


  1. Oktober 1946, wurde das Verbot verlängert.
    Vor der Entnazifizierungskommission für
    Kunstschaffende der Stadt Berlin heißt es im Proto-
    koll der Hauptverhandlung vom 18. Oktober
    1946: »Herrn Dr. Bauer, der Mitglied der NSDAP
    war, wurde durch Beschluß der Prüfungskommis-
    sion beim Kultur-Komitee der Alliierten Komman-
    dantura Berlin ab 3. 6. 1946 die weitere Ausübung
    einer künstlerischen Tätigkeit untersagt.« Dieses


Die Regeln des Pas de deux sind so klar wie
rigide: Drehungen, Hebungen, Balancen und
Sprünge im fünfsätzigen Duett, ein Spiel mit
der Utopie des Miteinanders und der Perfek-
tion. Die Metapher mag abgegriffen sein, von
wegen Pas de deux und Doppelspitze, jetzt, da
die Führungskrise des Berliner Staatsballetts
Wellen schlägt; die jüngste Pressekonferenz
aber lieferte die passenden Bilder. Fahle Mie-
nen, leere Blicke, und als der Noch-Intendant
Johannes Öhman seiner Noch-Co-Intendan-
tin Sasha Waltz in die Jacke helfen will, schüt-
telt sie ihn einfach ab. Vom Entrée bis zur
Coda ist hier viel schiefgelaufen, und dahinter
stehen gewichtigere Fragen als die, wie Berlins
Ex-Kulturstaatssekretär Tim Renner personal-
politisch derart in die Grütze greifen konnte.
Es geht um den Clash zweier Systeme, um
Verantwortung und um die Vereinbarkeit von
Höchstleistungskunst und Familie.
Im Sommer 2018 übernahm der schwe-
dische Ballettchef Öhman das Staatsballett,
und dass er geholt worden war, um die un-
gleich prominentere, in Berlin aber notorisch
unzufriedene Sasha Waltz durchzusetzen, eine
Ikone der Tanzszene, gegen alle Proteste, mag
die Wurzel allen Übels sein. Dem Schweden
gelang es, die Gemüter zu besänftigen, das
klassische Repertoire kam ebenso zu seinem
Recht wie das zeitgenössische, die Auslastung
stieg. Erst als Waltz 2019 tatsächlich dazustieß,
rumorte es wieder in Deutschlands größter
Compagnie. Zudem kündigten sich Etat-
probleme an, Dornröschen musste verschoben
werden, und auch dass die einen jeden Abend
Nussknacker oder La Bajadère tanzen, während
die anderen monatelang an Waltz’ Sym-Phonie
2020 werkeln (Musik: Georg-Friedrich Haas),
trug wenig zum Betriebsfrieden bei.
Wollte man das klassische Ballett und den
Tanz zusammenspannen, müssten die Arbeits-
prozesse völlig neu gedacht werden. An der
Seite von Waltz scheint Öhman sich das nicht
zugetraut zu haben,
weshalb er nun zurück
nach Stockholm geht
und ab März 2021 das
Dansens Hus leiten
wird. In Schweden le-
ben auch seine Kinder,
und wenngleich man
dem 52-Jährigen vor-
werfen kann, verant-
wortungslos zu han-
deln, vor allem gegen-
über der Compagnie,
ist seine Demission doch ein Fanal: dafür, dass
es mitunter Wichtigeres im Leben gibt als eine
internationale Karriere. Dieser Debatte hat
sich das Ballett zu stellen. Und Sasha Waltz?
Lässt ihre Zukunft als Intendantin noch offen.
Der Schock sitzt tief. Allein kann und wird sie
es nicht machen. CHRISTINE LEMKE-MATWEY

Auf die Spitze


getrieben


Die Krise beim Staatsballett Berlin
stellt die Familienfrage

Will Sasha Waltz
weiter Intendantin
bleiben?

Fortsetzung auf S. 50

Im März 2014 griff der damalige österreichi-
sche Kulturminister Josef Ostermayer zu einer
drastischen Maßnahme. »Im Interesse der
Republik« entließ er den Burgtheaterdirektor
Matthias Hartmann – der Deutsche galt als ein
Hauptverantwortlicher für die Misswirtschaft,
Bilanzfälschungen und die Steuerhinterzie-
hung, die das Haus in die größte Krise seiner
Geschichte gerissen hatten. Inzwischen ist von
Hartmann in Wien nicht mehr die Rede, als
alleinige Schuldige hat das Wiener Landgericht
jetzt die ehemalige kaufmännische Geschäfts-
führerin Silvia Stantejsky ausgemacht – sie
wurde zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt
und muss eine »Schadensgutmachung« von
320.000 Euro leisten. Dieses Urteil entlastet
viele, etwa einen Ex-Minister, der früher auch
einmal Burg-Geschäftsführer war und die fi-
nanzielle Schieflage des Hauses damals nicht
erkannt haben will, es entlastet jene Wirt-
schaftsprüfer, denen die Misswirtschaft nicht
aufgefallen ist, es entlastet frühere Verantwort-
liche, in deren Zeit die »Unregelmäßigkeiten«
schon losgegangen sind. Claus Peymann, der
von 1986 bis 1999 Direktor des Burgtheaters
war, kommentiert auf Anfrage der ZEIT dieses
Urteil mit den Worten: »Eine ganz miese Num-
mer. Das schwächste Glied wird bestraft. Alle
anderen decken sich gegenseitig. Deprimie-
rend, wie sehr das dem Wiener Schema ent-
spricht.« PETER KÜMMEL

»Das schwächste


Glied wird bestraft«


Im Burgtheater-Skandal ist die
einzig Schuldige gefunden


  1. JANUAR 2020 DIE ZEIT No 6


FEUILLETON 49

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