Protokoll hält auch einen Dialog zwischen Bauer
und Herrn Schmidt, einem Mitglied der Kom-
mission, fest:
Herr Dr. Bauer: (...) ich habe meine SA-
Zugehörigkeit bagatellisiert, weil ich nicht viel
damit zu tun gehabt hatte.
Herr Schmidt: Sie gehörten der Reichsfilm-
intendanz an.
Herr Dr. Bauer: Nein.
Während des zweijährigen Berufsverbots ver-
folgte Bauer eine Strategie zwischen Vertuschung
und Flucht nach vorn. So stilisierte er sich zuneh-
mend zum Antifaschisten innerhalb der national-
sozialistischen Filmbehörde, belegt durch fleißig
gesammelte Persilscheine von Bekannten, mit
teilweise auffallend ähnlichem Wortlaut. Etwa
von seiner Sekretärin Renate Scholz. Oder von
seinem Friseur Willy Stranz: »Ich versichere wei-
ter, daß Herr Dr. Bauer aus seiner antifaschisti-
schen Einstellung, die mir vollkommen bekannt
ist, nie einen Hehl gemacht hat.«
In einem im April 1947 an die Entnazifi-
zierungsbehörden gerichteten Lebenslauf be-
schreibt Bauer sich als inneren Widerständler
und widerwilligen SA-Mann sowie als NSDAP-
Mitglied, das nie an Parteiversammlungen teil-
genommen habe – im Widerspruch zu dem oben
zitierten Gesinnungszeugnis der Gauleitung
Mainfranken (und mindestens einem weiteren
Dokument aus der NS-Bürokratie).Es bedarf einer öffentlichen und
weiterführenden AufarbeitungIn seinem Entnazifizierungsbogen machte Bauer
falsche Angaben zu seiner Mitgliedschaft in NS-
Organisationen. So behauptet er seinen Austritt
aus der NSDAP (am 31. Juli 1943) und SA (am- Juni 1938), wofür es keine Belege gibt und was
angesichts seiner Stellung innerhalb der NS-Film-
bürokratie fast unmöglich scheint. Folgerichtig ist
auch, dass Bauer seine Zugehörigkeit zum Natio-
nalsozialistischen Deutschen Studentenbund ver-
schwieg. Sie hätte sich schwerlich mit dem Mythos
vom frühen und ewigen Antifaschisten vertragen.
Seine Mitgliedschaft bei der Nationalsozialistischen
Volkswohlfahrt verleugnete er ebenfalls. Und der
Vollständigkeit halber: Bereits am 1. Oktober 1935
war der Referendar Bauer der Vor läu fer orga ni sa-
tion des Nationalsozialistischen Rechtswahrer-
bundes, dem Bund National-Sozialistischer Deut-
scher Juristen e. V., beigetreten. Sein Ausweis mit
Eintrittsdatum liegt in der Akte des Landesarchivs.
Alfred Bauers Vernebelungstaktik hatte Erfolg. Bis
zum Schluss des Verfahrens blieb im Unklaren, wo
er wirklich gearbeitet hatte.
Während der Recherche stoßen wir auf ein
Buchprojekt des Berliner Bebra-Verlages: Alfred
Bauer – Die Grundlagen der Internationalen Film-
festspiele Berlin von dem Filmhistoriker Rolf Au-
rich, Erscheinungstermin: Februar 2020. Am 24.
Februar – also während die Berlinale in vollem
Gange ist – soll es in einer Veranstaltung der
Deutschen Kinemathek unter dem Titel Blick in
die Archive vorgestellt werden. Am Montag dieser
Woche erhalten wir das Manuskript in PDF-
Form, in der inhaltlich endgültigen Fassung, nur
die Rechtschreibung soll noch korrigiert werden.
Der Text, 52 Seiten, beginnt mit dem schwieri-
gen Verhältnis zwischen Bauer und der »verbitter-
ten« Exilantin und Filmhistorikerin Lotte Eisner,
skizziert die ersten Jahre der Berliner Filmfest-
spiele und endet mit der Gründung des Interna-
tionalen Forums des Jungen Films 1971. Dazwi-
schen finden sich 18 Seiten über Alfred Bauers
Wirken im Nationalsozialismus und über seine
Entnazifizierung, die sich auch auf die hier zitier-
ten Quellen im Berliner Landesarchiv und im
Bundesarchiv beziehen. Über weite Strecken folgt
Aurichs Text Bauers Selbstdarstellung in Lebens-
läufen, seiner Selbststilisierung als Cineast von
Kindheit an (»Die heimischen Kinematografen-
theater besuchte Bauer einem Ondit zufolge re-
gelmäßig schon als Zwölfjähriger«). Nicht er-
wähnt werden Bauers falsche Angaben im Entna-
zifizierungsbogen. Nicht erwähnt wird seine im
Protokoll festgehaltene Lüge über seine Funktion
in der Reichsfilmintendanz. Die Daten seiner
nicht belegbaren Austritte aus NSDAP und SA
werden ungeprüft übernommen. Rolf Aurich zi-
tiert auch das Schreiben der Gauleitung Main-
franken vom 27. Mai 1942. Aber das Entschei-
dende ist: Er erwähnt nur die Beschreibung Bau-
ers als »bescheidener anspruchsloser Mensch« mit
(Zitat Aurich) »tadellosem sittlichen und mora-
lischen Verhalten«. Es fehlt die Feststellung, dass
Bauer »ein eifriger SA-Mann« und sein Besuch
der SA-Versammlungen »stets ein guter« gewesen
sei. Wie sind diese Auslassungen zu erklären? Und
wer soll hier vor wem oder was geschützt werden?
Alfred Bauer vor dem Blick der Gegenwart? Oder
die Gegenwart der Berlinale vor Alfred Bauer?
Es bedarf einer öffentlichen und weiterführen-
den Aufarbeitung der Bauer-Akten, die sich von
der Legendenbildung löst. Der Alfred-Bauer-Preis
braucht einen neuen Namen – und die nun ins
siebzigste Jahr gehende Berlinale eine Aus ein an der-
set zung mit ihrer Vergangenheit.A http://www.zeit.deeaudioEigentlich verboten:
Ricky (Kris Hitchen)
nimmt seine Tochter
(Katie Proctor) mit
auf die TourFoto: mauritius images/Lifestyle pictures/Alamy»Mach die Box glücklich, Ricky!«
Was ist der Mensch wert? In seinem wütenden Film »Sorry We Missed You« beschreibt der Regisseur Ken Loach die Selbstausbeutung eines Paketboten VON THOMAS ASSHEUER
R
icky Turner ist ein Tausendsassa. Er
kann Fliesen legen, Klempnern und
Dächer decken. Einmal verschlug
es ihn auf den Friedhof. Dort hat er
Gräber ausgehoben, bei Eiseskälte.
Ricky kennt sich aus mit dem Le-
ben und auch mit dem Tod.
Ricky (Kris Hitchen) lebt mit seiner Familie im
nordenglischen Newcastle. Seine Frau Abby arbeitet
bei einem Altenpflegedienst, die elfjährige Tochter Lisa
Jane (Katie Proctor) ist schlau und scharfzüngig. Ihr
älterer Bruder Seb lebt in seiner geschlossenen Smart-
phone-Höhle; die Eltern, scheint es, sind kaum mehr
als Störgeräusche in der Außenwelt. Wenn Seb (Rhys
Stone) spätabends mit seiner Gang loszieht, sprayt er
Wände an, tote, hässliche Wände. Die Graffiti sehen
cool aus, ziemlich rätselhaft und voller Fragezeichen.
Auf den ersten Blick ist in Ken Loachs Film Sorry
We Missed You die Welt halbwegs in Ordnung. Klar,
das Glück ist den Turners nicht nachgelaufen, in der
Finanzkrise 2008 ging ihre Bank pleite, das Geld fürs
eigene Häuschen war futsch, und man musste hoch
verschuldet von vorn anfangen. Doch nun hat Ricky
einen Job als Paketbote und arbeitet als Franchise-Fah-
rer auf eigene Rechnung. »Du bist dein eigener Boss«,
grinst Maloney, sein Chef (Ross Brewster). Allerdings,
den Lieferwagen muss er selbst mitbringen, und weil
dafür das Geld fehlt, überredet er Abby (Debbie Ho-
neywood), ihr Auto zu verkaufen und künftig mit dem
Bus zu fahren. Toll findet sie das nicht.
Gig-Ökonomie nennt man dieses Geschäftsmodell,
die Arbeiter sind hier kleine Ich-AGs, man könnte
auch sagen: Sie sind Tagelöhner. Für junge Leute mag
die Selbstausbeutung eine Zeit lang attraktiv sein, für
den Familienvater ist es die Hölle. Verspätet er sich,
zahlt er eine Geldbuße, und beschädigt er den Scanner,
sind 1000 Pfund fällig. Der Scanner ist das Zentral-
organ des Lieferdepots, ein Alleswisser und perfektes
Überwachungsinstrument. »Die schwarze Kiste«, sagt
sein Chef, »entscheidet, wer stirbt und wer überlebt.
Mach die Box glücklich, Ricky!«
Ken Loach (83) ist einer der wenigen Regisseure,
die dem sozialen Realismus die Treue gehalten haben.
Die Schönheit seines Kinos entsteht aus der Aufmerk-
samkeit für die Figuren, aus seinem inständigen Blick.
Loach schenkt ihnen die Zeit, die sie füreinander nicht
haben, und ein Bewusstsein ihrer Misere schenkt er
ihnen auch. Das Ergebnis ist ein tiefer Humanismusund manchmal eine verborgene Utopie. »Was tun wir
uns an?«, fragen sie sich dann, und längst weiß Ricky,
dass er Sklave und Sklavenhalter in einer Person ist und
sein Leben so disziplinieren muss, dass vom Leben
selbst nichts übrig bleibt. Zeit ist Geld, und Geld ist
Zeit, eine Pinkelflasche hat er immer dabei. Ricky
spürt, wie kaputt eine Gesellschaft ist, in der die Men-
schen nur kurz den Kopf aus ihren Behausungen ste-
cken und nach ihrem Päckchen schnappen, nach Sex-
toys oder dem neuen Handy. Besser, man klebt einen
Zettel an die Tür: »Sorry we missed you«.
Wie oft bei Ken Loach, steht das Unglück plötzlich
in der Tür, und das Publikum erfährt: Seb schwänzt
den Unterricht! Insgeheim gibt der Vater sich die
Schuld, er fühlt sich als Versager, als »Schmeißfliege«
und irgendwie wertlos. Sein Wert als Mensch besteht
nur in dem Preis, den er beim Verkauf seiner Arbeits-
kraft auf dem Markt erzielt. Wer davon profitiert? Es
seien die großen Konzerne, sagt Maloney. »Ich bin der
Schutzpatron der Aktionäre.« Er ist stolz darauf.
Wie Ricky, so ist auch seine Frau Abby eine Ich-AG.
Die Altenpflegerin hat einen Null-Stunden-Vertrag,
das heißt, sie wird nur »fallweise« bezahlt, die Leer-
zeiten gehen aufs eigene Konto. Abby hat ein großes,warmes Herz und ist die Güte in Person, liebevoll
hört sie zu, wenn die Alten in ihren Erinnerungen
wühlen und über jede Zuwendung beglückt sind.
»Behandle sie so wie deine Mutter«, sagt sie sich,
und gern würde sie länger bleiben, doch ihre Zeit
ist streng limitiert und eine Freundschaft mit den
Kunden nicht erwünscht. Kunden? Ja, so werden
die alten Menschen genannt, sie sind nur Kenn-
ziffern im Pflegeplan und müssen effizient ruhig-
gestellt werden. Ken Loach verkitscht Abby nicht,
er macht aus ihr nicht den Engel von Newcastle.
Abby ist außergewöhnlich, weil sie menschlich ist
und ein Gespür für das hat, was im ökonomischen
Weltbild und der zynischen Rede vom Humankapi-
tal nicht vorgesehen ist: die Vergänglichkeit des
Lebens und die Hinfälligkeit des Körpers.
Ken Loachs Film sei arg konventionell geraten,
mäkeln einige Kritiker, offenbar fehlt es ihnen an
ästhetischer Sexyness. Doch viel eher könnte man
sagen: Der Film ist ungemein diskret, wie eine
unsichtbare Chronistin führt die Kamera Proto-
koll, so wie jemand im Gerichtssaal Protokoll führt.
Die Kamera ist Zeuge, wie das durchökonomisier-
te Leben einer Familie den Prozess macht und wiedieser Prozess langsam ins Urteil übergeht und
niemand sagen kann, wo die eigene Verantwortung
endet und die Schuld der Verhältnisse beginnt.
Hätte man nach dem Banken-Crash den Traum
vom eigenen Häuschen begraben sollen? Einmal
träumt Abby davon, wie sie im Treibsand versinkt,
doch da ist ihrer Familie die Kontrolle über ihr
Leben längst entglitten.
Take back control hieß die Parole der Brexiteers,
und das war auch ein Versprechen für den Einzel-
nen: Du kriegst dein Leben zurück! So lockte
Boris Johnson die deregulierten Seelen in die
Wärmestube der nationalen Gemeinschaft, wo sie
angeblich wieder eine Würde haben und auch ei-
nen Wert. Ob Ricky darauf reingefallen wäre? Man
weiß es nicht, er hat Stolz, aber kein Klassenbe-
wusstsein, denn die working class gibt es in diesem
großen, von Wut durchtränkten Film nicht mehr,
es gibt nur noch eine anonyme Menge aus Einzel-
kämpfern, Konkurrenten und abgründig Fremden.
Für Ken Loach ist das Kapitalismus in seiner ro-
hesten Form. Er macht den Menschen zu Waren
und produziert eine Verlassenheit, für die allein das
Kino noch große Erzählungen hat.»Ein eifriger SA-Mann« Fortsetzung von S. 49ANZEIGE
50 FEUILLETON 30. JANUAR 2020 DIE ZEIT No 6
BestattenSie,dasswirunsvorstellen?Wenn
esumsSterbengeht,verkrampftjedervon
uns. Klar, sich frühzeitig mit dem Tod zu
befassen, fällt keinem leicht. Das führt –
wennessoweitist–fastimmerzuKompli-
kationen:emotionalundfinanziell.mymoria,IhrdigitalesBestattungshaus,ändert
das: Maximale Kostentransparenz und Vor-
sorgepaketeerleichternIhnenklugeEntschei-
dungeninderRuhedereigenenvierWände
undbeiklaremVerstand.Mehrerfahrenauf
http://www.mymoria.deoderunterunsererkosten-
losenRufnummer 08008038000.MitdemR
abattcode
ZEIT^1010 %Raba
tt*aufBes
tattungoderBest
attungsvor
sorge
erhalten.10 %
SPA
REN
*DerGutschein kann bis zum 15. März 2020 bei der Beauftragung einer Bestattung oder der Aktivierung einerVorsor-
ge eingelöst werden. Bei derVorsorgegewährt der Gutschein 10%Rabatt auf den Jahresbeitrag imVorsorgeportal.