- JANUAR 2020 DIE ZEIT No 6 FEUILLETON 51
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as Kopftuch polarisiert in bei-
spiellosem Maße. Als jüngst
an der Universität Frankfurt
über ein Kopftuchverbot dis-
kutiert wurde, kam es im Pu-
blikum zu tumultartigen Sze-
nen, denen ein Polizeieinsatz
folgte. Schon im vergangenen Frühjahr hatte eine
Konferenz unter dem Titel »Das islamische Kopf-
tuch – Symbol der Würde oder der Unterdrückung?«
Proteste ausgelöst; die Konferenz wiederum war
auch eine Reaktion auf die kontroverse Ausstellung
Contemporary Muslim Fashions gewesen. In Öster-
reich wurde im Mai ein Kopftuchverbot für Grund-
schülerinnen erlassen, ein Anliegen, das im Novem-
ber auch den CDU-Parteitag beschäftigte. Wäh-
renddessen trendete auf Twitter der von einer isla-
mistischen Online-Initiative initiierte Hash tag
#NichtOhneMeinKopftuch. Durch seine Sichtbar-
keit befeuert das Kopftuch Ängste vor einer »Islami-
sierung« und wird gleichzeitig von muslimischen
Befürwortern als Symbol der Unterordnung unter
Gott, oft auch als Ausweis einer überlegenen Se-
xualmoral gehandelt. Derart mit Bedeutung aufge-
laden, wird es in der öffentlichen Wahrnehmung zu
einem, wenn nicht sogar dem zentralen identitäts-
stiftenden Merkmal muslimischer Frauen überhöht.
Die Frage, ob das Tragen eines Kopftuchs über-
haupt eine religiöse Pflicht sei, lässt sich allerdings
anhand der religiösen Quellen unterschiedlich be-
antworten. Wenn der Koran die Frau anweist, »sich
ihren Schal um den Ausschnitt [zu] schlagen«, ihre
Scham zu bewahren und ihren »Schmuck« nur ih-
rem Gatten zu zeigen (Koran 24:31), dann kann
man unter Verweis darauf, dass dieser »Schal« zur
Zeit der Entstehung des Korans den Kopf bedeck-
te, aus dem Vers eine Kopftuchpflicht ableiten.
Man kann aber auch die Bezugnahme auf die Be-
kleidungsgepflogenheiten im Arabien des 7. Jahr-
hunderts als zeitbezogene Aussage verstehen, die
wenig Relevanz besitzt für die in dem Vers enthal-
tene generelle Aufforderung, sich nicht aufreizend
zu kleiden und zu verhalten. Zu den zentralen
Themen des Korans gehören Fragen weiblicher Be-
kleidung jedenfalls ganz sicher nicht – sie spielen
im Vergleich zu den Pflichten wie dem Gebet und
der Wohltätigkeit, die den gesamten Koran durch-
ziehen, kaum eine Rolle.
Das Kopftuch ist bloß
eine erfundene Tradition
Spätere muslimische Rechtsgelehrte führten aus-
ufernde Diskussionen darüber, welche Körperteile
muslimische Frauen gegenüber unterschiedlichen
Personengruppen und in unterschiedlichen Situa-
tionen zeigen durften. In Gegenwart von Männern
außerhalb des familiären Umfelds waren das üb-
licherweise das Gesicht, die Hände und die Füße.
Allerdings diskutierten die Rechtsgelehrten vieles,
was in der Rechtspraxis kaum eine Rolle spielte, die
Masse der Musliminnen und Muslime nicht son-
derlich interessierte und ihnen oft gar nicht bekannt
war. Zudem flossen in die Auffassungen der Ge-
lehrten die Gepflogenheiten und Moralvorstellun-
gen ihrer eigenen Kultur ein. Während es in vielen
Gesellschaften des Nahen Ostens und Süd asiens
- oft auch unter nicht muslimischen Frauen – oh-
nehin üblich war, den Kopf zu bedecken und lange
Gewänder zu tragen, war dies im subsaharischen
Afrika oder in Süd ost asien keineswegs überall der
Fall. Die Bandbreite weiblicher Bekleidungsformen
war enorm und weit stärker von lokalen Traditio-
nen und sozialem Stand geprägt als von religiösen
Normen. Erst Reformbewegungen des 19. und 20.
Jahrhunderts mahnten dort eine »sittsame« Beklei-
dung nach islamischen Maßstäben an, wobei sich
die Kritik zunächst oft weniger gegen sichtbares
Haar als gegen unbedeckte Schultern, Knie oder gar
Busen richtete. Hier gab es übrigens deutliche
Überschneidungen mit den Moralvorstellungen
christlicher Missionare und Kolonialherren, die
ebenfalls lange Röcke und hochgeschlossene Blusen
als angemessene weibliche Bekleidung propagier-
ten. Ein »islamisches Kopftuch« in der Form, wie es
heute verbreitet ist und als augenfälliges Identitäts-
merkmal muslimischer Frauen gesehen wird, gab es
noch im 19. Jahrhundert nirgendwo.
Wann und warum wurde es also zum identitäts-
stiftenden Symbol muslimischer Frauen? Und wieso
ist es heute ausgerechnet die weibliche Bekleidung,
an der sich so viele Wünsche, Ängste und Wertun-
gen entzünden, nicht aber die männliche? Schließ-
lich haben die religiösen Quellen und die islami-
schen Rechtsgelehrten einiges zur Bekleidung von
Männern zu sagen, zum Beispiel über die Vorzüge
des Turbans. Religionsgelehrte protestierten er-
bittert, als die Regierung des Osmanischen Reiches
in den 1820er-Jahren den Turban zugunsten des als
modern und patriotisch verstandenen Fes verboten
hatte. Atatürk wiederum erließ 1925 ein Gesetz,
das den nunmehr als altmodisch und orien ta lisch
geltenden Fes abschaffte und durch europäische
Hüte ersetzte. Heute ist das Tragen von Turbanen
unter Muslimen allenfalls noch in bestimmten
mystischen Orden üblich. Salafis propagieren die
Takke, eine Mütze, die sie auf den Propheten Mo-
hammed zurückführen. Die große Masse der mus-
limischen Männer trägt aber im Alltag weder das
eine noch das andere und ist trotzdem selten mit
der Zuschreibung konfrontiert, nicht »richtig«
muslimisch zu sein.
Könnte es sein, dass das Kopftuch eine »erfun-
dene Tradition« ist wie der Schottenrock und das
Dirndl? Das würde einen Teil des enormen Erfol-
ges dieses Kleidungsstücks erklären. Eine erfunde-
ne Tradition stiftet Identität, indem sie ihren Trä-
gerinnen das Gefühl vermittelt, an eine gemein-
same Vergangenheit anzuknüpfen, die aber eher
der Imagination als der historischen Realität ent-
spricht. Schließlich trägt heute keine ägyptische
Frau, wie sehr sie sich auch verhüllen mag, noch
ein Messingrohr über der Nase, wie es vielfach auf
historischen Fotografien zu sehen ist. Anders als das
Dirndl und der Schottenrock wird das Kopftuch
allerdings verbunden mit Vorstellungen von Mora-
lität, Religiosität und Gehorsam gegenüber Gott.
Diese Argumente tauchten um die Wende zum- Jahrhundert auf, als Muslime sich europäischen
Angriffen auf ihre als rückständig und barbarisch
gebrandmarkten Gesellschaften ausgesetzt sahen.
So betrachtete Lord Cromer, der britische General-
konsul in Ägypten, den Schleier als Symbol für die
Unterdrückung der Frau im Islam und letztlich die
Minderwertigkeit der ägyptischen Gesellschaft, mit
der er die britische Quasi-Kolonisierung des Landes
rechtfertigte. Das hinderte ihn nicht daran, ein er-
bitterter Gegner des Frauenwahlrechts zu sein und
ägyptischen Frauen weitgehend den Zugang zu
Bildung zu versperren. Einige Jahrzehnte später
nutzten die französischen Kolonialherren in Alge-
rien das Thema Verschleierung für eine Propaganda-
kampagne, die in öffentlichen Entschleierungs-
zeremonien kulminierte.
Die muslimischen Verteidiger des Schleiers ge-
gen solche Angriffe befanden sich in Ländern wie
Algerien und Ägypten auf verlorenem Posten, denn
der Kampf gegen den Schleier war längst auch zu
einem Projekt einheimischer Reformer geworden.
Unter den Begriff »Schleier« fassten diese zunächst
vor allem die in der osmanischen Oberschicht üb-
liche Segregation und Verbannung von Frauen aus
der Öffentlichkeit einschließlich des Gesichts-
schleiers. Eine wachsende Zahl von Frauen schrieb
sich den Kampf gegen den Schleier – in diesem
Sinne verstanden – ebenfalls auf die Fahnen, aus
unterschiedlichsten Motiven, zu denen zum Bei-
spiel auch der Zugang zur neuartigen Welt des
Konsums zählte, verkörpert in Kaufhäusern fran-
zösischen Stils. In etlichen mehrheitlich muslimi-
schen Ländern entstanden im ersten Drittel des- Jahrhunderts Frauenbewegungen.
Die Re-Islamisierung der islamischen Welt
begann erst vor einigen JahrzehntenSpätestens Mitte des 20. Jahrhunderts erfasste eine
große Fortschrittseuphorie weite Teile der isla-
mischen Welt. Der Gesichtsschleier verschwand
praktisch aus der Öffentlichkeit, und auch Kopf-
tücher waren kaum noch zu sehen – zumindest im
städtischen Raum. Nicht alle muslimischen Ge-
sellschaften wurden allerdings von dieser Entwick-lung erfasst. In den konservativen Staaten der Ara-
bischen Halb insel blieb zum Beispiel nicht nur das
Kopftuch, sondern auch der Gesichtsschleier voll-
kommen üblich. Umgekehrt gingen manche Staa-
ten, wie die Türkei, auf autoritäre Weise gegen
jede Form weiblicher Verhüllung vor. In Istanbul
wie in Kairo waren in den 1960er-Jahren die Stra-
ßen voll von Frauen mit offenem Haar.
Allerdings war die Übernahme westlicher
Kleidung immer auch ein schichtspezifisches
Phänomen. Nostalgische Fotos der 1970er-Jahre,
die Frauen in Miniröcken auf den Straßen Ka-
buls zeigen, mögen heutzutage in sozialen Netz-
werken beliebt sein, doch sie täuschen über die
Tatsache hinweg, dass ärmere und dörfliche Frauen,
die in großer Zahl in Afghanistan lebten, da-
mals nach wie vor Burkas trugen. Auch in der
Türkei war das Kopftuch nie verschwunden. Es
wurde zum Problem, als ländliche und ärmere
Schichten in die Städte strömten, ihre Töchter
immer öfter Schulabschlüsse erwarben und dann
als Kopftuchträgerinnen nicht an die Universitä-
ten gelassen wurden. Diese sozialen Faktoren
waren ein prägender Aspekt der Islamisierungs-
welle, die in den 1970er-Jahren einsetzte und
nach und nach immer mehr Länder umfasste, bis
selbst dort, wo weibliche Kopfbedeckungen tra-ditionell völlig unüblich waren, immer mehr
muslimische Frauen begannen, Kopftuch zu
tragen und dies als unverzichtbaren Teil ihrer re-
ligiösen Identität zu definieren. Nach der Nie-
derlage der arabischen Staaten im Sechstagekrieg
von 1967 waren die Fortschrittshoffnungen, die
mit dem Re gime von Gamal Abdel Nasser ver-
bunden worden waren, zerstoben. Nationalis-
tische und sozialis tische Ideologien waren dis-
kreditiert. In dieser Phase, in der die Menschen
auf der Suche nach neuer Orien tie rung waren,
gewannen islamistische Prediger an Popularität.
Ländliche Bildungsaufsteigerinnen an oberägyp-
tischen Universitäten ebenso wie Frauen in pa-
lästinensischen Flüchtlingslagern begannen ihr
Haar zu verhüllen, und zwar nicht in Form tra-
ditioneller Kleidung, sondern durch das moder-
ne Kopftuch – ein Kleidungsstück des 20. Jahr-
hunderts. In der Türkei, wo der Aufstieg des
politischen Islams ebenfalls seit den 1970er-Jahren
nicht mehr aufzuhalten war, wurde das »isla-
mische« Kopftuch, das streng die Haare und den
Hals verhüllte, als türban sogar begrifflich vom
traditionellen Kopftuch der Bäuerinnen, dem
bašörtü, unterschieden.Es ist schwer über das Kopftuch zu sprechen,
ohne in ein Dilemma zu geratenEs wäre nun allerdings zu einfach, das Kopftuch
als Symbol des Islamismus zu brandmarken, das
»im Islam« eigentlich gar nichts zu suchen hat.
Was Gläubige unter »Islam« verstehen, unterliegt
einem ständigen Wandel. Die Glaubenspraxis des
Islams hat sich zu keiner Zeit und an keinem Ort
geradlinig aus religiösen Quellen ergeben. Je stär-
ker das Kopftuch Verbreitung fand, desto mehr
wurde es einerseits zum gängigen Modeaccessoire
und andererseits zum Teil des religiösen Main-
streams. Die Motive heutiger muslimischer deut-
scher Frauen, Kopftuch zu tragen, sind dement-
sprechend höchst unterschiedlich. Manche ent-
sprechen den Erwartungen ihres Umfelds oder
werden sogar zum Tragen des Kopftuchs gezwun-
gen. Bei anderen entspricht es der Sozialisation.
Sie passen sich den vorherrschenden Gepflogen-
heiten an, ohne darüber nachzudenken; unter
Umständen fühlen sie sich ohne Kopftuch nackt.
Viele beginnen als Teenager, es freiwillig zu tra-
gen: aus religiöser Überzeugung, um sich als Teil
der Erwachsenenwelt zu fühlen oder sich von der
Mehrheitsgesellschaft abzuheben. Manche tragen
es gegen den Willen ihrer Familien, die berufli-
che und gesellschaftliche Nachteile befürchten.
Es gibt dezidierte muslimische Feministinnen,
die das Kopftuch als Ausdruck religiöser Identität
tragen. Und natürlich gibt es auch solche, die es
als Teil einer umfassenden religiös-politischen
Weltanschauung verstehen – und solche, die es
tragen müssen, weil sie in einem Land wie dem
Iran leben, das von einer derartigen Weltanschau-
ung dominiert wird.
Diese islamistischen Regime praktizieren kei-
neswegs traditionelle Formen muslimischer Herr-
schaft. Die Ideologien, auf die sie sich berufen,
sind eng verknüpft mit dem Siegeszug der Idee der
Nation. Diese Nation wurde und wird weltweit
typischerweise als weiblich imaginiert: als schutz-
bedürftiges Wesen, das nach außen verteidigt wer-
den muss. Und so sind es ganz besonders Frauen,
welche die Moral der Gemeinschaft repräsentieren
sollen, nicht mehr nur bezogen auf die Familie
und den Stamm, sondern nun auch mit Bezug auf
ein ganzes Volk oder eine vergleichbare vorgestellte
Gemeinschaft, sei es eine Nation oder die musli-
mische umma. Es ist daher nicht der Turban der
Männer, der die Reinheit und Ehrbarkeit der Ge-
meinschaft nach außen repräsentiert, sondern die
Kopfbedeckung der Frau.
In Europa war das so lange kein Problem, wie
das Kopftuch in der öffentlichen Wahrnehmung
eher ein Symbol der »türkischen Putzfrau« war als
das einer gläubigen Muslimin, die auf der Frei-
heit beharrt, ihre Religion sichtbar zum Ausdruck
zu bringen, und zwar auch als Lehrerin oder
Richterin. Seit das Kopftuch die letztgenannte
Funktion übernommen hat, lehnen linksfemi-
nistische Kreise es als Ausdruck von Frauenver-
achtung ab, während es für konservative bis iden-
titäre Kreise vor allem eine nicht integrierbare
Fremdheit repräsentiert. Von islamistischen Ini-
tiativen als Zeichen des Stolzes propagiert, von
weiten Teilen der Mehrheitsgesellschaft als Sym-
bol einer bedrohlichen, patriarchalen Ideologie
verstanden, gibt es für muslimische Frauen kei-
nen Weg, sich dieser Dichotomie zu entziehen.
Nur sie, nicht die Männer, tragen die Last, durch
die Wahl ihrer Bekleidung Bekenntnis ablegen zu
müssen. Der Titel der Frankfurter Konferenz
zeigt dieses Dilemma deutlich auf: Das Kopftuch
ist entweder Symbol der Würde oder Symbol der
Unterdrückung. Die Option, es nicht als Symbol
zu lesen, gibt es nicht mehr. Keine Entscheidung,
ob für das Kopftuch oder dagegen, ist heute un-
schuldig und bedeutungslos – sie wird in jedem
Fall durch muslimische und nicht muslimische
Beobachter mit Bedeutung aufgeladen werden.
Das Kopftuch ist geradezu überfrachtet mit Be-
deutung: Islamismus, Gottgefälligkeit, Frauen-
feindlichkeit, Keuschheit, die freiheitlich-demo-
kratische Grundordnung, die Religionsfreiheit,
Identität, Stolz, Demut. Einer Pluralisierung in-
nermuslimischer Debatten tut das nicht gut, und
einer Ermächtigung muslimischer Frauen ist es
schon gar nicht dienlich.Johanna Pink ist seit 2012 Professorin für Islamwissen-
schaft und Geschichte des Islam am Orientalischen
Seminar der Albert-Ludwigs-Universität FreiburgFoto: Getty ImagesAuf Parteitagen und Konferenzen wird aktuell
wieder erregt über das Kopftuch gestrittenZeichen der Unterdrückung oder Zeichen der Würde?
Das muslimische Kopftuch wird überfrachtet mit
Bedeutung. Eine historische Einordnung
zur Versachlichung der Debatte VON JOHANNA PINK