Wie wunderbar Gott die Welt eingerichtet hat, scheint das Gemälde »Die Stigmatisierung des hl. Franziskus« zu rufenAbbildung: Jan van EyckStriche für die Ewigkeit
Eine spektakuläre Ausstellung in Gent führt vor Augen, wie der Maler Jan van Eyck die Kunst revolutionierte VON CHRISTOF SIEMES
Z
um Beispiel dieser winzige
schwarze Strich, was macht der
da? Wenige Millimeter ist er
lang und nur zu sehen, wenn
man ganz nah herangeht an den
Verkündigungsengel und rechts
neben ihm aus dem gemalten
Fenster in den Himmel schaut. Dort ist der klei-
ne Strich, einen weit entfernt segelnden Vogel
abbildend.
Aber das klappt normalerweise gar nicht, nah
ranzugehen an eines der größten Werke der
Kunstgeschichte. Seit fast 40 Jahren wird der
Genter Altar in einer Art gläsernem Käfig gezeigt,
zum Schutz vor Vandalismus und dem feucht-
kalten Klima in der St.-Bavo-Kathedrale, für die
er vor 600 Jahren von den Brüdern Hubert und
Jan van Eyck geschaffen wurde. Jedoch selbst wer
damals anbetend davorkniete, wird den Strich
kaum bemerkt haben, zu weit oben schwebt der
Engel, zu klein ist der Fensterausschnitt, als dass
man aus drei, vier Metern Entfernung überhaupt
ahnen könnte, dass da was fliegt. Und doch ist er
da, der Strich. Und muss es sein.
Jetzt schlägt seine Stunde. Acht Jahre hat die
Restaurierung etlicher Tafeln des Klapp altars
gedauert; einige von ihnen sind gerade in einer
Art Pro zes sion zurück in ihren Glaskäfig ge-
bracht worden, darunter das zentrale Bild des
Lamms Gottes. Hingegen sind die Bilder von
der weniger farbenprächtigen Alltags-Außenseite
noch dort, wo sie vor den Augen der Öffentlich-
keit restauriert wurden, im Museum der Schö-
nen Künste in Gent. Hier bilden der Verkündi-
gungsengel und elf weitere Tafeln den Glutkern
einer Ausstellung, wie es sie vielleicht nie wieder
geben wird.
Neben den Altartafeln versammelt sie weitere
12 der 20 bekannten Gemälde Jan van Eycks
(von seinem Bruder ist nichts überliefert außer
der Nachricht von seiner Mitarbeit am Altar).
100 weitere Exponate, darunter Werke italieni-
scher Zeitgenossen wie Masaccio oder Fra Ange-
lico, sollen die Welt heraufbeschwören, in die
van Eyck mit seiner Art zu malen hineingefahren
sein muss wie ein Blitz. Schon zu Lebzeiten war
er berühmt für seine Detailtreue und einen gera-
dezu fotografischen Realismus. In den 13 effekt-
voll ausgeleuchteten Räumen wirken selbst die
feinen Italiener wie Stümper, die tapfer hölzerne
Bengel auf Goldgrund malen, während der flä-
mische Kollege lebendige Wesen schafft und von
innen heraus zum Strahlen bringt.
In seinen Werken
spiegelt sich die Größe des Ganzen
Van Eycks »optische Revolution« ist denn auch
das zentrale Thema der Schau; sie hat drei Stoß-
richtungen. Zum einen ist da die Maltechnik.
Zwar hat van Eyck nicht, wie die Legende es
lange wollte, die Ölmalerei erfunden. Aber er ex-
perimentierte mit ihr und setzte den Farben Stof-
fe zu, die sie schneller trocknen ließen. So konnte
er in rascher Folge mehrere transparente Schich-
ten über ein an der malen, was den Bildern Tiefe
und Leuchtkraft verleiht. Zum anderen verfügte
er offenbar über eine Beobachtungsgabe und
-lust, die die seiner Zeitgenossen weit überstieg.
So malte er lange vor allen anderen eine exakte
Ansicht der Mondoberfläche und schneebedeck-
te Berge. Und schließlich war er ein gebildeter
Mann, der neben dem theologischen Einmaleins
für die komplexen Bildprogramme auch die Ge-
setze der Optik verstand. Nur so konnte er den
Lichtbrechungen in all den Perlen, Edelsteinen,
Wasserkesseln, Ritterrüstungen, Marienmänteln,
Himmelsherrscherkronen seiner Bilder die atem-
beraubende Prä zi sion verleihen.
Wie, wo, bei wem er all das gelernt und was er
sich dabei gedacht hat, ist seit je Gegenstand un-
abschließbarer Spekulationen; der mächtige Ka-
talog fasst den Stand der Dinge noch einmal auf
500 Seiten zusammen und erweitert ihn um
neue Mutmaßungen. Van Eycks Geburtsdatum
wird auf circa 1390 datiert, aber ob er wirklich
aus der Ortschaft Maas eik kam, weiß immer
noch niemand mit Sicherheit zu sagen. Gerade
mal 40 dürre Spuren hat er in diversen Archiven
hinterlassen; in den Vitrinen der Schau kann
man sich über einige der Folianten beugen und
seinem immer wieder anders geschriebenen Na-
men hin ter her rätseln. Viel dreht sich um Geld;
van Eyck war ein bestens bezahlter Hofkünstler,
der in höchsten Kreisen verkehrte. Sein Dienst-
herr, der burgundische Herzog Philipp der Gute,
schickte ihn mehrfach auf geheime diplomati-
sche Missionen. Einmal hilft ihm der Künstler
sogar bei der Brautschau und malt in Portugal
zwei Porträts der Auserwählten, Isabel, die er
dem daheim gebliebenen Bräutigam schickt, eins
auf dem See-, eins auf dem Landweg, zur Sicher-
heit. Erhalten sind beide nicht. Im Sommer 1441
stirbt van Eyck; sein Grab wird später mit der
Kirche, in der es lag, eingeebnet.
Bleiben seine Bilder, von ihm teilweise selbst-
bewusst si gniert, was zu dieser Zeit noch längst
nicht üblich war. Sogar ein Motto hat sich der
frühe Superstar seiner Zunft gegeben: »Als ich
can«. Es changiert zwischen höflicher Demut
und Hoffart, zwischen »so gut ich eben kann«
und »wie nur ich es kann«. Diese Ambivalenz
prägt auch van Eycks Werk. Der atemberaubende
Realismus ist eine einzige Feier der göttlichen
Schöpfung, von einem frommen Mann geradezu
obsessiv in Szene gesetzt. Zum Beispiel in der
kleinen Tafel Die Stigmatisierung des hl. Franzis-
kus: In den Felsen, an dem der Heilige die Wund-
male Christi empfängt, sind sogar winzige fossile
Einschlüsse hineingemalt. Offenbar hat van Eyck
intensive Na tur stu dien betrieben, vielleicht sogar
im Freien Skizzen angefertigt. Es ist, als stecke in
den nur mit der Lupe erkennbaren Details eine
Botschaft: Seht her, wie wunderbar der HErr die
Welt eingerichtet hat! Und je genauer wir sie an-
schauen und abbilden, desto überwältigender,
unbegreiflicher wird ihre Vielfalt – und damit
Gottes Größe. Ein »irdisches Vergnügen in Gott«
wird der Barockdichter Barthold Heinrich Bro-
ckes diese Form der Kunstreligion 300 Jahre
später nennen. Und so ist auch van Eycks win-
ziger Vogelstrich vom Verkündigungsbild ein
Stück Gottesdienst: Noch in der größten Ferne,
am Rande unseres Wahrnehmungsvermögens,
hat ER alles perfekt eingerichtet.
Hier ist aber auch der Kipppunkt des Mottos
erreicht: Nur er, Jan van Eyck, kann durch seine
Kunstfertigkeit die Wunder der Welt wirklich
sichtbar und verstehbar machen. Zum Beispiel,
dass Adam und Eva tatsächlich die ersten Men-
schen waren, keine fernen Gotteswesen, sondern
behaart wie du und ich. Denn auch das lässt sich
auf den Tafeln mit den beiden erstmals auf Au-
genhöhe studieren. Zwar gelingt es auch van
Eyck nicht, die rund 5 Millionen Haare zu ma-
len, die ein Mensch am Körper hat. Aber wer die
Stoppeln an den Beinen seines Adams sieht, die
versprengten Härchen um dessen Brustwarzen,das Gewölle um den Bauchnabel, bekommt eine
Ahnung von der wahren Fülle, erkennt sich selbst
darin und seine vollkommene Unvollkommenheit.
Gleiches gilt auch für van Eycks Eva: So viel Scham-
haar war nie.Ein grandioser Menschenmaler
vor dem Herrn!Kein Wunder, dass der Altar 1566 vor calvinistischen
Bilderstürmern versteckt werden musste. Ein der-
artiger Realismus beinhaltet schon die Anmaßung,
es Gott gleichtun und selbst etwas Einzigartiges
schaffen zu wollen. So erklärt sich vielleicht auch ein
Teil der vielfältigen Übermalungen, die im Zuge der
Restaurierung entdeckt wurden; an manchen Stellen
überdeckten sie bis zu 70 Prozent der Originalsub-stanz. Die ist nun wieder freigelegt, und der milde
Honigton, in den das Werk seit Jahrhunderten ge-
taucht schien, ist einer metallisch leuchtenden Klar-
heit gewichen. Auch hat das mystische Lamm im
Zentrum der gesamten Kom po si tion nicht mehr die
verstörenden vier Ohren, sondern ein geradezu
menschliches Antlitz mit einem derart durchdrin-
genden Blick, dass die Restauratoren sogar von einem
»Schock« sprechen.
Welch grandioser Menschenmaler van Eyck war,
ist wohl noch nie so deutlich geworden wie gegen
Ende der Ausstellung. Dort sind in einem Raum fünf
seiner Porträts versammelt und nehmen sich gleich-
sam gegenseitig in den Blick. Baudouin de Lannoy,
Gouverneur von Lille, der van Eycks Reisegefährte
bei der portugiesischen Brautwerbung war, schaut
unter seinem gewaltigen Pelzhut unrasiert und mitnur halb geöffneten Augen in unbekannte Weiten.
Der Goldschmied Jan de Leeuw dagegen stiert den
Betrachter derart an, dass man fast den funkelnden
Ring übersieht, den er mit spitzen Fingern am unte-
ren Bildrand präsentiert. Und schließlich ist da
Margareta, van Eycks Frau. Schmallippig-reserviert
scheint sie den Mann zu fixieren, der sie malt. Das
eigentliche Wunderwerk aber ist ihr Ohr unter der
prächtigen Kopfhaube. Mit Licht und Schatten fein
und perspektivisch perfekt modelliert, ist es wie eine
Liebeserklärung an die strenge Schöne. Hier ist die
Ambivalenz von van Eycks Kunst auf die Spitze ge-
trieben: Im Porträt des geliebten Menschen verleiht
ihm der Künstler etwas, das nur ein Gott zu geben
hat – ewiges Leben.Bis 30. April, http://www.vaneyck2020.beFEUILLETON 53
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