Die Zeit - 30.01.2020

(Tina Sui) #1

Prekär in Kaiserslautern


Ist er ein deutscher Didier Eribon? Christian Barons Debütroman »Ein Mann seiner Klasse« erzählt von einer Herkunft aus der Unterschicht VON IJOMA MANGOLD


Werden wir untergehen?


Jonathan Franzens jüngster klimapolitischer Essay hat spektakuläre Shitstorms
ausgelöst. Jetzt kann man ihn auf Deutsch lesen VON ELISABETH VON THADDEN

E


s muss beinhart sein, als denkender
Mensch von einem manischen Opti-
misten regiert zu werden. Die Intellek-
tuellen der Vereinigten Staaten ringen
damit, dass der Klimawandel als eine
Obsession von Pessimisten gilt, die politisch zu
bekämpfen ist, fossils first. Schriftsteller wie Jona-
than Safran Foer oder Jonathan Franzen verdienen
deshalb Extra-Respekt, wenn sie an der guten al-
ten geistigen Arbeit festhalten, die nun mal ihr Job
ist: Kritik.
Nichts anderes hat Jonathan Franzen getan,
dessen ökologische Wachheit seit den Neunziger-
jahren in seinem literarischen Werk Spuren hinter-
lässt. Er hat im September 2019 im New Yorker, nach
ein paar Vorläufern, einen bedenkenswert ernüch-
terten Essay veröffentlicht: What If We Stopped
Pretending? The Climate Apocalypse is Coming. Darin
stand, seit dreißig Jahren wisse man um die Dynamik
und die Ursachen des Klimawandels, seit ebenfalls
dreißig Jahren erreiche der CO₂-Ausstoß dennoch
immer neue Weltrekordhöhen, also sei es an der Zeit,
festzustellen: Ende Gelände. Man könne gern weiter-
hof fen, dass sich die Katastrophe verhindern lasse,
doch er empfiehlt die Alternative: »Oder wir akzep-
tieren, dass das Unheil eintreten wird, und denken
neu darüber nach, was es heißt, Hoffnung zu haben.«
We are doomed – Untergang!
Für diese Optimismus-Verweigerung wurde
Franzen von der Klima-Community mit hurrikan-
haften Shit storms überzogen; die Klimaforscherin
Kate Marvel von der Columbia University emp-
fahl dem Schriftsteller, besser den Mund zu halten
(Shut up, Franzen), in einem Text, der ausgerech-

net am 11. September erschien, Amerikas Tag des
Untergangs. Im Kern sagten Franzens Kritiker
dies: Die Fakten deuten darauf hin, dass es noch
immer politische, technologische, gesellschaftliche
Spielräume gibt, um die Erderwärmung zu be-
grenzen, also weiterkämpfen!
Allerdings sagt auch Franzen: Es kommt auf jedes
halbe Grad der Temperaturminderung an, mithin
auf den sofortigen Umbau sämtlicher Infrastruktu-
ren. Er fügt unterdessen zudem selbstkritisch hinzu,
etwas weniger Untergang und dafür eine Prise mehr
Hoffnung sei dem Menschengeschlecht insgesamt
wohl zuträglicher. Nur bleibt er skeptisch, ob sich die
Alltagsgewohnheiten dieser Spezies in kurzer Zeit
radikal ändern ließen, zumal die amerikanischen.
Dieser Auffassung darf man wohl sein. Franzen hat
sich deshalb einer anderen Spezies zugewandt und
kümmert sich nun um den Vogelschutz.
Der Essay, ergänzt um ein Vorwort und ein
Zeitungsinterview, erscheint jetzt als Mini-Büch-
lein auf Deutsch (Jonathan Franzen: Wann hören
wir auf, uns etwas vorzumachen? Rowohlt, Ham-
burg 2020; 64 S., 8,– €), und zwar in dem Mo-
ment, wo das Potsdam-Institut die klimapoliti-
schen Handlungsspielräume bis 2050 umreißt
und Europa den Plan eines Green New Deal vor-
legt. Die Wette läuft. Von Kafka stammt die Be-
merkung, es gebe unendlich viel Hoffnung, nur
nicht für uns. Franzen variiert diesen Satz: »Es gibt
keine Hoffnung, außer für uns.« Für Menschen.
All das ist hinreißend widersprüchlich. In Europa
lässt sich darüber noch reden.

Lesen Sie zu diesem Thema auch Wissen, S. 37

G


ewalt und Scham spielen in
Christian Barons autobiografi-
schem Roman Ein Mann seiner
Klasse eine wichtige Rolle. Die
Scham über die erfahrene Ge-
walt demütigt mehr als diese
selbst. Letztere kann man in sich reinfressen und
wegdrücken, die Scham aber bringt die Außenwelt
ins Spiel: dass man in den Augen der anderen als
asozial gilt.
Gewalt ist in Barons Herkunftswelt etwas, das
jederzeit ausbrechen kann, wenn der Vater besof-
fen nach Hause torkelt – sie gleicht einem Gewit-
ter, bei dem man auch nicht nach den Gründen
fragt, sondern es abregnen lässt. Am schlimmsten
ist es, wenn die Kinder schon im Bett liegen, aber
hören müssen, wie der Kopf ihrer Mutter gegen
die Wand knallt. Dann vergräbt der kleine Chris-
tian seinen Kopf unterm Kissen, um möglichst
wenig mitzubekommen. Wie der Nachbar von
oben drüber, der sich immer, wenn er im Treppen-
haus an der Wohnung von Christians Eltern vor-
beigeht, einen Walkman aufsetzt.
Einmal holt Onkel Ralf Christian und seinen
Bruder Benny mit dem Auto, einem Ford Taunus,
ab, es soll eine Überraschungstour zum Holiday Park
werden. Alle sind in Hochstimmung. Onkel Ralf hat
seine Lieblings-CD mit dem Titel Gröööhl! eingelegt,
raucht und singt bei geöffneten Fenstern alle Sauf-
lieder mit. Es herrscht Hochstimmung, auch die
Kinder strecken die Köpfe durch die Fenster in den
Fahrtwind. Der Ausflug mit dem Onkel ist Urlaub
von der Gewalt zu Hause. Doch wenn sie an den
Ampeln stoppen, versinkt Christian im Sitz, er
möchte nicht von einer Lehrerin, die zufällig des
Weges kommen könnte, gesehen werden.
Als sie vor einer Ampel stehen, hält neben ihnen
ein Geländewagen. Der Fahrer kurbelt das Fenster
runter und brüllt mit finsterer Miene rüber: »Was
bist du denn fürn Depp?«
Onkel Ralf: »Hast du ein Problem?«
Der Geländewagenfahrer: »Dir sollte mal je-
mand eine aufs Maul hauen!«
Die Männer steigen aus. Der Typ ist ein Hüne.
Als er sieht, wie klein Ralf ist, ist er fast ein bisschen
irritiert: Wie soll denn daraus eine vernünftige
Schlägerei werden?! »Hat Kinder im Auto und
raucht«, sagt er schließlich: »Was fürn Assi.«
Um dieses Buch haben sich die Verlage schon
gerissen, da existierte es nur als Exposé. Sein Autor,
Redakteur beim Freitag, hat seine eigene Geschichte
aufgeschrieben. Er trifft damit einen Nerv der Zeit,
denn unsere Gegenwart plagt das schlechte Gewissen,
sich nur für die bürgerliche Mittelschicht zu interes-
sieren und darüber die Lebenswirklichkeit anderer
Milieus (in denen möglicherweise das viel »echtere«
Leben spielt) nicht in den Blick zu bekommen.
Es gibt (mindestens) drei Gründe für dieses
schlechte Gewissen:
Erstens neigt das gesellschaftliche Establishment
dazu, sich selbst zu reproduzieren. Vor sechs Jahren
schrieb an dieser Stelle Florian Kessler über die Li-
teraturinstitute in Hildesheim und Leipzig eine treff-
liche Polemik mit dem ironischen Titel »Lassen Sie
mich durch, ich bin Arztsohn!«. Seine Kritik: Wenn
man sich die Studenten und späteren Dozenten in


Hildesheim anschaue, sei erkennbar, dass sich nur
die Kinder aus dem gehobenen Bildungsbürgertum
durchsetzten. Das sei nicht nur ungerecht, sondern
auch eine Verarmung der Erfahrungswelten, um die
die deutsche Gegenwartsliteratur auf diese Weise
betrogen werde. Es gab viel Widerspruch auf Kesslers
Text, aber ein schlechtes Gewissen hatten alle – als
seien sie erwischt worden.
2016 erschien, zweitens, auf Deutsch Rückkehr
nach Reims des französischen Soziologen Didier
Eribon. Er, der schwule Intellektuellen-Star der Pa-
riser Kulturschickeria, kehrt in diesem autobiogra-
fischen Text zurück in die Welt seiner Herkunft, in
jenes Arbeitermilieu, das einst die Kommunisten, nun
aber Le Pen wählte. Das Buch war in Deutschland
ein größerer Erfolg als in Frankreich, und einstimmig
seufzten alle: Auch wir brauchen dringend mehr Ein-
blick in jene Welt, die eher von einem neuen starken
Führer als von Diversity träumt.
Dann folgte drittens Trumps Sieg bei den ame-
rikanischen Präsidentschaftswahlen. Seither stand
Hillary Clinton und mit ihr die linke Identitäts politik
stark in der Kritik: Clinton habe die weiße Arbeiter-
klasse zugunsten einer Minderheitenpolitik für
Frauen, Schwule und Immigranten vernachlässigt
und von ihr nur in wegwerfendem Ton als den »Ab-
gehängten« gesprochen. Zwar beeilten sich die Ver-
treter der Identitätspolitik zu versichern, hierbei

handle es sich um einen Denkfehler, man dürfe das
eine nicht gegen das andere ausspielen, im Konzept
des intersektionellen Feminismus seien Diskrimi-
nierungserfahrungen durch soziale Herkunft immer
schon mitgedacht – aber so recht ließ sich der Ein-
druck nicht zerstreuen, dass woke ness, also jene Sen-
sibilität für Benachteiligungen, eher eine Attitüde
urban-hedonistischer Bildungsmilieus war als direkte
Pulsfühlung mit dem Prekariat.
Jedenfalls erwachte im Nachgang zu Trumps
Wahlsieg ein neues Klassenbewusstsein, der Hash tag
#Arbeiterkind trendete auf Twitter, und in der Li-
teratur wurde der Ruf nach Romanen aus der Ar-
beiterklasse noch lauter.
In diesem Kontext also platziert sich der Roman
Ein Mann seiner Klasse. Baron, Jahrgang 1985, ist in
Kaiserslautern mit drei Geschwistern aufgewachsen.
Der Vater Möbelpacker und daueralkoholisiert. Die
Mutter stirbt, als Christian zehn Jahre ist, die Kinder
ziehen zu deren Schwester Juli und ihrem Mann Ralf.
Ab da wenden die Dinge sich zum Besseren. Der
Kontakt zum Vater reißt so gut wie ganz ab. Was
zurückbleibt beim Autor, ist der Schmerz, seinen
Vater nicht so lieben gekonnt zu haben, wie er ihn
eigentlich hätte lieben wollen.
Es ist ein reizvoller Stoff, den Baron entfaltet.
Wie in der Pop-Literatur seligen Angedenkens
spielen auch bei ihm Markennamen und Musik-

bands eine Signalrolle, nur dass die sozialen Er-
kennungscodes diesmal aus der Trash-Welt stam-
men. Doch der Trash-Hohn bleibt einem im Halse
stecken, wenn man sieht, wie das Computerspiel
Super Mario Bros. den Vater und seine beiden Söh-
ne zu einer seligen Gemeinschaft zusammen-
schweißt oder wie beglückt die Mutter zu Hause
auf die Songs der Kelly Family tanzt – ein fast uto-
pischer Moment. Trotzdem ist das Buch mehr in-
teressant als wirklich gut. Ich glaube, dies hat mit
zwei Schwächen zu tun.
Das eine Problem steckt schon im Titel. Ist dieser
Vater wirklich »ein Mann seiner Klasse«? Ist Alkoho-
lismus und Gewaltbereitschaft wirklich ein Klassen-
merkmal? Karl Marx sprach in diesem Zusammen-
hang durchaus erbarmungslos vom »Lumpenprole-
tariat«, und für das hatte er in seiner Theorie der
kommenden Revolution keine Funktionsstelle vor-
gesehen. Einmal kehrt der Vater nach Jahren zu sei-
nen Kindern zurück, die mittlerweile bei Tante Juli
leben. Er nimmt sich eine seiner Töchter auf den
Schoß und nennt sie Lena. Es ist aber Laura. Ist es im
Sinne der Problemlösung sinnvoll, darin den Effekt
der kapitalistischen Klassengesellschaft und nicht
doch eher die Wirkung des Alkohols zu sehen?
Für den Autor gibt es eine starke Motivation, das
Unglück bei einem übergeordneten systemischen
Zusammenhang abzuladen, auf den dann wütend zu

sein eine legitime Reaktion ist: Wenn es nämlich der
Kapitalismus mit seiner ungleichen Verteilung von
Gütern und Chancen ist, der es dem Vater unmöglich
gemacht hat, seinen Kindern Liebe und Verantwor-
tung entgegenzubringen, dann darf er, der Sohn, ihn
freisprechen und kann ihm postum jene Liebe zeigen,
für die es zu Lebzeiten keinen Raum gab.
Wie Didier Eribon beschreibt auch Baron seine
Familie als typisch für eine Schicht, die einst links
tickte, heute aber »nicht mehr auf die Idee käme, die
SPD oder die Grünen als Vertreter ihrer politischen
Interessen zu begreifen«.
Dabei gewinnt man gar keinen so ungünstigen
Eindruck vom Sozialsystem: Wann immer sich eine
realistische Chance zu effektiver Unterstützung bie-
tet, versagt es nicht. Sehr schlecht schneidet bei Baron
Herr Schofel vom Sozialamt ab. Er behandelt die
Familie wie den letzten Dreck, solange er in ihnen,
marxistisch gesprochen, Vertreter des Lumpenpro-
letariats sieht. Als er feststellt, dass unter Tante Julis
neuem Regiment Regel und Verantwortung einzie-
hen, ändert sich seine Einstellung schlagartig, und
die Familie erhält seine volle bürokratische Unter-
stützung: »Unsere Armut hatte in den Augen des
Herrn Schofel inzwischen etwas Edles angenommen.
Wir blieben arm, waren aber sauber geworden.«
Die zweite Schwäche des Buchs hat mit der
Sprachlosigkeit des geschilderten Milieus zu tun.
Baron entscheidet sich, diese Sprachlosigkeit nicht
durch psychologische Deutungen eines allwissenden
Erzählers zu kompensieren. Das ist eine ästhetische
Entscheidung, die man verstehen kann. Trotzdem
wüsste man doch gerne ein bisschen mehr, was in den
Köpfen von Vater, Mutter und den beiden Großvä-
tern vorgeht. Wenn sich ein Autor den Blick in die
Köpfe seiner Figuren versagt, dann muss er dafür
äußere Bilder finden, die etwas vom Innenleben der
Protagonisten erahnen lassen.
Nach dem Tod der Mutter trifft Christian sei-
nen Vater vor dessen Tod noch einmal. Da fällt
ihm dieser plötzlich unvermittelt in die Arme: »Ich
fühlte mich wie ein Boxer, an den sich der erschöpfte
Gegner klammert, aber nicht, um ihn zu umarmen,
sondern um ihn kampfunfähig zu machen, um im
Spiel zu bleiben, obwohl er genau wissen musste,
dass er diesen Kampf nicht gewinnen konnte.« Das
ist ein starkes Bild, doch davon gelingen Baron zu
wenige. Also gerne mehr Unterklassen-Literatur.
Aber bei der literarischen Durchdringung des Stoffs
ist noch Luft nach oben.
Als Christian übrigens in die Pubertät kommt,
kümmert sich eine andere Tante um ihn, die durch
Heirat in ein Bildungsmilieu aufgestiegen ist. Sie
versorgt ihn mit Büchern, ein Lehrer wird auf ihn
aufmerksam, Christian entdeckt die Lust am
Schreiben und wird noch als Schüler Sportreporter
für die Rheinpfalz.

LITERATUR


Christian Baron:
Ein Mann seiner Klasse.
Claasen, Berlin 2020;
288 S., 20,– €,
als E-Book 16,99 €

Pfälzer Kindheit in den Neunzigern: Der Buchautor Christian Baron im Alter von zwölf Jahren

K


übra Gümüşay ist eine bekannte
Aktivistin, die hierzulande für ver-
schiedene feministische und antiras-
sistische Hashtag-Kampagnen verant-
wortlich zeichnet. Geboren wurde sie
1988 als Tochter türkischer Eltern in Hamburg.
Seit Jahren gehört sie zu den gefragten Talkshow-
Gästen, wenn es darum geht, das Kopftuch zu er-
klären oder die Islamophobie der Deutschen oder
die Aggressivität der Muslime oder das Missver-
ständnis um die Aggressivität der Muslime oder die
Vermutung, dass es überhaupt kein Missverständnis
gibt, sondern lancierte Meinungshäufungen rechter
Trolle, die sich auf den numerischen Populismus
der neuen Medien verstehen. Nie steht sie als poli-
tische Journalistin vor der Kamera, sondern stets als
Repräsentantin einer Minderheit, die sie der Mehr-
heit erklären soll. Weil Gümüşay ein Kopftuch
trägt, mit ihrer Gewandtheit aber jede Erwartung
an eine Kopftuchträgerin untergräbt, kommt sie in
eine Unterkategorie: in die der Ausnahme.
Ihr jetzt erschienenes Buch Sprache und Sein ist
eine leidenschaftliche Verteidigungsrede kulturel-
ler Vielfältigkeit. Es heideggert, anders als der Titel
vermuten lässt, kein bisschen. Und es formuliert
den Anspruch, frei von Stigmatisierungen leben zu
wollen. Weil das allererste Werkzeug diskriminie-
render Praktiken Worte sind, ist das Buch eine Ab-
rechnung mit unseren Sprachgewohnheiten.
So wird beispielsweise die Zweisprachigkeit von
Kindern mit türkischen Wurzeln schon in der Schu-
le mehr als Makel denn als Vorzug betrachtet. Ihre
Elternsprache gehört definitiv nicht zu den Prestige-
sprachen. »Türkisch«, schreibt Gümüşay, »das war


eine Sprache von Einwanderern. Türkisch lernt man
nicht, Türkisch verlernt man.«
Aber auch Muttersprachen können problematisch
werden, wenn man sich nicht als illegitimer Teil der
Muttergesellschaft empfindet. James Baldwin, der
aus New York stammte, empfand immer eine gewis-
se Fremdheit gegenüber der Literatursprache seiner
Zeit. Da er nicht länger als negro writer gelten wollte,
ging er 1948 nach Paris ins »Selbstexil«. Englisch war
seine Muttersprache, aber sein Problem mit dieser
Sprache war, »dass sie meine Erfahrung in keiner
Weise widerspiegelte«. Sie war deswegen nie seine
Sprache gewesen, weil er nicht versucht hatte, sie zu
benutzen, sondern sie zu imitieren. Als er das begriff,
reifte in Baldwin ein rettender Gedanke: Die Sprache
wäre dann »vielleicht formbar genug, um die Last
meiner Erfahrung zu tragen«.
Was ist die Last der Erfahrung, von der Kübra
Gümüşay berichtet? Jedes Mal, wenn sie bei Rot über
eine Ampel gehe, habe sie dabei 1,9 Millionen Mus-
lime im Schlepptau. Eine »reaktive Obsession« in
Bezug auf das eigene Bild in der Öffentlichkeit ist
die Folge einer solchen Vereinnahmung. Die ZEIT-
Kolumnistin Mely Kiyak berichtete in ihrer Festrede
zur Verleihung des Otto-Brenner-Preises, noch kein
einziger Text von ihr sei erschienen, der wegen des
fremd klingenden Namens seiner Autorin nicht
Hassbotschaften – durchaus in Briefform, also Old
School – nach sich gezogen hätte.
Doch in Gümüşays Buch geht es nicht nur darum,
was man mit Sprache anrichten kann, sondern auch
darum, was man mit ihr totschweigt. Ein Begriff wie
»alter weißer Mann« geht uns wenige Jahre nach
seiner Etablierung als Kampfbegriff leicht von den

Das Buch »Sprache und Sein« der Aktivistin Kübra Gümüşay erzählt von der Last der Erfahrung, als Individuum
stellvertretend für Millionen Muslime stehen zu müssen VON KATHARINA TEUTSCH

Frisch wie der Morgentau


Lippen. Obwohl teilweise selbst sexistisch,
scheint aber die #MeToo-Debatte einiges in
eine Darstellbarkeit gebracht zu haben, das
sich vorher dem entzogen hatte. Gümüşay er-
innert an den Begriff der »sexuellen Belästi-
gung«, der in den Sechzigerjahren noch kaum
verbreitet war, was es Frauen am Arbeitsplatz
nahezu unmöglich machte, ihr Problem über-
haupt zu artikulieren. Individualität zugespro-
chen zu bekommen ist heute ein Privileg, von
dem immer größere Teile der Gesellschaft aus-
geschlossen werden. Die Debatten um Klas-
sen- und Identitätspolitik schießen ziemlich
tief ins Kraut, und die Rolle der digitalen
Gatekeeper für die Mei nungs distri bu tion ist
hierbei noch unzureichend erforscht.
Böswillig könnte man jetzt sagen, nichts,
was in Kübra Gümüşays Buch stehe, sei wirk-
lich überraschend neu. Und doch ist es frisch
wie der Morgentau. Das liegt daran, dass es
den Versuch unternimmt, mit guten Argu-
menten und anschaulichen Beispielen um eine
bessere Welt zu ringen. Es ist leicht, ein solches
Anliegen als idealistisch und naiv abzutun.
Aber Gümüşay weiß, dass auch der Gestus des
permissiven Abwiegelns Methode hat: »In dem
Moment, in dem ein Begriff wie ›Gutmensch‹
zur Beleidigung wird, blicken wir auf die
Engagierten und die Toleranten durch die
Brille der Rechten.«

Kübra Gümüşay: Sprache und Sein.
Hanser Berlin, Berlin 2020; 208 S., 18,– €,
als E-Book 13,99 €

56 FEUILLETON


Foto: privat


  1. JANUAR 2020 DIE ZEIT No 6

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