Jedes Jury-Mitglied der Sachbuch-Bestenliste vergibt monatlich an vier Sachbücher je einmal 15, 10, 6 und 3 Punkte.
Die Jury: René Aguigah (Deutschlandfunk Kultur), Peter Arens (ZDF), Susanne Billig (Deutschlandfunk Kultur), Ralph Bollmann (FAS),
Stefan Brauburger (ZDF), Alexander Cammann (DIE ZEIT), Gregor Dotzauer (Der Tagesspiegel), Heike Faller (DIE ZEIT), Daniel Fiedler (ZDF),
Jenny Friedrich-Freksa (Kulturaustausch), Manuel J. Hartung (DIE ZEIT), Thorsten Jantschek (Deutschlandfunk Kultur), Kim Kindermann (Deutschlandfunk),
Inge Kutter (DIE ZEIT), Hannah Lühmann (Die Welt), Ijoma Mangold (DIE ZEIT), Susanne Mayer (DIE ZEIT), Tania Martini (taz),
Jutta Person (freie Literaturkritikerin), Bettina von Pfeil (ZDF), Jens-Christian Rabe (Süddeutsche Zeitung),Christian Rabhansl (Deutschlandfunk Kultur),
Anne Reidt (ZDF), Anna Riek (ZDF), Stephan Schlak (Zeitschrift für Ideengeschichte), Hilal Sezgin (freie Autorin), Catrin Stövesand (Deutschlandfunk),
Elisabeth von Thadden (DIE ZEIT), Julia Voss (Leuphana-Uni Lüneburg)Die Sachbuch-Bestenliste für Februar
Dora Benjamin war die Frau von Walter Benjamin, aber vor allem eine Intellektuelle:
Sie schrieb über Musik und Philosophie und verfasste Romane. Eva Weissweiler hat
die Beziehungsgeschichte zwischen Dora und Walter Benjamin untersucht. Ihre
Biografie wirkt wie Serienstoff: Zuneigung, Affären, das erste Kind, schließlich die
Scheidung – und überall stets der rigorose Eigenbrötler Walter Benjamin. 85 PunkteEva Weissweiler: Das Echo
deiner Frage. Dora und
Walter Benjamin
Hoffmann und Campe;
383 S., 24,– €
1 (–)Der Schwede Patrik Svensson hat mit seinem Vater wenig gesprochen, dafür oft und
reichlich Aale gefangen. Die komplexe Geschichte dieser Vater-Sohn-Beziehung
erzählt der Autor durch das Prisma seiner Aalfaszination. Von Aristoteles bis Sigmund
Freud lernt man viel über die komplexe Biologie dieses mysteriösen Tiers – und über
menschliche Sehnsüchte, Ängste und Träume; über Leben und Tod. 61 PunktePatrik Svensson:
Das Evangelium der Aale
A. d. Schwed. v. Hanna Granz;
Hanser; 256 S., 22,– €
3 (–)Die Ökonomen Esther Duflo und Abhijit Banerjee haben 2019 für ihre Studien zur
Linderung der Armut den Wirtschaftsnobelpreis erhalten. Nun erscheint ihr neues
Buch, das die größten Herausforderungen der Weltwirtschaft thematisiert: wachsende
Ungleichheit, Globalisierung, Umweltkatastrophen, Populismus. Die beiden plädieren
für eine Politik, die Reiche besteuert und Armen eine Stimme verleiht. 70 PunkteA. Banerjee/E. Duflo:
Gute Ökonomie für harte
Zeiten
A. d. Engl. v. T. Schmidt et al.;
Penguin; 560 S., 26,– €
2 (–)Am 10. Oktober 2017 explodiert die Bombe: Der Journalist Ronan Farrow
veröffentlicht im New Yorker einen Artikel, in dem er darstellt, wie der Filmmogul
Harvey Weinstein über Jahrzehnte hinweg Hunderte Frauen sexuell genötigt haben
soll. Farrow rekonstruiert den Skandal und zeigt, wie ein Netzwerk Weinstein schützte,
das tief in die Politik und die Medienlandschaft reicht. 43 PunkteRonan Farrow:
Durchbruch
A. d. Engl. v. H. Dedekind,
H. Dierlamm, A. Gravert u. a.;
Rowohlt; 528 S., 24,– €
4 (–)Wie kann man sprechen, ohne in Klischees zu verfallen? Welche Kategorien gibt es,
um Menschen nicht in Schubladen zu stecken? Darüber schreibt die Journalistin
Kübra Gümüşay. Sie macht sich auf die Suche nach einer Sprache, die gemeinschaftliches
Denken zulässt, ohne Differenzen zu kaschieren. Ein Pamphlet für eine Gesellschaft,
die trotz wachsender Unterschiede miteinander reden kann. 42 PunkteKübra Gümüşay:
Sprache und Sein
Hanser Berlin; 208 S., 18,– €
5 (–)Das Buch des Kunsthistorikers Armin Zweite durchmisst das Werk des bedeutendsten
lebenden deutschen Künstlers, Gerhard Richter. Über sein Leben erfährt man wenig,
über das Werk wiederum alles. Zweite legt in einer erkenntnistheoretischen Tiefe und
zeitgeschichtlichen Finesse offen, was Richters europäisch geprägtes Schaffen für die
globale Kunst bedeutet. Ein Buch, das im wahrsten Sinne die Augen öffnet. 37 PunkteArmin Zweite:
Gerhard Richter. Leben
und Werk
Schirmer/Mosel; 480 S., 128,– €
6 (3)Dem Journalisten Jens Bisky gelingt das Unmögliche: der meistbesprochenen Stadt in
Deutschland neue Facetten abzuringen. Sein Berlin-Buch beginnt im 17. Jahrhundert,
als die Stadt zu neuer Größe aufsteigt, sich mit Rom und Paris messen will. Bisky por-
trätiert eine Metropole der Widersprüche: Ort der Macht, der Teilung, der Repression
und zugleich des Widerstands und des ewigen Experiments. 30 PunkteJens Bisky: Berlin.
Biographie einer großen
Stadt
Rowohlt Berlin; 976 S., 38,– €
7 (1)Nach dem wegweisenden Buch Gesellschaft der Singularitäten beschäftigt sich Andreas
Reckwitz in seiner Essaysammlung mit dem Strukturwandel der Gesellschaft. Der
Soziologe seziert die neue Klassengesellschaft, die postindustrielle Ökonomie, die
Konflikte um Kultur und Identität und den Imperativ der Selbstverwirklichung,
woraus Erschöpfung und Demokratiemüdigkeit entspringen. 25 PunkteAndreas Reckwitz:
Das Ende der Illusionen
Suhrkamp; 305 S., 18,– €
8 (7)Mit Leidenschaft begehrt der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer gegen
moralistische Gesinnungsästhetik auf. Sein Buch ist ein Plädoyer für den Hass in Prosa
und Poesie. Er analysiert Szenen der Gewalt von Homer bis Houellebecq und erschafft
eine Ästhetik des Bösen, die den Wesenskern von Literatur beschreibt. »Die Tiger des
Zornes sind weiser als die Rosse der Belehrung«, heißt die These des Buchs. 25 PunkteKarl Heinz Bohrer:
Mit Dolchen sprechen.
Der literarische Hass-
Effekt
Suhrkamp; 493 S., 28,– €
8 (–)Drei Jahrzehnte lang schrieben sich der Staatsrechtler Carl Schmitt und der Historiker
Reinhart Koselleck Briefe. So verschieden die beiden Intellektuellen auch waren: Sie
verbanden philosophische Interessen und historische Fragen. Ihre Korrespondenz
offenbart Schmitts randständige Stellung nach 1945, Kosellecks wissenschaftliche
Karriere und beider Blick auf die politischen Entwicklungen ihrer Epoche. 23 PunkteReinhart Koselleck/
Carl Schmitt:
Der Briefwechsel.
1953–1983
Suhrkamp; 459 S., 42,– €
10 (2)
E
s gibt Romane, die – jedenfalls in Ver-
lagsankündigungen – als »Roman einer
Generation« gelten und ihre Autoren
zu »Stimmen ihrer Generation« ma-
chen. Kathrin Weßling, 35, ist so eine
Generationen-Fürsprecherin. Die Social-Media-
Expertin mit Followern im fünfstelligen Bereich
hat nun mit Nix passiert ihren zweiten Roman vor-
gelegt. Was passiert darin?
Alex wird von Jenny verlassen. Jenny, das ist so
eine ganz besondere Frau, eine, für die Alex sogar
seine Tinder-App deinstallierte. Alex musste nicht
mehr suchen, Alex hatte endlich gefunden. Jenny ist
eine Klassefrau, eine, bei der ein Mann, zumindest
Alex, denkt: Warum will so eine wie sie ausgerechnet
mich? Nun aber ist Alex der Verlassene, er wird de-
pressiv und verbringt den Tag trinkend am und im
Bett. Was bleibt dem jungen Mann in seiner Ver-
zweiflung? Die Familie. Die allerdings lebt in der
Kleinstadt Braus, die Alex schon vor Jahren per Um-
zug nach Berlin glücklich hinter sich ließ. Die Heim-
kehr ist für ihn, der immer nur fortwollte, eine
Niederlage. Zudem hat das Kaff während der Ab-
wesenheit des jungen Mannes nichts an Reiz dazuge-
wonnen. Die Krise verschärft sich.
Kathrin Weßling lässt Alex seine Geschichte in
einem lockeren, bisweilen krampfhaft komischen
Tonfall erzählen. Man sieht ihn förmlich vor sich,
diesen jungen Mann, der nach einer Trennung vor
Freunden beteuert, dass alles schon wirklich und
echt ganz gut ist, nur um dann verlegen und hastig
den letzten Schluck aus der Bierflasche zu nehmen.
Aber es ist ja nicht nur die Beziehungsproblema-
tik, die Alex frustriert! Die Eltern haben sich im Al-
leinleben eingerichtet, der Bruder genießt die klassi-
sche Klein stadt ehe, der ehemalige Freund Tom führt
eine erfolgreiche Bar, während Alex sich in der Groß-
stadt mit einem Programmierjob durchschlägt. Alex
muss sich fragen, warum er in Braus die Sicherheit
sucht, die ihm Berlin nicht bietet, während er die
Kleinstadtbewohner mit Verachtung straft.
Hier beginnen die Probleme des Textes. In dem
nämlich ist Berlin die Stadt, die nie schläft, und Braus
das öde Nest. »Hier gibt es kein FOMO«, Fear of
missing out, keine Angst, was zu verpassen. Ja klar,
weil nix passiert. Ganz im Gegensatz zu Berlin: »Die
Stadt ist ein einziges großes Vorhaben, jetzt schnell
einkaufen, danach in die Tram, nach Hause, morgen
ist dieses Event, am Wochenende Flohmarkt, nächs-
tes Jahr würde ich gerne rausziehen, Wannsee oder
so, Hauptsache aus Neukölln raus, alles so laut und
dirty, alles so anstrengend, puh.« Ja, aber nicht jede
Stadt ist Berlin, und ich nehme doch an, dass auch
dort nicht alles laut und dirty ist? Obwohl ...
Jedenfalls kristallisiert sich bald heraus, dass Alex
und Jenny von einem Zielkonflikt entzweit wurden:
Heimlich nämlich sehnte er sich nach dem Rückzug
aus der Großstadt. Die Ablehnung der Kleinstädter
entspringt seiner projizierten Angst vor der weiten
Welt. Aber über Klischees von Klein- und Großstadt-
leben kommt der Text so nicht hinaus. Klar, die
Leute in ihren Stadtrand-Häuschen mögen hölzerne
Welcome home- Deko- Buch staben vor der Tür stehen
haben, aber das Großstadtäquivalent – die Achtziger-
jahre-Leuchtreklame, die Instagram-tauglich und
verschmitzt durch Monstera-Blätter hindurchlugt –
ist halt auch nicht so originell, wie mancher glaubt.
Über solche habituellen Eigenheiten hinaus fehlt
dem Text der zündende Funke, obgleich Alex, das
muss man schon sagen, in seiner Liebesbekümme-
rung recht unterhaltsam ist, ein bisschen wie Bridget
Jones mit Dreitagebart. Tragischerweise nervt Alex
allerdings schnell, was nicht nur, aber auch an seiner
Weinerlichkeit liegt. Frisch Getrennte dürfen selbst-
verständlich weinerlich sein; im Falle von rom coms
ist der heulsusige Mensch, der über den Verflossenen
hinwegkommen will, Garant für einen Kassenschla-
ger. Allerdings wohl deshalb, weil wir zumeist Frauen
sehen, die so richtig leiden, inklusive Can’t live ifliving is without you-Intonation mit der Haarbürste
als Fake- Mikro.
Nun verraten Studien, dass Männer länger und
nachhaltiger unter Trennungen leiden – warum also
keinen lockeren Roman darüber schreiben? Prinzi-
piell ist das keine schlechte Idee, nur nimmt man Alex
nicht so ganz ab, dass er tatsächlich ein Mann ist.
Achtung, hier begebe ich mich auf ganz dünnes Eis,
sozusagen gespickt mit Klischees über Rollenver-
halten: Flüchtet sich der Durchschnittsmann tatsäch-
lich ins Yoga, um den Trennungsschmerz zu bekämp-
fen? Will er bei Papa mal so richtig »sein Herz aus-
schütten«? Würde ein Programmierer beim Anblick
einer Mikrowelle sagen, dass er gerne seinen Kopf
hineinschieben würde wie Sylvia Plath (allerdings bei
einem Gasherd)? Die Dichterin Plath ist doch die
Chiffre für die verwundete, verlassene Frau, also
vielleicht nicht gerade das ideale Iden ti fi ka tions ob jekt
für einen Mann. Nun mag der Leser einwenden:
Dieser Alex muss kein Durchschnittsmann sein, und
gewiss sind doch nicht alle Männer gleich! Natürlich
nicht, nur ist das Berlin dieses Romans so stereotyp
berlinisch, Braus so stereotyp kleinstädtisch, da ver-
wundert dieser Alex dann doch.
Das alles nährt einen Verdacht: Handelte der Text
von einer verlassenen Frau, so würde er wohl unter
dem Label »Frauenliteratur« laufen. Frauenliteratur
rangiert im deutschen Literaturbetrieb noch unter-
halb von Unterhaltungsliteratur, ist sie doch Unter-
haltungsliteratur von Frauen für Frauen. Um aus demPlot eben keine Frauengeschichte, sondern eine uni-
versale Geschichte über eine existenzielle Krise zu
machen, ist Alex nun also einfach mal ein Mann,
allerdings ohne so richtig Mann zu sein.
Störend kommt hinzu, dass Alex, der ja der Er-
zähler ist, wie jeder Großstadt-Millennial gern in
Anglizismen spricht, weswegen Berlin eben dirty ist,
nicht dreckig. Auch X-Tina war ja dirty, nicht dre-
ckig. Viel schlimmer noch sind die Interjektionen:
Aah, puh, oh. Louis de Funès lässt grüßen.
Über den grotesk-traumatischen Zustand des Ver-
lassenwerdens wurde schon viel geschrieben. Es gibt
da nichts Neues zu sagen, man muss es anders sagen.
Auf einem von Kathrin Weßlings Instagram-Bildern
sieht man den Slogan: »Alles trifft mich, nichts be-
rührt mich.« Dieses Gefühl müsste Alex in Worte
fassen, in welche, die »deep« sind. So aber ist ein
Roman entstanden, in dem emotional, trotz der
vielen Worte, tatsächlich nix passiert.Kathrin Weßling: Nix passiert. Roman; Ullstein,
Berlin 2019; 240 S., 18,– €, als E-Book 14,99 €Aus der Kleinstadt nach Klischee-Berlin: Kathrin Weßlings »Nix passiert«
mißlingt als Millenialroman über den verlassenen Mann VON MARLEN HOBRACKWarum Alex es dirty mag
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mehrkenntzwischenGutundBöse.TIEFE ABGRRRÜNDE IN DER
DEUTSCH-DEUTSSSCHEN GESCHICHTE
VomAutor der
Bestsellerreihe
»Lo st inFu seta«Illustration: Lea DohleEIN PODCAST FÜR KIRCHENFERNE –
WAS DIE BIBEL ÜBER DIE
MENSCHHEIT ERZÄHLT
JETZT ANHÖREN:
http://www.zeit.de/podcastsUnter Pfarrerstöchtern
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