Die Zeit - 30.01.2020

(Tina Sui) #1

Waffenbrüder


Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan brauchen und misstrauen einander. Über die unwahrscheinliche
Partnerschaft zweier mächtiger Männer VON MICHAEL THUMANN UND ÖZLEM TOPÇ U

»Ich erinnere mich / Ich war 18 Jahre alt / Ich bin
in Anatolien / Anatolien ist am Kämpfen / Wir
marschieren / Es ist heiß, nirgendwo Schatten /
Mein Kamerad, Mehmed aus dem Dorf, sagt: /
Bald werden unsere Schmerzen vergehen /
Die Bolschewiki helfen uns / Lenin und Stalin /
Wir werden die Bastarde / ins Meer werfen«

Aus einem Gedicht von Nâzım Hikmet, dem Begründer
der modernen türkischen Lyrik, der aus politischen
Gründen nach Moskau f loh und dort 1963 starb

Zwei Männer senden seit geraumer Zeit immer
wieder bewusst ausgewählte Bilder Richtung Wes-
ten. Strategische Bilder. Die Präsidenten Russlands
und der Türkei besuchen eine Luft- und Raum-
fahrt-Messe in Moskau. Wladimir Putin begrüßt
Tayyip Erdoğan auf Türkisch, anschließend be-
gutachten die beiden Männer die neuesten Flug-
zeuge, Helikopter und Kampfjets aus russischer
Produktion. Nichts an diesem Spaziergang im Au-
gust 2019 dürfte zufällig sein, weder das Eis, das
Putin seinem Gast spendiert (Erdoğan: »Bezahlst
du für mich mit?«), noch die Sätze für die Kame-
ras. Besonderes Interesse zeigt der Türke für den
Tarnkappenbomber Suchoi SU-57, die russische
Antwort auf den amerikanischen
Kampfjet F-35. Seit Erdoğan ein
russisches Luftabwehrsystem ange-
schafft hat, stellen die Amerikaner
den Verkauf ihrer F-35 an die Tür-
kei infrage. Erdoğan weist auf den
russischen Jet und fragt Putin:
»Können wir diese denn jetzt kau-
fen?«, und dieser sagt: »Die könnt
ihr kaufen, ja.«
Szenen einer neuen Verbindung,
die unwahrscheinlicher nicht sein
könnte. Ob es um den Krieg in Sy-
rien oder zuletzt in Libyen geht,
Putin und Erdoğan treten gemein-
sam auf. Obwohl Russland und die
Türkei in beiden Fällen auf unter-
schiedlichen Seiten stehen. Erdoğan
sagte lange, der syrische Diktator
Assad müsse weg – während Putin
zum Garanten von dessen Regime wurde. In Li-
byen unterstützt Erdoğan den von den UN aner-
kannten Chef des Präsidialrats Fajis al-Sarradsch,
Putin steht auf der Seite des aufständischen Ge-
nerals Chalifa Haftar. Das hindert sie nicht, ihre
eigenen Friedensgespräche zu führen. Noch vor
der Berliner Libyenkonferenz luden sie die liby-
schen Kriegsparteien nach Moskau ein. Für Syrien
veranstalten sie, gemeinsam mit dem Iran, Gesprä-
che in der kasachischen Hauptstadt und im russi-
schen Sotschi.
Der Westen kommt da gar nicht mehr vor.
Laut einer Zählung der BBC haben sich Erdoğan
und Putin seit dem Putschversuch in der Türkei
am 15. Juli 2016 bis Oktober 2019 69-mal ge-
sehen oder haben mit ein an der telefoniert. Kürzlich
spottete der türkische Oppositionsführer Kemal
Kılıçdaroğlu: »Die Außenpolitik der Türkei wird
von Putin gemacht!«

Wladimir Putin und Tayyip Erdoğan geben
sich gern als beste Freunde, doch ihr Verhältnis ist
komplizierter. In der Vergangenheit haben sie sich
sowohl umarmt wie bestraft, ge gen ein an der ge-
arbeitet und gemeinsam Verträge unterschrieben.
Ihre Länder teilt eine blutige Geschichte und ver-
bindet eine Zurückweisung durch den Westen.
Doch wie fest ist ihre Verbindung jenseits der In-
szenierung? Im Westen gibt es die Nato-Allianz, es
gab politische Freundschaften wie die von Helmut
Kohl und François Mitterrand. Woran arbeiten
Erdoğan und Putin? Entsteht hier eine Art Allianz
gegen den Westen? Das wäre neu.

Was sie zusammengebracht hat
Wirft man einen Blick in die Geschichte, müssten
sich Putin und Erdoğan tief misstrauen. Die Er-
oberung von Konstantinopel, der heiligen Stadt der
orthodoxen Christenheit, 1453 durch die Osmanen
war ein Trauma für das russische Zarenreich. In 300
Jahren führten die beiden Imperien rund ein Dutzend
Kriege gegeneinander, kämpften um die Krim, um
das Schwarze Meer, um die Herrschaft auf dem
Balkan, um die Zugänge zum Mittelmeer. Allein eine
kurze Phase nach dem Ersten Weltkrieg brachte eine
Annäherung der Säkularen und Re-
publikaner auf beiden Seiten: Wla-
dimir Lenin half dem Republik-
gründer Mustafa Kemal im türki-
schen Unabhängigkeitskrieg (1919–
1923) mit Waffenlieferungen und
Geld gegen die imperialistischen
Westmächte, während er selbst in
einem Bürgerkrieg stand, in dem
seine Gegner vom Westen unterstützt
wurden. Nach dem Zweiten Welt-
krieg schlug sich die Türkei auf die
Seite der USA und der Nato. Der
Weg sollte in die Europäische Union
führen.
Sollte. Wenn man heute danach
fragt, was die Türken an den Westen
bindet, ist die Liste kurz. Noch ist das
Land zumindest formal fest in den
Westen eingebunden. Es stellt die
zweitgrößte Armee in der Nato und war lange ein
treues Mitglied. Doch das Bündnis steckt in der
Krise: Die Türkei und die USA streiten über russische
Waffen und Jets, Erdoğan droht mit dem Rauswurf
der US-Truppen aus der Türkei; die Bundeswehr ist
bereits nach Jordanien umgezogen. Die Türkei ist
immer noch EU-Beitrittskandidatin, aber ohne wirk-
liche Aussicht auf eine Aufnahme. Das Flüchtlings-
abkommen immerhin verbindet Erdoğan mit Eu-
ropa. Angela Merkel hat es Ende voriger Woche in
Istanbul nochmals bekräftigt. Die Vereinbarung
bewirkt zwar, dass weniger Flüchtlinge nach Europa
kommen (und auf dem Weg ertrinken), aber auch,
dass der türkische Präsident alle paar Monate damit
droht, die »Tore zu öffnen«.
Dagegen ist die Liste der empfundenen Krän-
kungen durch den Westen lang. Die Europäer
wollten die Türkei nie in der EU haben, der Wes-
ten habe Putins Angebote der 2000er-Jahre igno-

riert, gemeinsam gegen den Terror zu kämpfen.
Der Westen habe 2013 die regierungskritischen
Proteste im Istanbuler Gezi-Park befördert, so der
Verdacht, ebenso wie die Orange Revolution 2014
in der Ukraine. Putin hat Barack Obamas Herab-
würdigung der »Regionalmacht« Russland nicht
vergessen. Nach dem gescheiterten Militärputsch
in der Türkei 2016 ließen sich westliche Politiker
Zeit damit, den Umsturzversuch zu verurteilen,
was Erdoğan ihnen schwer übelnahm. Da hatte
Putin Erdoğan schon längst kondoliert. Wie im-
mer, wenn der Westen eine Flanke offen lässt,
springt Russland hinein.

Was sie aus ihrem Bündnis machen
Von der Annäherung der beiden Staatschefs profi-
tiert die Wirtschaft beider Länder. Russische Tou-
risten bringen Geld in die Türkei, in diesem Jahr
werden sieben Millionen erwartet, sie überholen
damit die Deutschen. Putin lässt ein Atomkraft-
werk in Mersin bauen, über die neue Gas pipe line
Turk Stream soll der hohe Energiebedarf der Tür-
ken gestillt werden. Russland verkauft der Türkei
moderne Abwehrraketen vom Typ S-400.
Großprojekte dieser Art und ihre sofortige
Umsetzung sind Visitenkarten autoritärer Herr-
scher. Wie man mit politischer und gesellschaft-
licher Opposition umgeht, dürften Putin und Er-
doğan beim jeweils anderen mit großem Interesse
beobachten. Beide bauen den Staat so um, dass er
sich auf die Führung ausrichtet wie Eisenspäne auf
einen Magneten. Erdoğan hat 2017 ein Präsidial-
system eingeführt, Putin setzt gerade eine Verfas-
sungsreform ins Werk, beide wollen noch lange im
Amt bleiben. Kritische Medien und zivilgesell-
schaftliche Organisationen werden unterdrückt.
Jüngst trafen sich in Moskau unabhängige rus-
sische und türkische Journalisten und Vertreter
von Nichtregierungsorganisationen. Am häufigs-
ten war der Satz zu hören: »Ist ja wie bei uns!«

Was sie zusammenhält
Nichts ist Putin und Erdoğan so wichtig wie die
Macht, ihr ordnen sie alles unter: Ideologien, Allian-
zen, Freunde, Feinde, Traditionen. Erdoğan etwa
wird im Westen immer wieder als »Islamist« bezeich-
net. Doch zieht er dieses Gewand vor allem dann an,
wenn es ihm nützt. Wenn nötig, kann er sich auch
liberal oder nationalistisch geben. Putin zeigt sich
gern beim Kerzenanzünden in der Kirche, auch dies
ist kaum mehr als eine instrumentelle Geste. Eher
folgen beide Herrscher einem harten, geschäftsmäßi-
gen Pragmatismus als Prinzipien; sie sprechen gern
über Zahlen. Russland und die Türkei sind noch
lange keine postmaterialistischen Gesellschaften, die
politische Loyalität der Bürger hängt auch davon ab,
was ihnen im Portemonnaie bleibt.
Putin und Erdoğan verstehen einander also,
und das dürfte helfen, ihre an den Fronten in Sy-
rien und Libyen getestete Beziehung zu festigen.
Ihre Treffen erinnern an einen permanenten Ver-
mittlungsausschuss. Auf regelmäßigen Gipfeln in
Moskau, Istanbul, Sotschi und Astana finden sie,

die zu Hause nie Zugeständnisse machen, zum
Kompromiss. Dort teilen sie die Einflusssphären
auf. Erdoğan siedelt die Kurden in Nordsyrien um,
Putin restauriert Assads Herrschaft. Sarradsch darf
auf seinem Posten bleiben, aber Haftar wird auch
irgendwie mitregieren. Beide bekommen Waffen,
Söldner und Beratung, sodass sowohl die Türkei
als auch Russland aus Libyen nicht mehr wegzu-
denken sind. So wird aus dem Gegensatz gemein-
same Politik.
Diese Politik ist nicht frei von Widersprüchen, sie
ist nicht von »Werten« getragen, sondern davon, dass
beide zu ihrem Ziel kommen und eine Win-win-
Situation entsteht. Wie viele Kampfjets kann ich
verkaufen? Wer bekommt die Baugenehmigungen
nach Kriegs ende? Wem kann ich die Aufträge zu-
schanzen? Deshalb duldet Putin Erdoğans Umsied-
lungspläne. Deshalb lässt Erdoğan Putin durchgehen,
dass dieser die Kurdenmilizen in Syrien nicht Terro-
risten nennt, während er den Europäern dafür Tür-
keifeindlichkeit unterstellt. Deshalb regt sich Erdoğan
über Haftar auf, erwähnt dessen Gönner aber nicht
mit einem Wort. Bei Merkels Besuch in Istanbul in
der vergangenen Woche warnte Erdoğan die Kanz-
lerin und die internationale Gemeinschaft, in Libyen
nicht dieselben Fehler zu machen wie in Syrien. Da
kämpfe unter anderem die Söldner-
truppe Wagner, und wer hinter
Wagner stehe, sei ja bekannt. Die
Erläuterung, dass die Wagner-Kämp-
fer aus Russland kommen, sparte sich
Erdoğan.
Die Präsidenten nutzen die Risse
und Spalten an den aufgerauten
Rändern Europas. Die Russen ha-
ben Serbien als Spielfläche, die Tür-
ken sind in Bosnien aktiv. Erdoğans
derzeitiger Lieblingseuropäer dürfte
Viktor Orbán sein, der »liebe
Freund«, Regierungschef einer illi-
beralen Demokratie, so wie er
selbst. Putin schätzt den Ungarn
auch. In Nordafrika und im Nahen
Osten springen Putin und Erdoğan
in die Zonen zerfallender Ordnung
in der Nachbarschaft der EU. Ihr
Einfluss auf Flüchtlingsbewegungen und Warlords
dürfte begrenzter sein, als viele annehmen – doch
gelingt es den beiden Präsidenten, den Anschein
von Allgegenwärtigkeit und Allmacht zu erwe-
cken. Dabei nutzen sie aus, dass die Europäer zer-
stritten sind und schwach wirken. So machen sie
sich unentbehrlich für die EU.

Ein Bund fürs Leben?
Für Merkel und die EU ist dabei wichtig zu wissen:
Wie nachhaltig ist diese Verbindung der »schwierigen
Partner«? Deren persönliches Verhältnis ist viel enger
als die Beziehungen ihrer beiden Länder. Für die
türkischen Exporteure ist Russland ein kleiner Markt,
weniger wichtig als Rumänien. Abgesehen von den
Reisen von Russen an die türkischen Strände gibt es
wenig Austausch zwischen den beiden Ländern. Man
spricht die Sprache des Schwarzmeernachbarn nicht,

man weiß nicht viel über ihn, man fühlt sich ihm
kulturell fern und findet ihn – je nach dem Spin der
aktuellen Fernsehberichterstattung – mehr oder
weniger sympathisch. Bei den Rohstoffen und der
Waffentechnologie braucht die Türkei Russland
mehr als umgekehrt. Das ist die eine Unwucht in
der Beziehung.
Auch ist Putin stärker als Erdoğan, vielleicht
auch unerbittlicher. Das belegt ein Vorfall aus dem
Jahr 2015. Als die Türken ein russisches Kampf-
flugzeug im türkischen Grenzgebiet abschossen,
standen die beiden Länder vor einem Beinahe-
Krieg. Putin demütigte Erdoğan vor der ganzen
Welt und überzog die Türkei mit Sanktionen. Um
die loszuwerden, machte sich Erdoğan für seine
Herrschergröße ungewöhnlich klein, sprach in
Moskau vor und bat in der darauffolgenden Ur-
laubssaison um Verzeihung. Seither ist die Hierar-
chie geklärt. Putin aber ist so klug, Erdoğan das
nicht andauernd spüren zu lassen.
Putin und Erdoğan vertreten nicht ihre Staaten,
sie sind ihre Staaten. Das wirkt wie eine Beziehung
aus dem 20. Jahrhundert, ist aber auf eigenartige
Weise sehr zeitgenössisch. Nach dem gleichen per-
sonalisierten Muster versucht Donald Trump, die
Außenbeziehungen der USA umzubauen. Xi Jinping
stellt sich darauf ein. Und selbst der
eher multilateral veranlagte Emma-
nuel Macron versuchte schon, Putin
oder Trump auf diese Art zu gewin-
nen. Putin und Erdoğan sind die
Meister in dieser Disziplin.
Was beide Präsidenten verbindet,
ist keine Allianz gegen die Nato,
sondern eine Lebensabschnittspart-
nerschaft. Diese Verbindung basiert
auf etwas, das in der EU eher un-
schick ist: auf dem harten, wenig
Rücksicht nehmenden Zweck. Diese
Partnerschaft besteht aber nur auf
Zeit und hat klare Grenzen. Putin
schützt lieber die eigenen Landwirte,
als der Türkei in der Krise zu helfen.
Erdoğan macht keine Anstalten, die
Nato zu verlassen oder der EU den
Rücken zu kehren. Er will aus der
Türkei kein Land wie Kasachstan, keine Kleinmacht
im russischen Orbit machen. Sein gutes Verhältnis
besteht nur zu Putin persönlich. Das Misstrauen von
Russen und Türken gegeneinander lässt sich jederzeit
wiederbeleben, wie die Propaganda nach dem Jet-
Abschuss von 2015 zeigte.
Die Lebensabschnittspartnerschaft kann also
jederzeit in Gegnerschaft umschlagen. Je weniger
Europa und Amerika künftig die Welt gestalten
und sich auf sich selbst zurückziehen, desto weiter
können die beiden Präsidenten in das Vakuum
stoßen. Doch wenn sich der Westen immer mehr
zurückzieht, dürften Putin und Erdoğan noch öf-
ter aufeinanderprallen. Die Ambitionen Russlands
und der Türkei am Mittelmeer und im Nahen
Osten wachsen. So könnte die alte Konkurrenz am
Schwarzen Meer wieder aufbrechen.

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Der türkische
Präsident Recep
Tayyip Erdoğan kauft
von Russland
moderne
Abwehrraketen

Der russische
Präsident Wladimir
Putin verkauft
Waffen, Gas und
Atomkraft an die
Türkei

Foto (Ausschnitte, o. + u.): Russianlook/all4prices/imago


6 POLITIK 30. JANUAR 2020 DIE ZEIT No 6

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