»Besonders wichtig ist mir die Hilfe für die vom IS entführten
und schwer traumatisierten Jesidinnen. Ihnen wurde
unermessliches Leid zugefügt. Düzen Tekkals erster Film
über den Genozid hat mich tief beeindruckt. Wir müssen
das ganze Ausmaß der Verbrechen ans Licht bringen, um
Strafverfolgung und Aufarbeitung zu ermöglichen.«Gerd Müller, CSU, Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und EntwicklungDIE ZEIT: Frau Tekkal, in Deutschland leben
etwa 1200 jesidische Frauen, die vor dem »Islami-
schen Staat« flüchten mussten. Die meisten waren
vorher versklavt und sind Zeuginnen eines Geno-
zids. Welchen Beitrag können sie zur Aufklärung
der Verbrechen des IS leisten?
Düzen Tekkal: Einen großen! Aus Deutschland
kommen nach dem Irak die meisten Hinweise auf
die Täter, bislang mehr als 200 Aussagen von Zeu-
ginnen: Frauen, die selbst vergewaltigt wurden.
ZEIT: Im Oktober 2019 hat die Bundesanwalt-
schaft den Iraker Taha A.-J. von Griechenland
nach Deutschland ausliefern lassen und ermittelt
nun gegen ihn wegen Völkermord, Verbrechen
gegen die Menschlichkeit und Menschenhandel.
Tekkal: Das ist das europaweit erste Verfahren we-
gen des Genozids an den Jesiden, ein Meilenstein,
den wir den überlebenden Frauen verdanken.
ZEIT: Die Ehefrau dieses IS-Mannes steht in
München vor Gericht. Jennifer W., eine 28-jährige
Deutsche. Ihr wird vorgeworfen, sie und Taha A.-J.
hätten ein jesidisches Kind in der sengenden Hitze
ihres Hinterhofs verdursten lassen.
Tekkal: Solche Verbrechen gab es zuhauf, sie wer-
den aber selten aufgeklärt, weil die Beweise schwer
zu sichern sind. Deshalb sind die Aussagen der
Befreiten so wichtig. Mich macht die falsche Tole-
ranz wütend, die IS-Rückkehrer in Deutschland
erfahren, besonders IS-Frauen. Nach dem Motto:
Wir müssen sie reintegrieren, sie brauchen eine
zweite Chance. Nein! Die Täter müssen hart be-
straft werden.
ZEIT: Tun die Strafverfolgungsbehörden genug?
Tekkal: Sie bemühen sich, sind aber zu schlecht
ausgestattet. Täter laufen unbehelligt auch durch
Deutschland. Offiziell und laut BKA sind bis zum- Oktober 2019 mindestens 122 IS-Kämpfer
aus dem Irak und Syrien hierher zurückgekehrt.
Die Dunkelziffer dürfte weit höher sein. Wenn die
Täter nicht bestraft werden, ist das aus Sicht der
Opfer wie eine zweite Demütigung.
ZEIT: Und immer noch sind Jesidinnen in Ge-
fangenschaft, als Sklaven von IS-Kämpfern.
Tekkal: Rund 2000 werden noch vermisst. Die
meisten sind vermutlich Gefangene. Erst vor ein
paar Tagen wurde ein zwölfjähriges Mädchen be-
freit, das fünf Jahre lang versklavt war.
ZEIT: Der Genozid an den Jesiden liegt nun fast
sechs Jahre zurück. Kämpfer des »Islamischen
Staats« hatten im Sommer 2014 im Irak Zehntau-
sende verschleppt, vergewaltigt, getötet. Damals
drehten Sie einen Film über den Völkermord. Wa-
rum sind Sie zurückgekehrt, für einen neuen Film?
Tekkal: Das Thema lässt mich nicht los, seit ich im
August 2014 während der Kämpfe erstmals im
Irak war. Mittlerweile war ich 15-mal dort. Ich bin
selbst Jesidin, der Völkermord an meiner Religi-
onsgemeinschaft war der größte Wendepunkt
meines Lebens.
ZEIT: Ihre Eltern kamen vor 50 Jahren aus der
Türkei nach Deutschland, Sie sind hier geboren
und in Hannover aufgewachsen. Wie wurden Sie
zur Chronistin dieses Verbrechens?
Tekkal: Ich habe Politikwissenschaft studiert und
fürs Fernsehen gearbeitet, wollte aber schon immer
meine Wurzeln erforschen. Ein Film über die Jesi-
den interessierte bei den Sendern jedoch nieman-
den. Also plante ich auf eigene Faust eine Reise mit
meinem Vater in den Irak – genau in dem Sommer
fiel der IS in die jesidischen Städte ein.
ZEIT: Innerhalb weniger Wochen wurden 400.000
Jesiden vertrieben, Tausende Männer und Jungen
hingerichtet, Tausende Frauen und Mädchen ver-
schleppt. Allein 150.000 Jesiden flüchteten ins
Sindschar-Gebirge.
Tekkal: Mir wurde abgeraten, dorthin zu fahren,
und ich bin ja keine Hasardeurin. Aber ich wollte,
dass andere sehen, was da passiert.
ZEIT: Der Film Hawar – Meine Reise in den Geno-
zid erschien 2015. Für Ihren neuen Film Jiyan –
Die vergessenen Opfer des IS kehren Sie mit Ihrer
Protagonistin Necla Mato in den Nordirak zurück.
Was ist die Geschichte dieser jungen Frau?
Tekkal: Necla stammt aus einer wohlhabenden
Bauernfamilie in Kocho, einem jesidischen Dorf.
Sie lebte dort unbehelligt, bis im August 2014 die
Pick-ups des IS in ihr Dorf fuhren, darauf bärtige
Terroristen mit Schwertern und Maschinen-
gewehren. Das Schlimmste an dem Verbrechen,
das dann folgte: Es wäre zu verhindern gewesen.
Denn die Angriffe des IS auf jesidische Siedlungen
hatten in der Nacht auf den 3. August begonnen.
Das Massaker in Neclas Dorf fand erst am 15. Au-
gust statt. Bis dahin hofften und bangten die vom
IS belagerten Jesiden – per E-Mail, Telefon, SMS
gingen ihre Hilferufe in die Welt. Aber Europa
und die Vereinten Nationen reagierten nicht. Die
USA intervenierten zwar, aber auch Tage zu spät.
ZEIT: Necla Mato hatte versucht zu fliehen.
Tekkal: Ja, noch vor Ankunft des IS. Aber auf der
Fahrt raus aus dem Dorf kamen ihr schon andere
Dorfbewohner entgegen, die warnten: Ihr habt
keine Chance, wendet! So kehrte Necla um und
wartete auf die Katastrophe.
ZEIT: Am Ende wurden fast alle Männer des Dor-
fes exekutiert, etwa 700 Frauen auf Trucks geladen
und nach Rakka und Mossul abtransportiert. Was
wurde ihnen dort angetan?
60 GLAUBEN & ZWEIFELN 30. JANUAR 2020 DIE ZEIT No 6
Düzen Tekkal diese Woche in Berlin, vor der Premiere ihres neuen Films »Jiyan – Die vergessenen Opfer des IS«»Die Täter müssen
hart bestraft werden«
Sie reiste fünfzehn Mal in den Irak, um den Genozid des IS an den Jesiden zu dokumentieren.
Ein Gespräch mit der Filmemacherin Düzen Tekkal über die Zukunft der überlebenden Frauen1978 wurde die Tochter
türkischer Einwanderer
in Hannover geboren.
Die Jesidin studierte
Politikwissenschaft und
arbeitete fürs Fernsehen.
2014 reiste sie erstmals
in den Irak, traf zahllose
jesidische Opfer des IS.
Es entstanden ihr Film
»Hawar – Meine Reise in
den Genozid« und der
Hilfsverein Hawar.help.
2020 erzählt ihr neuer
Dokumentarfilm »Jiyan- Die vergessenen Opfer
des IS« vom Schicksal
der versklavten Frauen.
Düzen Tekkal
Tekkal: Sie lebten jahrelang in Gefangenschaft, die
Terroristen vergewaltigten sie brutal immer wie-
der – oral, anal, vaginal. Kinder wurden so oft ver-
gewaltigt, bis sie an inneren Blutungen starben.
Mädchen wurden vor den Augen ihrer Schwestern
gequält, Kinder im Beisein ihrer Mütter.
ZEIT: Necla Mato kam nach ihrer Befreiung als
Flüchtling nach Deutschland. Im Film sagt sie
über ihr Heimatdorf: »Egal, wie viel Angst ich
habe, ich muss da hin.« Warum?
Tekkal: Um weiterleben zu können. Neclas Eltern
wurden in Massengräbern verscharrt, es ist wich-
tig, sich dem zu stellen. Necla sagt: Ich habe über-
lebt, um an die Toten zu erinnern. Diese Frauen
wollen Gerechtigkeit – dass die Verbrecher bestraft
werden. Das gibt ihrem Überleben Sinn.
ZEIT: Auch Nadia Murad, Trägerin des Friedens-
nobelpreises und Sonderbotschafterin der Verein-
ten Nationen, kommt aus Kocho.
Tekkal: Ich habe sie nach ihrer Freilassung mit der
Kamera begleitet, sie war die erste befreite Frau,
die mir ihre Geschichte erzählt hat.
ZEIT: Wie sprechen Sie mit den Überlebenden?
Tekkal: Ganz vorsichtig. Ich dachte oft, ich weiß
schon alles, aber es kam immer noch etwas Neues.ZEIT: Und wie ergeht es Ihnen selbst damit?
Tekkal: An meinem ersten Tag in einem Camp der
Überlebenden, als alle mich anflehten, über ihr
Schicksal zu berichten, bin ich zusammengebro-
chen. Aber, so seltsam es klingen mag: Heute
macht es mich froh, wenn ich die befreiten Frauen
sehe, ihren Mut. In Deutschland unterstützen wir
mit meinem Verein Hawar Help junge Mädchen
und Frauen, und im Irak haben wir ein multireli-
giöses Frauenprojekt, ein Bildungsprojekt und ein
Sportprojekt. Wir kümmern uns um 900 Frauen,
die in Gefangenschaft waren, bieten Alphabetisie-
rungskurse, Traumatherapie und helfen ihnen, Ar-
beit zu finden. Für mich sind diese Augenzeugin-
nen wie Holocaustüberlebende. Ich gebe aber zu:
Wenn du dich jahrelang mit ihren Geschichten
konfrontierst, entgleitet dir dein Leben.
ZEIT: Wie meinen Sie das?
Tekkal: Dass man nicht mehr an sich selber denkt.
Als wir den neuen Film schnitten, kamen meine
besorgten Eltern nach Berlin, meine Mutter fragte:
»Wie lange willst du das noch machen?« Die Frage
erlaubt man sich nicht, wenn man mit den Opfern
solcher Schrecken zu tun hat. Daneben wirken
eigene Probleme winzig.ZEIT: Wie ertragen die Frauen das Erlebte?
Tekkal: Nicht alle ertragen es. Lamia, heute 19 Jah-
re alt, eine der Protagonistinnen meines Films, lebt
völlig isoliert in Kanada. Ihre beiden Kinder, die sie
von den Mördern ihrer Eltern bekam, blieben beim
IS zurück. Manche versuchen, sich umzubringen.
Eine Gefangene rannte ins Feuer und hat nun Ver-
brennungen am ganzen Körper. Wir haben immer
wieder Selbstmorde Überlebender. Ich wiederhole
es: Kraft gibt den Opfern, wenn sie sehen, die Täter
werden zur Rechenschaft gezogen.
ZEIT: 1100 jesidische Frauen und Kinder wurden
2015 in Baden-Württemberg als Flüchtlinge auf-
genommen. An der Entstehung dieses Kontin-
gents waren Sie auch beteiligt?
Tekkal: Indirekt, ja. Damals liefen Ausschnitte
meines ersten Dokumentarfilms über den Geno-
zid im heute-journal. Später sagte man mir, das
hätte die letzten Bedenkenträger überzeugt, die
Frauen aufzunehmen. Vielen anderen Jesiden
blieb nur die lebensgefährliche Mittelmeerroute.
ZEIT: Einige werden nun wieder zurückgeschickt.
Tekkal: Im August 2019 entschied das Oberver-
waltungsgericht Lüneburg, den Jesiden würde im
Irak keine Verfolgung mehr drohen, sie könnten
abgeschoben werden. Ich finde das ungeheuerlich.
ZEIT: Sie haben für die Anerkennung des Geno-
zids gekämpft, traten im Bundestag auf und vor
den Vereinten Nationen in New York.
Tekkal: Ich bin froh, dass UN-Experten begonnen
haben, Gräber im Irak auszuheben und Opfer zu
identifizieren. Aber die juristische Aufarbeitung
läuft viel zu schleppend.
ZEIT: 450.000 Jesiden leben heute noch in Flücht-
lingscamps, eine unglaubliche Zahl – bei einer Re-
ligionsgemeinschaft von einer Million Menschen.
Tekkal: Jesiden haben kein Geld, kein Öl, keine
Lobby. Momentan streiten sich die Syrer, die Ira-
ker und die Türken um ihre Heimatgebiete.
ZEIT: Die kleine Region im Nordirak, um die es
im Film geht, ist seit Jahrhunderten von Jesiden
besiedelt und für sie die religiöse Wiege der
Menschheit wie Jerusalem für die Juden.
Tekkal: Wir werden oft mit den Juden verglichen.
Jeside kann man nicht werden, man ist es durch
Geburt. Auch Jesiden wurden immer verfolgt.
Anders als die Juden haben wir aber keine Heilige
Schrift, unser Glaube wird mündlich überliefert.
ZEIT: Im Film fahren Sie durch die jesidischen
Städte: Alles verlassen, zerstört, ein einziges Trüm-
merfeld. Wie ist die Situation da heute?
Tekkal: Genau so. Ein paar Jesiden halten die Stel-
lung und passen auf, dass keine Beweise vernichtet
werden. In Shingal (Sindschar, Anm. d. Red.), eine
der wichtigsten jesidischen Städte, errichtete der
IS eine seiner Zentralen und exekutierte Tausende
Jesiden. Auf unseren Recherchereisen sind wir an
Feldern voll menschlicher Knochen vorbeigekom-
men, an denen die Hunde nagten.
ZEIT: Sie trafen auch jesidische Jungen, die beim
IS leben mussten. Ein Siebenjähriger, der freikam,
droht seiner Großmutter, sie zu töten, weil sie eine
Ungläubige sei. Im Film machen Sie einen Zeit-
sprung, treffen ihn Jahre später wieder – da redet
er fast gar nicht mehr, ist völlig in sich gekehrt.
Tekkal: Es ist niederschmetternd. Aber haben Sie
gesehen, wie die Oma lacht und sich um ihn küm-
mert mit all ihrer Liebe? Eigentlich braucht er
professionelle Hilfe. Ich habe jesidische Kinder-
soldaten gesehen direkt nach der Befreiung, das
lässt mich nie mehr los. Wie sie geguckt haben.
Wie verwahrlost sie waren. Sie bekamen in Gefan-
genschaft nur alle zwei Tage etwas zu essen, gerade
so viel, dass sie nicht sterben. Viele vergaßen ihre
Muttersprache, manche sogar ihre Namen.
ZEIT: Mit Bundesverteidigungsministerin Anne-
gret Kramp-Karrenbauer waren Sie 2019 im Irak
auf Delegationsreise. Was würde es bedeuten,
wenn die Bundeswehr dort wie angedacht abzieht?
Tekkal: Das wäre fatal, denn die Deutschen sind
Teil der Anti-IS-Koalition. Kurdische und iraki-
sche Streitkräfte genügen nicht als Schutzmacht
gegen den IS. Wenn der Westen in der Region
keine Präsenz zeigt, übernehmen wieder die Isla-
misten. Der Hass ist noch da, die Jesiden würden
sofort wieder in Lebensgefahr schweben. Nach-
barn, die zum IS übergelaufen waren und gemor-
det haben, sind zurück in ihren Orten und leben
weiter, als wäre nichts passiert. Wo Deutsche sta-
tioniert sind, ist Hoffnung und Sicherheit.
ZEIT: Hat die Ministerin die Frauen gesprochen?
Tekkal: Ja. Sie schickte die Männer raus, und eine
Jesidin sagte: Ich erzähle Ihnen jetzt mal von Frau
zu Frau, was mir passiert ist. Ich war vier Jahre ge-
fangen, wurde ständig vergewaltigt, bis ich für
10.000 Euro freigekauft wurde, aber meine
Schwester ist immer noch in Geiselhaft ...
ZEIT: Sie selbst setzen sich weiter für die Opfer
ein, obwohl Sie bedroht werden.
Tekkal: Ja, aus Deutschland kommen noch mehr
Drohungen als aus dem Irak: Du scheiß Jesidin,
du Ungläubige, du Teufelsanbeterin, dich hätte
man vergewaltigen sollen wie die anderen. Ich
werde gestalked, angerufen unter falschen Num-
mern. Aber ich mache weiter, bis jede Frau, jedes
Kind aus der Gefangenschaft befreit ist.Das Interview führte Sebastian Kempkens»Im Irak habe ich jesidische Frauen getroffen.
Wir engagieren uns mit der Bundeswehr im Kampf
gegen den IS, damit sich diese grausamen Verbrechen
nicht wiederholen. Und ich unterstütze Düzen Tekkal,
damit die Jesidinnen die Hilfe und
Gerechtigkeit erfahren, die ihnen zustehen.«Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU,
Bundesministerin für Verteidigung»Düzen Tekkals Verein Hawar.help hilft Jesidinnen,
nach dem Genozid zurück ins Leben zu finden. Wie
wichtig das ist, habe ich im Nordirak im letzten Jahr selbst
erlebt. Kinder, die durch Vergewaltigungen gezeugt
wurden, und ihre Mütter brauchen eine Zukunft.
Solange ihnen im Irak ein sicheres Leben verwehrt ist,
sollten sie in Deutschland Zuflucht finden dürfen.«Annalena Baerbock, Bündnis 90/Die Grünen, BundesvorsitzendeFoto: Vera Tammen für DIE ZEIT