ITALIENRomSÜDTIROLVal Gardena/66
Schneebedeckte Hänge
in goldenem Licht,
Chalets wie aus dem
Märchen und göttliche
Heidelbeertörtchen –
Verbier ist ein TraumWallis?
A
usgerechnet heute ist es
neblig. Wo dieser Text
doch beginnen sollte mit
der berühmten Walliser
Sonne. Hier in der West-
schweiz scheint sie öfter
als anderswo in den Al-
pen, darauf würde ich meine Skier ver-
wetten. Ein Walliser hat es mir mal so er-
klärt: Weil die Berge so hoch sind – 41 der
82 Viertausender der Alpen stehen im
Wallis –, bleiben die Wolken außen an
ihnen hängen. Darum wachsen im Tal die
Aprikosen. Darum lesen die Winzer auf
über 1000 Meter Höhe noch Trauben.
Und darum haben die Skilehrer zwei Ge-
sichtsfarben: weiß, wo die Skibrille die
Augen vor der Sonne schützt; braun ge-
brannt außenrum.
Heute ist kein guter Tag, um mit ihnen
gleichzuziehen. Zumindest sieht es da-
nach aus, als ich von Martigny unten im
Rhonetal hinauffahre nach Verbier. Aber
das Wallis wäre nicht das Wallis, wenn
nicht plötzlich die Wolken löchrig würden
und das Auto durch die Oberfläche des
Nebelmeers bräche wie ein auftauchendes
U-Boot. Ich sehe das Ortsschild Verbier
und spüre, wie mein Herz beschleunigt.
Verbier sieht aus, wie ein Kind ein
Fantasie dorf zur Weihnachtszeit zeichnen
würde. An einem Hang klettern holzige
Chalets empor, je älter, desto dunkler, Zeu-
gen der Sonne. Hinter den Chalets schnei-
den die Berge wie Scherben in den Himmel,
die Spitzen orange bepinselt vom morgend-
lichen Licht. Als ich die Autotüre öffne,
riecht die Luft schon nach Sonnencreme.
So ist das in Verbier.
Das erste Mal kam ich als Jugendlicher
her. Ich wollte damals Skiprofi werden, da-
rum reiste ich von Wettkampf zu Wett-
kampf, von Skiort zu Skiort, den ganzen
Winter lang. In Verbier waren die Pistensteil, und einer der Einheimischen fuhr so
schnell, dass wir anderen gar nicht hätten
antreten müssen. Er hieß Justin Murisier,
heute sehe ich ihn manchmal im Fernsehen.
Damals verließ ich Verbier mit dem Gefühl
der Niederlage. Wie gut dieser Kerl Ski
fahren konnte, wie elegant er die Schwünge
setzte. Es musste daran liegen, dass er hier
aufgewachsen war. Ich dagegen fuhr nach
Hause in den Schwarzwald.
Seit damals überkommt mich jedes
Mal ein seltsames Gefühl, wenn ich nach
Verbier fahre. Manchmal denke ich, dass
ich diesem Ort hinterherlaufe wie einer
Ex-Freundin, von der ich nicht lassen kann.
Auch heute spüre ich ein nervöses Kitzeln,
als ich in die Gondel steige. In Verbier
fahren noch die alten Großkabinen-
gondeln. Die mit einem Ruck abheben,
die surren und rattern und die an den Stüt-
zen schwingen, sodass manche ein erschro-
ckenes »Wuuuu« von sich geben. Außer in
Verbier sieht man solche Gondeln heute
vor allem auf Vintage-Postkarten, die ein
Früher beschwören, in dem die Ski noch
lang und schmal waren und die Hütten
sich bogen unter der Schneelast.
Von La Chaux schwebe ich hinauf auf
den Col des Gentianes und von dort zum
höchsten Punkt des Skigebiets, dem Mont
Fort, 3330 Meter hoch. Kaum habe ich
die Gondel verlassen, kribbelt es wieder.
Von links nach rechts recken die be-
rühmtesten Viertausender der Alpen ihre
Gipfel in die Höhe: das stolze Matterhorn,
das majestätische Weisshorn, die kantige
Grand Jorasses, der runde Mont Blanc. Es
gibt kaum einen zweiten Ort, von dem
aus man den schönsten und den höchsten
Berg der Alpen, das Matterhorn und den
Mont Blanc, gleichzeitig sehen kann.
Behutsam lege ich meine Skier auf den
Schnee, klicke mich in die Bindungen. Noch
ein Blick in die Ferne, dann schiebe ich an.Vom Mont Fort fahre ich eine Piste hi-
nab, die eigentlich gar nicht Piste heißen
dürfte. Sollen andere ihre planierten Auto-
bahnen so nennen. Der Mont Fort ist derart
steil, dass keine Pistenraupe hinauffährt. Bei
Neuschnee wird der Berg so zu einer Tief-
schneerampe, die Skifahrer schnell in eine
der längsten Buckelpisten der Alpen ver-
wandeln. Buckelpiste – noch so ein Wort,
das der moderne Skisport verdrängt hat. Ich
schließe die Beine und reihe Kurzschwung
an Kurzschwung, spüre die Kälte des Fahrt-
winds und die Wärme der Sonne. Neben
der Strecke entdecke ich ein Schild, es
warnt: »Itineraire réservé aux bon skieurs.«
Nur gute Skifahrer, bitte.
Ein paar Fahrten später treffe ich in
der Schlange zum Sessellift zufällig einen,
auf den dieses Schild mehr als auf alle
anderen in Verbier zutrifft. Jérémie Heitz
ist einer der bekanntesten Skifreerider der
Welt, er stammt aus einem Dorf in der
Nähe von Verbier. Heitz fährt Ski wie ein
Verrückter. Selten auf der Piste, meistens
im freien Gelände. Er springt über Fels-
klippen, rast durch Couloirs und be-
zwingt die steilsten Wände der Alpen. Ich
habe alle seine Filme gesehen, jetzt bitte
ich ihn um ein gemeinsames Foto. Er
lacht, kommt wohl öfter vor.
Vor ein paar Jahren startete Heitz auch
bei der Freeride World Tour, dem vielleicht
beklopptesten Sportevent der Welt. Dabei
rasen Skifahrer felsdurchsetzte Wände hi-
nunter, es gibt nur einen Startbogen oben
und einen Zielbogen unten, dazwischen
kann jeder fahren, wie er möchte. Das Fi-
nale dieser Tournee des Wahnsinns findet
jedes Jahr in Verbier statt, im Dorf herrscht
dann Ausnahmezustand. Aus Sonnenliegen
betrachten Skihipster entspannt die Profis.
Wer die kühnste Linie findet, gewinnt. Der
letztjährige Gewinner, ein Franzose, sprang
einen Rückwärtssalto über eine der größtenFelsklippen. Da rasteten sie unten völlig aus.
Es ist diese Begeisterung für den Sport, auch
den abgedrehten, die mir an Verbier gefällt.
Während anderswo Gabaliers Hulapalu
schon morgens aus den Boxen dröhnt, ist
Skifahren hier noch heiliger Ernst. Was aber
nicht bedeutet, dass Genuss für die Walliser
ein Fremdwort wäre.
Es ist bereits früher Nachmittag, als ich
zur Cabane du Mont Fort abfahre, einer der
sonnengebeizten Berghütten. Bald 100 Jah-
re alt, gehört die Hütte heute einem Berg-
führer, der auch Raclette und Fondue auf-
tischt, Gästen aber lieber das Croûte de
Fromage in der gusseisernen Pfanne emp-
fiehlt – eine mit Käse überbackene Brot-
scheibe mit Champignons, Spiegelei und
Silberzwiebeln. Vorteil Schweiz: Mit ge-
schmolzenem Käse schmeckt alles besser.
Vorteil Verbier: Der Käse ist hier nicht ein-
mal das Highlight. Der Aprikosensaft dazu
schmeckt so intensiv, als habe eine Bäuerin
die Früchte eben vom Ast gepflückt. Und
dann sind da noch die Tartelettes aux myr-
tilles, Heidelbeertörtchen, die mir ein alter
Engländer ans Herz legt, der seit Jahren
nach Verbier kommt. Die Törtchen schme-
cken so cremig, als könnten sie nur im
Traum existieren. Oder eben in Verbier.
Vielleicht ist es so, denke ich, als ich
bereits auf der nächsten Buckelpiste unter-
wegs bin: Der Skifahrer ist im Kern Ro-
mantiker. Er träumt von steilen Abfahrten,
staubendem Pulverschnee und der Sonne,
die ihm dabei ins Gesicht scheint. Leider
sind solche Tage ziemlich selten, ein Zu-
fallsprodukt der Beziehung zwischen Him-
mel und Erde – was den Skifahrer oft zu
einem hoffnungslosen Romantiker macht.
In Verbier, würde ich sagen, ist die Chance
aber deutlich größer als anderswo, einen
dieser Tage zu erwischen.
Der Himmel wird schon dunkel, als ich
die Talabfahrt nehme. Unten stelle ich dieSkier vor den Pub Mont Fort und trete ein.
Drinnen läuft Rap, dazu tanzen verboten gut
aussehende Menschen in Skiklamotten.
Ich muss an das zweite Mal denken, das
ich nach Verbier kam. Ich war Anfang 20,
den Traum vom Skiprofi hatte ich begraben.
Mit zehn Freunden hatte ich in Verbier ein
Chalet gemietet, in Deutschland sehr viel
Bier gekauft und es unter Missachtung der
Zollbestimmungen ins Land geschmuggelt.
Oben am Col des Gentianes trafen wir da-
mals auf eine Gruppe junger schöner Men-
schen, die alle bunte Overalls anhatten. Sie
trugen den Skibrillenabdruck im Gesicht,
und es war ihnen anzusehen, dass sie sich
im Leben bislang nur wenig Sorgen hatten
machen müssen. Ein Mädel, sie kam aus
Schweden, erklärte uns den Auflauf. Sie
seien die sogenannten seasonaires, Jugend-
liche aus ganz Europa, die den ganzen
Winter vor Beginn des Studiums in Verbier
verbrachten. »Ski, Party, Sleep, Repeat«, das
sei ihr Programm, und an diesem Tag wür-
den sie ein Fest feiern, zu dem nur Retro-
Einteiler erlaubt seien.
Im Pub Mont Fort tanzen auch heute
die seasonaires. Längst sind es andere als
damals, doch sie scheinen noch zu feiern
wie eh und je. Es wäre leicht, die seasonaires
zu verachten. Gepuderte Schnöselkinder,
die in den Chalets ganz oben am Hang
leben. Ich verachte sie aber nicht. Ihr
Reichtum hatte für mich schon damals
nichts Obszönes, eher glaubte ich, einen
kurzen Blick ins Paradies zu erhaschen.
Einen kompletten Winter Ski zu fahren,
es gibt für mich wenig schönere Vorstellun-
gen. Ganz schnell hätte ich einen Skibrillen-
abdruck im Gesicht. Vielleicht führe ich bald
so elegante Schwünge wie Justin Murisier,
vielleicht traute ich mich durch Felsrinnen
wie Jérémie Heitz. Das Leben durch die
rosarote Skibrille. Ganz sicher würde ich
jeden Tag ein Heidelbeertörtchen essen.Verbier bietet Abenteurern steile Abfahrten und erfüllt Romantikern viele Sehnsüchte VON MARIUS BUHL
REISE-SERIE (I)
WO IST DER WINTER AM SCHÖNSTEN?
ODER
Schroffe Steinriesen,
knallige Gondeln vor
ganz viel Weiß und
Holzschnitzkunst: Ein
Skigebiet, das sich auch
sehen lassen kannSüdtirol
M
an soll den Tag ja
nicht vor dem Abend
loben, aber morgens
um zehn ragt die
Krone des mythi-
schen Bergs plötzlich
direkt vor einem auf.
Ragt 1000 Meter in die Höhe, eine fast
senkrechte Wand aus Kalzium gestein.
Der Langkofel, die Ikone des Val Gardena,
ist jetzt, an der Bergstation der Sessel-
bahn, geradezu intim und nahbar. Man
könnte sich an ihn lehnen, seinen Körper
berühren. Nichts als Sonne in diesem
Moment, minus acht Grad, der junge
Himmel tiefblau.
Das Folgende ist unausweichlich: Ski-
stöcke einstechen, Ski abschnallen, Helm
lüften. Andacht. Ehrerbietung. Fünf Mi-
nuten schmachten. Und das Verblüffends-
te? Stille. Das Surren der Lift anlagen, hier
und da ein Ratschen bremsender Ski, ein
paar menschliche Stimmen, mehr nicht.
Als richte sich alles aus an der Anziehungs-
macht des Berges. Keinem Skifahrer dürfte
es in diesem Moment möglich sein, dem
Langkofel den Respekt zu verweigern. Die-
ser Gipfel, 3181 Meter über dem Meer, er
lebt. Er spricht. Komm her, sagt er, als wäre
er ein Freund. Und jetzt fahr los, flüstert er
dann, ich bin immer da.
Nach fünf Minuten also schiebt sich
der Skifahrer an, erreicht den Kipp-Punkt
der Kuppe, nimmt Tempo auf und spürt
den Fahrtwind an die Jacke schlagen. Der
erste Rechtsschwung carvt sich in die
perfekt planierte Piste, und dann swingt
man erst hinab und schließlich hinüber
zu den Bergen der Sellagruppe, als sei al-
les, was man an diesem Tag tun wird, von
einer mysteriösen Beschwingtheit durch-
drungen. Es geschieht nicht oft, dass der
durchaus erfahrene Skifahrer vor Ver-
zückung schreit.Das Gebiet Dolomiti Superski im Süd-
tiroler Val Gardena mit insgesamt 500 ver-
bundenen Pistenkilometern ist ohne Zweifel
ein von der Natur privilegiertes Gesamt-
kunstwerk. Wo immer einer der 450 Lifte
endet, offenbart sich ein neues Bühnenbild.
Ein unerwarteter Aufzug in einem weiteren
Akt Skifahrtheater. Eine interaktive Alpin-
Oper, als glitte man auf unterhaltsamste
Weise durch eine zum eigenen Vergnügen
entworfene Kulisse. Beinah willenlos gibt der
Skitourist sich der Choreografie hin und
fährt durch jene Partien der Bergwelt, in
denen ihm die Gipfel, Zinnen und Grate
Tuchfühlung gestatten.
So muss sich in den 1970er-Jahren auch
die »Sellaronda« ergeben haben, die »Runde
um den Sellastock«, die zuerst die Idee be-
geisterter Skitouristen war, ehe sie mit vielen
Liftanlagen in die Tat umgesetzt und zur
Legende wurde. Anfangs umrundete man
die Sellagruppe gegen den Uhrzeigersinn;
das ist heute die grün ausgeschilderte Tour,
die am Nachmittag in den Schatten führt.
Später ging es auch im Uhrzeigersinn herum;
das ist die orange markierte, lichtvollere
Tour, weil sie dem Weg der wandernden
Sonne folgt. Vier bis fünf Stunden Skikarus-
sell über 26 Pistenkilometer, ohne dass der
cruisende Skifahrer auch nur irgendwo müh-
sam stapfen müsste. Endet eine Abfahrt,
bringt einen sofort ein Zubringer-Schlepper
zum nächsten Vierersessel. Leitet einen die
Piste ins Tal, steht dort bereits der Gondellift
zur Auffahrt aufs nächste Joch parat. Alles
ist mit allem verbunden, fließt wellenartig,
schwungvoll und geschmeidig, als wäre es
ein organisches Geflecht. Die Berge der
Dolomiten fallen auch nicht, zickzack,
schroff in lichtlose Täler ab, sondern laufen
gerne in Hochalmen aus, wo es flacher und
großflächiger zugeht und, wie etwa auf
Europas größter, der Seiser Alm, geradezu
lieblich wird.Während einer der manchmal zwan-
zigminütigen Seilbahnfahrten von einer
Alm zur nächsten loben ausgerechnet zwei
Schweizer die ständig neu gestalteten und
generalüberholten Liftanlagen.
Beginn der Sellaronda ist überall. Jedes
der drei im 25 Kilometer langen Tal gelege-
nen Dörfer St. Ulrich, St. Christina und
Wolkenstein bietet drei Einstiege ins Karus-
sell, die meisten Fahrer starten von der
Station Ciampinoi in Wolkenstein. Oben
geht es entweder auf die über dreieinhalb
Kilometer lange Saslong, die tiefschwarze
Weltcup-Abfahrt mit den »Kamelbuckeln«
und enormem Gefälle, oder gleich weiter
hinauf zum Sellajoch. Sodann ostwärts zum
Pordoi-Joch, weiter nach Arabba und nach
Portavescovo, wo als Trophäe für die Bewäl-
tigung elaborierter Steilhänge die Krone der
erhabenen Marmolada zu erspähen ist, des
mit 3342 Metern höchsten Berges der Süd-
tiroler Dolomiten.
Manche sagen, die Runde um den Sel-
lastock sei die berühmteste Skitour der
Welt, und doch ist sie für die meisten Ski-
fahrer gut machbar, 80 Prozent der Pisten
sind rot oder blau. So auch in Colfosco im
rechter Hand abzweigenden Edelweißtal.
Welch Poesie an einem banalen Montag-
morgen! Vier Liftanlagen, hart planierte
Hänge, der Blick geht ins gegenüber lie-
gende Mittagstal des Sellamassivs. Für
Tiefschneefahrer ist dieses Tal eine Offen-
barung, für alle anderen, wenn sie einen
Sinn für Großartigkeit in sich tragen, ein
weiterer Grund zum Jubeln.
Irgendwo ist aus einem im Gebäum
rechts der Piste versteckten Lautsprecher
Thunderstruck von AC/DC zu hören, das
lässt einen vielleicht noch tiefer in die
Hocke gehen, aber sonst ist das Dolomi-
ten-Skitheater auf angenehme Weise frei
von Rummel und Schickeria, von Event-
Getue und Party-Posing. ArtifiziellesDrama braucht es hier nicht, die Dolo-
miten besorgen die nötige Dramatik: Mit
ihren senkrechten Abbruchkanten und
an geschrägten Flächen, den hingetropften
Türmchen und spitz zulaufenden Nadeln,
den Terrassen und Schächten, Rinnen
und Scharten, Zinnen und Graten wirken
sie wie gigantische Bergkristalle, die, je
nach Licht, in jedem nächsten Moment
schon wieder anders aussehen. Weil viele
Partien der Kalksteinformationen zu steil
sind, als dass der Schnee liegen bleiben
könnte, macht dieses Gebirge nicht den
monothematischen Eindruck einer zuge-
schneiten Fläche, sondern bietet dem
Auge fast immer spektakuläre Strukturen.
Man darf das Skigebiet Val Gardena
trotz allem bodenständig nennen. Im
Schnitt kostet die Pasta auf den Hütten
nur zwölf Euro. Und überhaupt: Italieni-
sche Küche auf der Skihütte! Ladinische
Kulinarik mit Speckknödel und Schlutz-
krapfen! Und das Ganze wird einem auch
noch an den Tisch gebracht! Wo, bitte
schön, gibt es das sonst auf der Welt?
Und wenn hier einmal von einer »Funzo-
ne« die Rede ist, wie an der Colfosco-Station
im Edelweißtal, dann mutet das merkwürdig
albern an. Hier braucht’s keinen Extra-Fun,
die Natur allein verfügt über reiche Gaben,
über südalpine Sonnengarantie an 300 Tagen
im Jahr und ab 1800 Metern bis jetzt über
Schneegarantie trotz Erderwärmung. In
Gröden ist der an vielen anderen Orten ver-
lorene Winter noch da und Skischam, trotz
einsatzbereiter Schneekanonen, bis auf Wei-
teres ein wenig selbstgerecht.
Die letzte Sensation bahnt sich ab 16
Uhr an. Den Col Raiser hinauf, dann die
Seceda, 2518 Meter. Ski abschnallen, Helm
lüften, zu Fuß bloß weitere zwanzig Meter
ein Hügelchen hinauf. Auf dem höchsten
Punkt des Südhangs thront ein mächtiges
Gipfelkreuz samt Gottessohn, ein Stückladinische Herrgottschnitzkunst, wie sie im
Val Gardena seit dem 17. Jahrhundert le-
gendär ist. Auf dieser Kuppe, als wäre sie
Golgatha, offenbart sich in einer Körper-
umdrehung das 360-Grad-Panorama der
italienischen, französischen, schweizerischen
und österreichischen Alpen, die unermess-
liche Schönheit beschneiter Spitzen, Gipfel
und Grate. Die Sonne sinkt auf den Schlern
herunter, den Westpfeiler der Dolomiten.
Sein Fels leuchtet rosa und dann ocker. Um
kurz vor halb fünf scheint es denkbar, dass
die Einheimischen im Recht sind mit ihrer
traditionellen Überzeugung, Gott müsse ein
Grödener gewesen sein.
Dann die Ski anschnallen und nach
einem adretten Riesenslalom mit weit ge-
dehntem Linksschwung hundert Höhen-
meter rüber an den Fuß des Naturparks Puez
Geisler zur Troier Hütte auf 2250 Meter.
Wohltuend abgelegen, familiengeführt. Vorn
auf der Terrasse mit rotem Stoff bezogene
Liegestühle als Logenplätze, der Blick reicht
bis zum Horizont, und weit hinten, im
Dunst der blauen Stunde um halb fünf,
wacht die Marmolada. In der Kälte dampft
frischer Kaiserschmarrn, der Hüttenvater
serviert noch einen »Willi«, Williams-
Schnaps mit Birnenstück, der Rest ist
Schweigen. Windstille. Seinsstille. Die Ses-
sellifte stoppen. Das Bühnenfestspiel ruht.
»Nrosadura« – Alpenglühen auf Ladinisch.
Aus dem Lautsprecher der Troier Hütte
haucht Cat Stevens Morning Has Broken, und
während sich über dem Seceda-Hang der
Abend ausbreitet, bricht indirekt tatsächlich
der nächste Morgen an, in Kürze kommen
die Planierraupen. Ideale Zeit, den Tag an
diesem Abend zu loben. Die Piste ist so poe-
tisch wie menschenfrei. Der Skifahrer macht
sich an die finale Abfahrt. Er schwingt und
carvt die Seceda hinab, den gegenüber thro-
nenden Langkofel immer im Augenwinkel,
und mehrmals schreit er vor Verzückung.Das Val Gardena ist ein großartiges Skitheater mit ständig wechselnder Kulisse VON CHRISTIAN SCHÜLE
Nächste Woche in unserer dreiteiligen Winterserie: Wien oder St. Petersburg?
VERBIER
Gemeinsam sparen
Verbier ist teuer, sehr sogar.
Am besten bringt man viele
Leute mit, mietet gemeinsam
ein Chalet und kocht selbst.
Dann kommt man mit etwas
Glück mit 150 Franken pro
Person und Woche hin. Und
wer im benachbarten
Veysonnaz, Nendaz oder
La Tzoumaz nächtigt, mit
Verbier-Zugang über das
Skigebiet 4 Vallées, kommt
noch günstiger wegIn die Strandbar
Ob es hier den besten Kaffee
gibt? Schwer zu sagen. Was sich
über die Offshore Coffee Bar
sagen lässt: Nirgends kommt
man der speziellen Gattung
Freerider näher als hier. Das
Interieur erinnert eher an eine
Strandbar als an eine Berghütte.
Aber groß ist der Unterschied
zwischen Powder-Skifahren und
Surfen ohnehin nicht.
offshorecafe.comSicher ist sicher
Verbiers Offpiste-Varianten
erkundet man am sichersten
mit einem Bergführer. Die
findet man im »Bureau des
Guides« an der Dorfstraße.
Das nötige Equipment
(Airbag-Rucksack,
Lawinenschaufel, Piepser)
verleihen alle SportgeschäfteVA L G A R D E N A
Im Dunkeln um die Wette
Die legendäre Sellarunde
kann man auch bei Nacht
fahren – und sogar um die
Wette! Beim Sellaronda
Skimarathon treten Teilnehmer
in Zweierteams mit Tourenski
und Helmlampen an und
bewältigen auf 42 Kilometern
Strecke 2800 Höhenmeter.
Das nächste Rennen findet
am 27. März statt.
sellaronda.itStolz auf Holz
Um die berühmte ladinische
Holzschnitzkunst zu erleben,
muss man nicht unbedingt bis
zum Gipfelkreuz der Seceda
hinauf (auch wenn man das
natürlich unbedingt sollte!).
Das Museum Gröden in
St. Ulrich zeigt Werke aus vier
Jahrhunderten – von den ersten
Bildhauern bis zu Künstlern
des 20. Jahrhunderts.
museumgherdeina.itFür Zuschauer
Wer Skifahrern auch gern
zusieht, kann das im Val
Gardena auf höchstem Niveau
tun: Auf der Saslong kämpft
die Skisport-Elite regelmäßig
um den Sieg in Abfahrt und
Super-G im alpinen Weltcup,
das nächste Mal am- und 19. Dezember 2020.
saslong.org
Verbier/WALLISSCHWEIZFotos: Yuriy Biryukov/Shutterstock (2); Shutterstock (u.) Fotos: cdbrphotography/Getty Images; Christophe Boisvieux/laif; Marius Buhl (u.)
- JANUAR 2020 DIE ZEIT No 6 67