Die Zeit - 30.01.2020

(Tina Sui) #1

Ich wollte nicht mehr Ausnahme-Mensch sein, ich wollte
nicht mehr verachtet werden. Und ich wollte nicht mehr
auf der Straße angepöbelt werden.
Das ist Ihnen auch als Kind schon passiert?
Die ganze Zeit, ja. Da kamen irgendwelche Jungs auf
mich zu, rissen mir die Mütze vom Kopf, warfen sie in
einen Baum hinein und sagten: »Jetzt kletter mal hoch,
du Aff.« Oder einmal, ich war erkältet, habe ich auf der
Straße kurz ausgespuckt, da lief eine Krankenschwester an
mir vorbei und sagte: »Ich weiß eh, dass ihr Juden auf uns
spuckt.« Mit so etwas musste man leben, und unter den
Nazis wurde es noch härter.
Ihr Vater war ursprünglich von seinem Vater nach Wien
geschickt worden.
Es war wie bei den Rothschilds, nur kleiner. Der Pelz-
handel der Familie wurde auf drei Städte aufgeteilt, Prag,
Brünn, Wien, jeder der drei Brüder zog in eine der Städte,
und mein Vater ging nach Wien. Man vertraute sich und
handelte un ter ein an der.
Es war die Zeit der K.-u.-k.-Monarchie, als Wien die
Hauptstadt eines riesigen Reichs war, Osteuropa und der
Balkan gehörten dazu, selbst Teile von Italien.
K. u. k., ja, kaiserlich und königlich, davon schwärmte
man auch zu meiner Zeit.
Über Ihre Mutter haben Sie einmal geschrieben, sie sei
»Gutmütigkeit und Nachgiebigkeit in Person« gewesen.
Ja, bei unserer letzten Begegnung vor ihrem Tod hat sie
mir gesagt: »Wirf dein Leben nicht weg, wie ich meines
weggeworfen habe.«
Wie war Ihr Vater?
Ein typischer deutscher Spießbürger. Er sah gar nicht jü-
disch aus, kahlköpfig, Schnurrbart, klein gewachsen. Er
war sehr von seiner Mission als Erzieher überzeugt, be-
lehrend. Einmal im Monat ging er ins kunsthistorische
Museum und einmal im Monat ins naturhistorische Mu-
seum, immer mit mir.
Ihrem Gesichtsausdruck entnehme ich, dass Sie gerne auf
diese Besuche verzichtet hätten.
»Bilde dich«, hat er immer gesagt, »mach was aus dir, tu was.«
Was Sie ja auch gemacht haben.
Aber damals – na ja. Immerzu musste ich Gedichte aus-
wendig lernen, das war auch sehr deutsch: »Sag mir mal
was vom Faust!« Den Faust-Monolog kann ich bis heute.
»Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin ...«
Das assimilierte Judentum in Österreich und Deutsch-
land war bildungssüchtig, es ging darum, sich weiter-
zuentwickeln, auch was die Geschäfte betraf. Eines der
größten Steueraufkommen damals in Österreich kam von
den Juden. Vor allem aus dem sogenannten Fetzenviertel,
in dem wir wohnten ...
... dem Textilviertel mit vielen Geschäften ...
... genau, auf diesem Viertel beruhte die ganze Wiener Se-
zessionskunst, Klimt, Schiele, Wiener Werkstätte, das wur-
de von Juden gekauft, gesponsert und gesammelt. Ist alles
verloren gegangen. Egon Schiele war sehr pedantisch, er


hat eine Käuferliste geführt, die ich später einmal einsehen
konnte. Die Hälfte seiner Käufer waren Juden, und das bei
einem Bevölkerungsanteil von vielleicht drei Prozent.
Es gab noch ein zweites, ganz anderes jüdisches Viertel in
Wien, die sogenannte Mazzesinsel.
Dort lebten die armen Ostjuden, sie machten ihre Ge-
schäfte unter härtesten Bedingungen, zogen viel über
Land, sie wurden nur verachtet und gehasst. Der Schrift-
steller Arthur Schnitzler kam von dort. Auch ich wollte
mich aus alldem lösen, ich war ein geistiger Mensch, ich
wollte Dichter werden.
Stimmt es, dass Sie bereits als Jugendlicher ein Heftchen
hatten, auf dem stand: »Georg Trollers gesammelte Werke«?
Stimmt! Mit 16 oder 17 habe ich mir eine Schreibmaschine
geliehen und meine gesammelten Gedichte in das Heft hi-
neingetippt. Weiß Gott, was daraus geworden ist.
Das Heft haben Sie verloren?
Es blieb ja alles zurück.
Wegen der Flucht.

Auf dieser Schreibmaschine
schreibt Georg Stefan Troller seine Texte

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