Die Zeit - 30.01.2020

(Tina Sui) #1

Ein Einwohner von Concord arbeitet an der Fassadendämmung seines Hauses. Rechts: Ein Fluss in der Kleinstadt Barnstead


Oh nein, verdammt, leicht macht es uns dieser angeblich
so entspannte, lässige, freiheitsliebende Bundesstaat New
Hamp shire nicht, zu seinen Einwohnern zu werden.
Es ist der 2. Januar 2019. Wir stehen in der Portsmouth
City Hall und legen alles auf den Tresen, was wir mit-
bringen sollten, Visum, Ausweise und die höchst heilige
social security number, als die Frage erklingt: »Habt ihr
ein Auto?«
»Nein. Wieso?«
»Ohne Auto geht das nicht.«
»Bitte, was?«
»Ihr braucht ein Auto.«
Und ja, verdammt, die Dame meint das ernst, ohne Auto
bleibt man hier rechtloser Fremder, aber immerhin kann sie
uns ein Auto empfehlen: Subaru Outback, Allradantrieb,
alles andere ist für Anfänger, Stadtmenschen, die nicht wis-
sen, dass New Hamp shire im Winter im Schnee versinkt.
Wir verschwinden und kaufen uns einen Subaru Outback
von 2014 und kommen zurück.
Sie: »Wo ist euer Führerschein?«
Ich: »Bitte?«
Sie: »Euer New-Hampshire-Führerschein?«
Ich bin an jenem Tag 51 Jahre alt und fahre seit 33 Jahren
mit meinem deutschen Führerschein weitestgehend un-
fallfrei Auto, doch dies ist New Hampshire: Der deutsche
Führerschein zählt nicht.
Also lenke ich, führerscheinlos, den Subaru Outback in die
Hauptstadt von New Hamp shire, Concord, und dort zur
Automobilbehörde, wo mir die Sachbearbeiterin sagt, dass
mein Journalistenvisum mich leider nicht zur Prüfung be-
rechtige, woraufhin ihr Vorgesetzter erklärt, Journalistenvisa
würden sie hier nicht kennen und Journalisten auch nicht,
aber ein Visum sei das Ding in meinem Ausweis zweifellos;
nach Stunden des Wartens ist es heute aber zu spät für die
Prüfung, weshalb ich zwei Wochen später wiederkommen
darf. Knapp bestehe ich theoretisch und haarscharf prak-
tisch: »You were speeding«, schimpft der Prüfer, 30 Meilen
pro Stunde statt 25 sei ich fünf Sekunden lang gefahren.
»Du hast Glück, ich habe gute Laune.«

Mit dem eigenen Subaru Outback (mit Elch auf dem Num-
mernschild), Führerschein sowie Visum, Ausweis und So-
zialversicherungsnummer geht es zurück in die City Hall.
Die Dame am Tresen: »Habt ihr einen Mietvertrag?«
»Haben wir.«
»Notariell beglaubigt?«
»Nein. Muss?«
»Muss.«
Also wieder raus und hinein ins süße Stadtzentrum von
Portsmouth, das aus nur einem Platz besteht, dem Market
Square – sowie den ersten zwei-, dreihundert Metern der
vier davon abzweigenden Straßen. Der Mietvertrag wird
von der Notarin beglaubigt; und zurück geht es zur City
Hall. Und endlich, tatsächlich sind wir eingetragene »resi-
dents« des amerikanischen Bundesstaats New Hamp shire,
der stolz darauf ist, seine Einwohner in Ruhe leben zu lassen
und sie niemals bürokratisch zu quälen.
Freiheit ist das Wort aller Wörter in diesem New Hamp-
shire, und im Wesen der Freiheit liegt es, dass sie sich auf
viele Arten deuten lässt.
Motorradfahrer bringen sich auf New Hampshires Straßen
ohne Helm um, dafür im T-Shirt und auf Harley-David-
sons; eine Helmpflicht jedenfalls wäre unfrei.
Die Bürger haben keine Eisenbahn, kaum Busse, keine öf-
fentlichen Schwimmbäder, und auch die Postämter haben
die Innenstädte längst verlassen, denn es gibt keine Steuer-
einnahmen, da es keine Mehrwert- und Einkommensteuer
gibt. Die Zeitung The Union Leader aus Manchester liebt
es, allen Politikern vor deren Kandidatur The Pledge, »den
Schwur«, abzuverlangen: Ich schwöre, keine Steuern ein-
zuführen. Aber, schon verstanden, die Menschen sind gerade
deswegen ganz und gar frei, und die Reichen fühlen sich
sogar so – Freiheit hat halt bloß, manchmal, ihren Preis.
Es gibt ein Drogenproblem in New Hampshire, ein gewal-
tiges sogar, im Innern des Bundesstaats kann man es »Epi-
demie« nennen. Crack ist verbreitet, Schmerzmittel wie das
auf Schulhöfen in ganz Amerika angebotene Fentanyl gibt
es auch, und ein soziales System, eine ernst zu nehmende
Gegenwehr, existiert nicht. Der Preis der Freiheit.

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