Neue Zürcher Zeitung - 27.01.2019

(Sean Pound) #1

12 ZÜRICH UND REGION Montag, 27. Januar 2020


Die Zeichen stehengut, dass der Kantonsrat den A-4-


Zubringer Obfelden/Ottenbach endlich ermöglicht SEITE 13


Aus Rache dieFabrik des Arbeitgebers angezündet –


Obergericht glaubt Ausflüchtennicht SEITE 13


«Da muss ich mich an der Nase nehmen»


Michael Hengartner, der Rektor der Universität Zürich, wechselt im Februar an die Spitze des ETH-Rats. Im Gespräch mit Nils Pfändler


und Robin Schwarzenbach blickt er selbstkritisch auf seine Amtszeit zurück und sagt, was er sich für seine Nachfolge wünscht


Michael Hengartner, Ihre Amtszeit als
Rektor hätte eigentlich bis im Sommer
2022 gedauert. Nun verlassen Sie die
Universität Zürich vorzeitig. Warum?
Theoretisch hätte ich bis zu meinerPen-
sionierungRektor bleibenkönnen. Aber
mir war von Anfang an klar, dass das
nicht derFall sein wird. Eine Universi-
tät braucht einenregelmässigenWechsel
an der Spitze. DieFrage war, wie lange
ich etwas bewegen und die Hochschule
entwickeln kann.


Weshalb ist jetzt der richtige Zeitpunkt?
Eigentlich wäre ich gerne nocheine
ZeitlangRektor geblieben – es ist der
beste «job in town».Aber mitdem
Rücktritt vonETH-Rats-PräsidentFritz
Schiesser hat sich eine der spannendsten
Optionen eröffnet. DieserJob war jetzt
zu haben, in zweiJahren nicht mehr. Der
Markt für Altrektoren ist nicht so gross.


Was war am Ende ausschlaggebend für
Ihren Entscheid?
MeineFrau hat mir gesagt: ‹Michael,
jetzt kannst duzu früh gehen.Das
ist zwar schade, aber sonst bleibst du
hängen und verpasst den richtigen
Moment.› Also habe ich mich für die
Stelle beworben.


Sie haben Ihr Amt alsRektor 2014 ange-
treten. Inwelchem Zustandwar die Uni-
versität damals?
Es war eine unruhige Zeit, wir befanden
uns ineiner temporären Krise.


Sie sprechen von der«Affäre Mörgeli».
Genau. Mein Vorgänger (Andreas
Fischer, Anm. d.Red.) ist nach denKün-
digungen von Christoph Mörgeli und
Iris Ritzmann frühzeitig zurückgetreten.
Am Anfang war das Ziel, die Situation
zu beruhigen.Das Vertrauen vonPoli-
tik, Öffentlichkeit, Medien, aber auch
intern musste wiederhergestellt werden.
Wir wollten sicherstellen, dass so etwas
nicht ein zweitesMalpassiert. Wir haben
denRechtsdienst weiterentwickelt. Und
ich habe viel in die interne und externe
Kommunikation investiert.


Hat das gereicht?
Wir hätten noch mehrkommunizieren
können. Die neuste Mitarbeiterbefra-
gung hat gezeigt, dass viele die strategi-
sche Stossrichtung der Universitätnicht
genügendkennen. Damuss ich mich an
der Nase nehmen.


Was ist Ihr wichtigstesVermächtnis?
Ich habe seit meinem Amtsantritt immer
dreiWerte hochgehalten: Mensch,Raum
und Diversität.Die Qualität dieser
Hochschule steht und fällt mit den Leu-
ten,die hier forschen, arbeiten und stu-
dieren. Ihnen müssenRaum und Infra-
struktur geboten werden, im übertra-
genen Sinn aber auchFreiräume. Die
Diversität ist ein Alleinstellungsmerk-
mal der Universität Zürich. Wir sind die
vielfältigste Hochschule der Schweiz.


Bei Amtsantritt haben Sie verschie-
deneVorsätze gefasst. Ein Anliegenwar
Ihnen die Gleichstellung. Der Anteil an
Professorinnen hat sich in den letzten
zehnJahren auf 20 Prozent verdoppelt.
Zufrieden?
Nein.Das bleibt «work in progress». Wir
haben über dieJahre in denFakultäten
den Druck und die Motivation erhöht.
Ich glaube, die Message ist jetzt überall
angekommen.


Das heisst, es gabWiderstand?
Jede kulturelle Entwicklung prallt auf
einen Status quo. Deshalb muss man
ein Anliegen nicht nur einmal vorbrin-
gen, sondern ständig wiederholen und
die guten Beispiele hervorheben.Dann
ziehen die anderen nach.


Ein zweiterVorsatzwar, jungenWis-
senschaftern früher eigenständigeFor-
schung zu ermöglichen. In der Mit-
arbeiterumfrage haben die Nachwuchs-
wissenschafter die akademischeFörde-
rung undBetreuung aber bemängelt.
Dagibt es tatsächlich nochVerbesse-
rungspotenzial.Wir haben bereits ei-
nige wichtige Schritte gemacht, Dokto-
ratsprogramme mit Co-Betreuung ein-
geführt, neue Anlaufstellen für Pro-
blemfälle geschaffen und denAustausch
unter Doktoranden gefördert.

Aber es gibt noch einiges zu tun.
Ja, insbesondereauch bei denPostdocs.
Vielekommen aus demAusland, sind
in einer neuen Stadt, habenkein Netz-
werk und sind häufig noch viel stärker
abhängig von ihrem Professor. Sie ste-
hen in einemKonkurrenzverhältnis zu
ihrem Chef, weil sie eine Stelle im glei-

chenForschungsbereich anstreben.Da
besteht ein inhärenter Interessenkon-
flikt, der bis heute nicht gelöst ist.

Die Universität Zürich blieb bisher von
Negativschlagzeilen wegen Mobbing
verschont. Ist das Zufall, oder funktio-
niert das Krisenmanagement besser als
anderswo?
DieFrage war nie, ob es knallt, son-
dern wann. Und wie gut wir darauf
vorbereitet sind. Jede grosse Organisa-
tion hatschwarze Schafe in ihren Rei-
hen. Besonders an Hochschulen gibt
es viele Leute mit starkenPersönlich-
keiten.Dass wir bisher verschont ge-
blieben sind, hat wahrscheinlich mit
Glück zu tun, aber auch die verschie-
denen strukturellen Massnahmen, ein
funktionierendesFrühwarnsystem und
konstruktives Eingreifen beiKonflikten
haben gewirkt.

Als drittes Zielwollten SieBologna bil-
dungskompatibler machen. Ist Ihnen
das gelungen?
VieleFakultäten haben eineReform der
Reform umgesetzt.Wir sind jetzt so weit,
dass die Nebenfächerkompatible Grös-
sen haben und die Studierenden pro-
blemlos ein Nebenfach in einer ande-
ren Fakultät wählenkönnen. Das Lehr-
angebot ist attraktiver geworden.

Aber die Universität Zürich hat die
Bologna-Erklärung zu eng interpretiert,
wiealle Schweizer Universitäten.
Das stimmt. In dem Dokument sind nur
wenige Eckpunkte vorgesehen:Bache-
lor- und Masterstudiengänge, Kredit-
punkte, Förderung der Mobilität zum
Beispiel. Man muss nicht jedeVorlesung
prüfen. Man kann grössere Lehreinhei-
ten schaffen, die durchaus zuvernetztem
Denken anregen.

Die neuerlichenReformen kommen erst
sechzehnJahre nach der Einführung
vonBachelor und Master. Hat das nicht
etwas lange gedauert?
Die Lehre ist auf Stufe derFakultäten
organisiert. AlsRektor kann man die-
senProzess lediglich unterstützen. Ich
kann nichts befehlen. Ich kann nur mit
moralischerAutorität operieren.Wenn
eineFakultät anderer Meinung ist, sind
die Optionen beschränkt. Man kann die
Universität nicht auf denKopf stellen,
schon gar nicht als Einzelkämpfer.

Um konkurrenzfähig zu bleiben,
braucht die Universität Spitzenforscher.
Wie gelingt es, künftig die hellstenKöpfe
nach Zürich zu holen?
Bei den Berufungen muss die Univer-
sität noch einen Zacken zulegen.Das
sind langfristige Entscheide, denn es
wird 25Jahre in einePerson investiert.
Es braucht eine stringente Analyse der
Bewerbenden, bei der auchFührungs-
qualitäten berücksichtigt werden. Und
die Kandidaten müssen überzeugt wer-
den, nach Zürich zukommen.

Mitwelchen Argumenten?
Die meistenWissenschafter, die sich bei
uns bewerben, sind intrinsisch motiviert.
Sie wollen cooleForschung machen und

Anerkennung bekommen.Das können
wir ihnen bieten. Die Grundausstattung
einer ProfessurinZürich ist massiv
höher als in den USA. Hinzukommen
eine gute Infrastruktur, inspirierende
Kollegen, interessierte Studierende,
vertretbareAufgaben in der Lehre.
Und eine sehr hohe Lebensqualität vor
Ort.Wowürden Sielieberarbeiten:in
Detroit, in Houston oder in Zürich?Wir
haben mehrereTr ümpfe in der Hand.

Die Suche nach Ihrer Nachfolgerin oder
Ihrem Nachfolger ist in vollem Gange.
Was fürFähigkeiten muss diePerson
mitbringen?
Das Verständnis, wie eine Universität
funktioniert, Begeisterung, Kommuni-
kationsfähigkeit und eine klareVision
für die Zukunft.

Welchen Rat geben Sie ihr mit auf den
Weg?
Schätze dieVielfalt und nimm sie auf,
damit du sie selber verstehen und leben
kannst.

Muss es zwingend ein arrivierterWis-
senschafter sein, oder käme auch ein
Managertyp infrage, eine Art CEO?
«Manager» ist ein gefährlicher Begriff.
EinRektorsolltekein Bürokrat sein; er
sollte inspirieren, nicht verwalten. Die
Person muss nicht unbedingt Profes-
sor sein. Aber sie muss die Professoren-
schaft davon überzeugenkönnen, dass
sie mit ihrenVorstellungen die richtige
ist für die Universität.

EinRektor, der nicht Professor ist?
Warum nicht? Professoren sind kritisch.
Aber wenn jemand ein gutes Dossier
vorweisen kann.. .Ich würde mich be-
geistern lassen. Aber ich bin nicht in der
Findungskommission.

Wäre es nachVerena Meyer in den
1980erJahren wieder Zeit für eineFrau
an der Spitze?
Absolut.

Hat das Amt Sie verändert?
Zum Glück nicht zum Negativen. Ich bin
geduldiger geworden, und ich habe viel
gelernt – jedenTag, in jedem Gespräch
mit einem neuen Professor oder einer
neuen Professorin. AlsRektor siehtman
Dinge, die man als Dekan nicht sieht.
Der Blick geht über die eigene Hoch-
schule hinaus, zum Beispiel nach Bun-
desbern oder nach Brüssel.

Als Präsident desETH-Rats dürften Sie
nun nochweiterweg sein von Professo-
rinnen und Professoren und deren wis-
senschaftlicher Arbeit.Damuss IhrFor-
scherherz doch bluten!
Das ist so. Nur:Forscher war ich vor
allem als Doktorand. ImLabor am MIT
konnte ich Dinge entdecken, die vor mir
noch niemand gesehen hat. Sobald ich
Professor wurde, habe ich nie mehr als
Erster vonneuenForschungsresulta-
ten erfahren.Im Gegenteil, ich war oft
der Letzte in meinerForschungsgruppe.
Dann wurde ich Dekan der Mathema-
tisch-naturwissenschaftlichenFakultät
und war noch weiter weg. Aber ich habe
gemerkt, dass man in Leitungsfunktio-
nen vielPositives bewirken kann für
Forschung und Lehre. Ich bin halt sehr
neugierig.AlsWissenschafter ist das
eher ein Nachteil.

Ein Nachteil?
Ja. Mich interessiert alles irgendwie. Als
Forscher hingegen müssen Sie sich auf
IhrKerngebietkonzentrieren.

Warum sind Sie der richtige Mann für
denJob?
Weil ich dasKerngeschäft desETH-Be-
reichs wie fastkein anderer verstehe. Was
braucht dieETH Zürich, was braucht
die Empa, um erfolgreich zu sein?Das
kann ichAussenstehenden gut erklä-
ren, wenngleich ich auf dem politischen
Parkett noch viel lernen muss. «T here is
enough to do» – ich freu mich drauf.

Ihre wichtigsten Themen der kommen-
den Monate?
Offenheit,Autonomie, starkeFinanzen.
Stärkung der Zusammenarbeit inner-
halb desETH-Bereichs, aber auch mit
den kantonalen Universitäten und wei-
teren Akteuren in der SchweizerFor-
schung. Hierkönnten wir noch mehr
herausholen.

Und die Zusammenarbeit in Europa?
Dagibt eskeinen Unterschied zwischen
demETH-Bereich und denkantonalen
Universitäten:Wir müssen geeint auf-
treten und unsereForschungspartner in
Deutschland,Frankreich,Irland, Schwe-
den, den Niederlanden und in den übri-
gen EU-Staaten vermehrt dazu brin-
gen, dass sie ihrenPolitikern sagen: «Die
Schweiz, die brauchen wir!»

Nachfolge für den Sympathieträger gesucht


nil.· Michael Hengartner wurde1966 in
St. Gallen geboren und wuchs im kana-
dischen Quebecauf. Der Molekular-
biologe promovierte am Massachusetts
Institute ofTechnology (MIT) und lei-
tete danach eineForschungsgruppe am
Cold Spring HarborLaboratoryin New
York. 20 01 folgte derRuf an die Uni-
versität Zürich. Ab 2009 war er Dekan
der Mathematisch-naturwissenschaft-
lichenFakultät, 20 14 wurde erRektor.
SeineVergangenheit in den USA macht
sich nicht nur in seinem angelsächsisch
geprägtenForschungsideal bemerkbar
(kleinere Professuren, mehr Drittmittel,
vieleFreiheiten für jungeWissenschaf-

ter), sondern auch im Gebrauch zahl-
reicher Anglizismen. Innerhalb der Uni-
versität gilt der sechsfacheFamilien-
vater alsSympathieträger.
Nach seinemWechselan die Spitze
desETH-Rats übernimmt dieKommu-
nikationswissenschafterin Gabriele Sie-
gertad interimalsRektorin. EineFin-
dungskommission erarbeitet derzeit eine
Nominationsliste, die vom Universitäts-
rat genehmigt und dem Senat weiter-
geleitet wird. Die Kandidaten treten zu
Hearings an, bevor der Senat dem Uni-
versitätsrat einen Antrag aufWahl stellt.
Der neueRektor oder die neueRektorin
tritt das Amt frühestens imAugust an.

«Mich interessiert
alles irgendwie.
AlsWissenschafter
ist das eher
ein Nachteil.»

Der Schweiz-Kanadier Michael Hengartner bezeichnet das Amt desRektors der Uni-
versität Zürich als «the best job in town». SIMONTANNER / NZZ
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