Neue Zürcher Zeitung - 27.01.2019

(Sean Pound) #1

Montag, 27. Januar 2020 WIRTSCHAFT 19


Der Einzelhandel liegt nicht im Sterben,


er erfindet sich gerade neu


Die Zukunft liegt in der kundenfreundlichen Verbindung von Online-Handel und Ladengeschäft


Es gibt Marktbeobachter, die mit


einerRenaissance der Branche


rechnen. Allerdings muss sie sich


«technologisch integrieren» und


denKundennutzen bedingungslos


in denVordergrund stellen.


CHRISTOF LEISINGER, NEWYORK


Das Internethat dieWirtschaft in den
vergangenenJahren kräftig durcheinan-
dergewirbelt – und wennes um die Zu-
kunft des Einzelhandels geht, lassen sich
leichtdramatische Schlagzeilen finden.
Angesichts desAufkommens aggres-
siver Online-Anbieter wie Amazon ist
schnell vom Ende des Detailhandels die
Rede, vomLadensterben oder in den
USA gar von der «Retail Apocalypse».
Tatsächlich haben dort allein im ver-
gangenenJahr gemäss Informationen
von CoresightResearch 9275Laden-
geschäfte geschlossen, gut ein Drittel
mehr als imJahr zuvor.


Perspektivebesser alsdie Lage?


Diese Entwicklung mag zunächst dra-
matisch klingen, allerdings überzeich-
net sie möglicherweise das wahre Bild.
Denn erstens sind gleichzeitig etwa
4500 Geschäfte neu eröffnet worden.
Die Billigkette DollarTree zum Bei-
spiel hat Hunderte vonFilialen eröff-
net, und auch der Ableger des deut-
schen Discounters Aldi expandiert das
Warenhausnetz kräftig. Andere Ein-
zelhandelsunternehmen wie etwa der
BranchenrieseWalmart oder dieKon-
kurrenten Costco und Kroger steigern
ihre Erlöse im E-Commerce-Bereich–
und zwar zumTeil deutlich. So legte der
«digitale» Umsatz vonWalmart im drit-
ten Quartal desvergangenenJahres im
Vergleich mit demVorjahr um 43% zu.
Das mag auch ein Grund dafür sein,
wieso die Stimmung an der diesjähri-
gen Branchenmesse der NRF, also der
NationalRetail Federation, im NewYor-
ker Javits Center nicht allzu schlecht war.
Hunderte vonAusstellern präsentier-
ten dort in den vergangenenTagen ihre
Produkte und Dienstleistungen, die der
Branche helfen sollen, kundenfreund-
licher und vor allem auch effizienter zu
werden. ZumBeispieldie SIX-Betei-
ligungWorldline mit ihrem modernen
BezahlterminalYumi oder das Zolliko-
fer Technologieunternehmen Xovis, das
sich mit der Erfassung und der Analyse


von Bewegungsmustern von Menschen
an Flughäfen oder ebenauch in Einzel-
handelsgeschäften befasst.

E-Commerce nicht überbewerten


«Wer jammert,stellt ohnehin die fal-
schenFragen», argumentierenFachleute
wie etwa der praxiserfahrene Unterneh-
mensberater und Buchautor Michael
Zakkour. Er vertritt die These, dass
«E-Commerce an sich ein unergiebiges
Geschäftsmodell ist». Dieses Metier sei
ein unglaublich hartes Brot mit ausser-
ordentlich niedrigen Margen – und heut-
zutage müsse man zunächst knapp drei
Dollar investieren, um damit überhaupt
einen Dollar zu erlösen.Anstatt sich den
Kopf darüber zu zerbrechen, wie sie den
«digitalenVerkaufskanal» den bestehen-
den Strukturen überstülpenkönnten,
sollten sich Einzelhändler undVertreter
von Markenprodukten überlegen,wie sie
wachsen,wie sie neueKunden gewinnen
und halten und welchen Nutzen sie die-
sen letztlich bietenkönnen.

«DerKonsument möchte nur wissen,
wo er ein qualitativ hochwertiges Pro-
dukt finden kann und wann, wie oder
wo er dieses erhalten kann», sagt Eric
Chemouny vom Beratungsunterneh-
men Proximis. Ihn interessiere nicht, wie
das Einzelhandelsunternehmen hinter
derKulisse organisiert sei, sondern er
wolle nur einekonsistente und verläss-
liche Einkaufserfahrung machen. Letzt-
lich gehe es darum, wie sich ein Einzel-
händler besser vermarktenkönne und
wie sich alles, was mit demVerkauf von
Waren und Dienstleistungen zusammen-
hänge, digitalisieren lasse. Wie etwas
produziert, bewegt, verkauft, erworben
und vermarktet werde. Das Thema sei
die vollständige Integrationvon On-
line, Offline, Technologie, Logistik und
Unterhaltung in einer völlig neuenkom-
merziellen Ära.
«Behauptungen, der Einzelhandel
stehe vor eine Apokalypse, sind lächer-
lich. Er erlebt weltweit gerade eineRe-
naissance. Es gab nie eine bessere Zeit,
um irgendetwas zu verkaufen», gibt sich

Zakkour überzeugt. Erredet von einer
Welt voller Ökosysteme und Lebens-
räume. Etwa jene vonAmazon,Alibaba
und JD.com zusammen mitTencent und
Walmart. Er zeigt sich in diesem Zu-
sammenhang davon überzeugt, dass die
amerikanischen BranchengrössenWal-
mart undTarget aufgrund ihrer techno-
logisch integrativen und dynamischen
Strategie künftig zu den zehn wich-
tigsten Einzelhandelskonzernen der
Welt gehören werden– neben Amazon,
JD.com, Alibaba,Rakuten und Mercado
Libre. Target habe längst einen eigenen
Marktplatz etabliert und setze im Nah-
rungsmittelbereich auf private Marken.

Ein Beispielnamens Freshippo


Wer wissen wolle, wie der Einzelhandel
der Zukunft aussehe, brauche nur ein-
mal ein Alibaba-Geschäft namens
Freshippo zu besuchen, erzählt er von
seinen Erfahrungen in China. Dieses
Geschäftsmodell enthalte alles, was
man voneinem guten Einzelhändlerer-

wartenkönne. Es sei ein hochtechno-
logisches, frisches und cooles Geschäft.
Betritt manFreshippo, kann manBar-
geld vergessen, weil alles digital über
eine App abgewickelt wird.Jedes Pro-
dukt hat einen eigenen QR-Code, und
letztlich wandelt derKunde scannend
durch das Geschäft. Am Ende werden
die gekauften Produkte eingesammelt,
und derKunde hat dieWahl, ob er sie
sich innerhalb von zwei Stunden be-
ziehungsweise zu einem frei wählbaren
Zeitpunkt nach Hause liefern lassen will
od er ob er das Ganze lieber am Eingang
des Ladens fertigverpackt abholt.
TatsächlichscheintesimEinzelhandel
also künftig um die perfekte Integration
von Online- und Offline-Technologien
zu gehen,verbunden miteiner unterhal-
tenden Präsentation zu einer einzelnen,
allumfassendenkommerziellenRealität.
Alles wird interaktiv miteinander ver-
bunden sein.Und falls es ein Produkt ge-
rade nicht geben sollte, wird derKunde
zu einem Shop weitergeleitet, der dieses
liefern kann. Im Keller eines Geschäfts
wäre jeweils die Speerspitze der Logis-
tikkett e zu finden.Sie hätte sicherzustel-
len, dass alles, was man online kaufen
kann, auch physisch verfügbar ist.

ReibungsloserEinkaufgefragt


Das Ergebnis einer repräsentativen
Untersuchung vonForrester Consulting
im Auftrag von Proximis bestätigtdiese
These. Die Erhebung zeigt, dass die
Konsumenten vor, während und nach
dem Kauf eines Produkts auf verschie-
denstenWegen mit dem Einzelhändler
kommunizieren möchten und dass sie
bequeme, reibungslose Einkaufsmög-
lichkeiten «über alle Kanäle hinweg» er-
warten.Viele von ihnen informieren sich
zunächstüberein Produkt online oder
im Geschäft, bevor sie es auf dem von
ihnen bevorzugtenWeg tatsächlich kau-
fen. Schliesslich wollen sie dann wählen
können, ob sie es sich liefern lassen oder
es irgendwo abholen.
So gesehen wird der Einzelhandel
wohl nicht sterben. Aber er wird sich
weiterentwickeln, weilsich die Unter-
nehmen der Branche neu erfinden müs-
sen. Besonders erfolgreich wird wohl
sein,wer «technokratisches Silodenken»
überwindet und primär den Nutzen und
die Interessen desKunden in denVor-
dergrund stellt. Dieser wird die Anbie-
ter bevorzugen, die das Einkaufserleb-
nis am angenehmsten gestalten – sei es
online oder imLadengeschäft.

Die Detailhändler wünschen sich voll e Einkaufswagen – egal ob virtuell im Internet oder real im Ladenlokal. FABIO BRACHT / UNSPLASH

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