Neue Zürcher Zeitung - 27.01.2019

(Sean Pound) #1

Montag, 27. Januar 2020 FEUILLETON 25


Der ehemalige St artenor Rolando Villazón


hat die Mozartwoch e auf sich selbst zugeschnittenSEITE 26


Die iranische Künstlerin Parastou Forouhar zweifelt


am Erfolg der St aatspropaganda in ihrer HeimatSEITE 27


Sie sind so scheusslich brav


Wer bürgerlich lebt, hat es schwer. Einst galt man als Geizhals , heute als Verprasser. Dabei wäre der Bürger Vorbild.Von Pascal Bruckner


Norbert Elias hat uns eine interessante
Anekdote überliefert. EinesTages, so
schreibt es der Soziologe in seinem
Buch «Die höfische Gesellschaft», hat
der Herzog von Richelieuseinem So hn
einen prall gefüllten Geldbeutel ausge-
händigt:Der Spross sollte lernen,wie ein
Grandseigneur Geld auszugeben.Bald
schon brachte ihm der sparsameJunge
aber den vollen Beutel zurück – den der
Herzog wütend zumFenster hinauswarf,
um dem Sohn endlich klarzumachen,
wie mit Geld umzugehen ist.
Sparsamkeit erschien demAdel als
niedererReflex, als Geste der kleinen
Leu te und ruchlosen Händler. In die-
sen Kreisen war man besser angesehen,
wenn man sich mit prächtigenFesten rui-
nierte, als wenn man den Luxus limitierte
oder sich durch bezahlte Arbeiten ent-
würdigte. Diese Haltungkonnte sich die
gute Gesellschaft dank Kriegen leisten,
dank Plünderungen und Erträgen, die
sie Bauern und Untertanen abpresste.
Gold zu horten, galt geradezu als vulgär,
also vergeudete derAdel es lieber. Und
wenn das Geld schliesslich knapp wurde,
wandte man sich einem Gläubiger zu,
möglicherweise ohne ihm die Schulden
jemals zurückerstatten zukönnen.
Als Gegenmodell dazu trat bald ein
fleissigesWesen in Erscheinung, das
durchkonstantes Arbeiten Geld an-
häufte:Vom Bürger ist hier dieRede.
Diese Gestalt durchlief eine erstaun-
liche Karriere – je erfolgreicher sie war,
desto besser taugte sie alsFeindbild, und
bis heute arbeiten sich Kritiker an ihr ab.


Triumph desBuchhalters


Schon früh erhoben etliche Künst-
ler ihre Stimme und schrieben gegen
das rappenspalterische Scheusal an, als
das sie den Bürger begriffen. Die ge-
samte vonRevolution undRomantik
inspirierte Literatur des19. und frühen



  1. Jahrhunderts gleichteiner langen
    Klagerede gegen diesen neuen Men-
    schentypen. Flaubert beispielsweise gab
    zu Protokoll, dass er «Bürger» quasi als
    Synonym fürDummheit verstehe, und
    Balzac charakterisierte ihn in seinem
    «Vater Goriot» nicht viel schmeichel-
    hafter. Der Bürger galt den Literaten
    als nieder, denn in ihrenAugen gab er
    sich nicht damit zufrieden, denAdel zu
    imitieren und das Proletariat auszunüt-
    zen.Nein , er setzte vor allem auch einen
    kleinlichen Lebensstil durch.
    So wurde das Bild des geistlosen
    Lustfeinds verfestigt. Der Bürger, hiess
    es, gehorche einer rigiden Ökonomie
    und halte alle seine Leidenschaften im
    Zaum, um einer einzigen Sache freien
    Lauf zu lassen: dem Geld, seinem wah-
    ren Herzblut. Um diesen Charakterzug
    zu belegen, wurde gerne auf Benjamin
    Franklin verwiesen: Hat der sparsame
    Puritaner nicht daran erinnert, dass sich
    der täglicheVerlust einer Stecknadel
    über das Jahr gesehen zu einerVer-
    mögenseinbusse von mehreren Gro-
    schen aufsummiert?
    Doch, und auch das müssiggänge-
    rische Flanieren hat der Amerikaner
    als ökonomischenVerlust taxiert: «Be-
    denke, dass die Zeit Geld ist; wer täg-
    lich zehn Schillinge durch seine Arbeit
    erwerbenkönnte und den halbenTag
    spazieren geht oder auf seinem Zim-
    mer faulenzt, der darf, auch wenn er nur
    sechsPence für seinVergnügen ausgibt,
    nicht dies allein berechnen,er hat neben
    dem noch fünf Schillinge ausgegeben
    oder vielmehr weggeworfen.»
    Demnach hätte mit dem Bürger der
    Buchhalter triumphiert. Als sich die
    Bourgeoisie zur wichtigsten Klasse auf-
    schwang, hat sie dieser Lesart gemäss
    zwar invielemden ausbeuterischen
    Adel imitiert, den sie eigentlich über-
    winden wollte. Aber dessen grandiose
    Aura hat sie eben nie erlangt: AmFir-


mament warenkeine pompösenFeuer-
werke mehr zu sehen. Die Dinge spiel-
ten sich nurmehr auf dem harten Boden
der Büros undKontore ab, und biedere
Individuen mit begrenzten Horizonten
bestimmten über den Gang derWelt.

Schluss mit Suppe-Essen


Das sindreine Schemen und Stereotype,
gewiss. Aber doch ist es gut, sich an die-
sen Holzschnitt zu erinnern, denn später
haben sich der Bürger und seineWahr-
nehmung stark verändert.Das beschrie-
bene Modell des genügsamen und puri-
tanischen Menschen ist zu einerKurio-
sität geworden. Dass etwa die Genfer
Bankiers alter Schule noch bis vor kur-
zem eine einfache Suppe assen, danach
gefüllteTomaten verzehrten und einen
dritten Gang alsVöllerei erachtet hätten


  • solche Zurückhaltung kam einem fran-
    zösischenJournalisten vor einigenJah-
    ren höchst verwunderlich vor.
    DieVeränderung vollzog sich schritt-
    weise. Auf den zugeknöpften Prototyp
    des 19. und 20.Jahrhunderts folgte ab
    den 1960er Jahren ein Bürger im neuen
    Look: eine Gestalt, die sich tagsüber als
    Arbeitstier und nachts als Draufgänger
    gebärdet, wie der SoziologeDaniel Bell
    einmal formulierte. Dieser neueTypus
    übertrug den Primat des Geniessens,
    den dieAchtundsechziger postulierten,
    von der Ebene der Sitten auf jene der
    Wirtschaft. Nicht mehr das Arbeiten an
    und für sich stand nun im Zentrum,viel-
    mehr begann sich alles umsKonsumie-
    ren zu drehen.Werte wie Bedacht und
    Vorsorge dankten ab, Ausgeben und
    Verbrauchen lauteten die neuen Losun-
    gen, wobei der Markt zu einem Erfül-
    lungsgehilfen der Selbstverwirklichung
    wurde:Da trafen Leistungsethik und
    Hedonismus aufeinander.
    In dieser Zeit trat auch der alterna-
    tiv angehauchteWohlstandsbürger auf


den Plan. Der Bourgeois-Bohème, er
mag links oderrechts im politischen
Spektrum stehen, will möglichst nichts
verpassen im Leben. Der linke Bo-Bo
will eineKünstlerexistenz führen, ohne
auf privilegierte Quartiere und finan-
zielle Sicherheit zu verzichten. Der
rechte Bo-Bo will den Kitzel derFrei-
zügigkeit spüren, ohne seine Ehrenhaf-
tigkeit zu verlieren.
Das Bürgertum strebt demnach nicht
mehr wie früher demAdel nach.Viel-
mehr nähert es sich seinen altenFein-
den an: den Lebeleuten undKünst-
lern, die manchmal Gesetze übertreten
und häufig mitFormen undKonventio-
nen brechen.Von diesemTrend zeugen
vor allem die kapitalistischen Hippies–
Richard Branson ist ihrVorzeigemann,
schon ein Schuldirektor soll dem späte-
ren britischen Unternehmer in dessen
Jugendjahren prophezeit haben, dass er
dereinst im Gefängnis oder als Millionär
enden werde. Aber auch all die coolen
Milliardäre wie Mark Zuckerberg, die
jetzt inJeans,T-Shirt und Flip-Flops auf-
treten und sich nebst dem Geldscheffeln
der Weltrettung verschreiben, gehören
zu dieser Sorte.
Ihre Stilikonen sind oftmals grosse
Sportler, manchmal Abenteurer, sehr
häufig aber auch ultrareicheKünstler.
Die Kunst, eigentlicheine uneigennüt-
zige Tätigkeit, ist zu einer hoch lukra-
tiven Sache geworden, zu einem Ge-
schäft, das zwei Seiten bereichert: In-
dem er ein hoch gehandeltesKunstwerk
ersteht, verschafft sich der bürgerliche
KäuferRuhm und Ehre, und der krea-
tive Künstler seinerseits kann sich, wie
Jeff Koons oderDamien Hirst,überein
gefülltesKonto freuen.
Der heutige Bourgeois schielt mit
Begehrauf diese grossenKünstler, weil
er ihrenWagemut und ihre Unkonven-
tionalität bewundert. Auch er will jetzt
den Rausch der Grenzüberschreitung

spü ren. Mit der alten Zurückhaltung
hat er abgeschlossen, und sorgsam wie
ein guterFamilienvater aufzutreten, ist
ihm fremdgeworden. Damit bietet er
freilich weiterhin eine gute Angriffsflä-
che: Stand der Bürgereinst wegen seiner
kleinlichen Mittelmässigkeit in der Kri-
tik, zeigt man jetzt wegen seines mass-
losen Überschwangs auf ihn.

Zurückzu den Wurzeln


Die neue Kritik ist nicht weniger sche-
matisch als die alte. Doch man kann an-
hand dieser Stereotype gut ermessen,
wie sehr sich dieWelt unddie Werte
der Bürger in den letztenJahrhunderten
gewandelt haben. Und man kann sich
durchaus fragen, welche bürgerlichen
Charakterzüge, sie mögen klischiert sein
oder nicht, wir heute wirklich gebrau-
chenkönnten. Die Bilanz ist klar.
Mag sein, dass es dem alten Bürger
manchmal an Schneid mangelte; gut
möglich, dass er mit seiner Biederkeit
zuweilen lächerlich wirkte.Aberniemals
darf man dieKernidee vergessen, auf
der sein ganzerAufstieg beruhte: Mit
dem Bürger sind wir in eineWelt einge-
treten, in der Arbeit undTalent dasVor-
recht der Geburt ersetzten.Daran giltes
immer zu erinnern und in diesem Sinn
auch eineRückkehr zu den bürgerlichen
Wurzeln zu betreiben.
Das soll mitnichten bedeuten, dass
wir einen kleinlichen Puritanismus wie-
derbeleben sollen. Aber die Bereit-
schaft, hart zu arbeiten, jederzeit einen
Effort zu leisten undkonsequent die
Kosten unseresTuns zu berechnen – all
das und nur das kann uns auch heute
weiterbringen.

Der Schriftsteller und PhilosophPascal Bruck-
nerlebt in Paris. Zuletzt ist von ihm erschie-
nen: «Une brève éternité» (Grasset, 2019). –
Aus dem Französischen überse tzt von cmd.

Im 20.Jahrhundert verändertesich das bürgerliche Arbeitsethos – anstattnur zu sparen, wolltenviele Leistungsträger nunauch geniessen. JEAN GAUMY/MAGNUM
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