Neue Zürcher Zeitung - 27.01.2019

(Sean Pound) #1

26 FEUILLETON Montag, 27. Januar 2020


Pùnkitititi und der traurige Clown


«Mozart pur» hat der frühere Star-Tenor Rolando Villazón der Mozartwoche verordnet – ein klares, aber noch zu vorhersehbares Konzept


MICHAELSTALLKNECHT, SALZBURG


Ein Mann allein in einem Hotelzimmer,
einsam,des Lebens ein wenig müde.
Doch plötzlich beginnen die Dinge um
ihn herum zu leben:Da tanzt dieWein-
flasche aus der Minibar, sucht der Hut-
ständerTrost, kommen allerleiTiere zu
Besuch, nette und weniger nette, belebt
allesamt von den Puppenspielern des
Salzburger Marionettentheaters. «Pùn-
kitititi!» heisst die Produktion – nach
einem der Scherznamen, die Mozart
sich in Briefen selbst gegeben hat. Sie
darf prototypisch für die neuenFor-
mate stehen, dieRolandoVillazón in
Salzburg eingeführt hat.Seit vergange-
nem Jahr verantwortet der frühere Star-
Tenor dasFestival, das jährlich rund um
Mozarts Geburtstag am 27. Januarstatt-
findet.Seine Leitlinie hatVillazón dabei
von Anfang an klargestellt: Ausschliess-
lich Mozart soll bei der Mozartwoche
erklingen. Und fraglos ist das Gesamt-
werk umfangreich genug, um Spielmate-


rial für eineinhalbWochenKonzerte mit
teilweise mehreren Veranstaltungen am
Tag zu bieten. Hörbar werden so gerade
auch viele sonstrandständigeWerke wie
die fragmentarisch erhaltene Musik zur
Faschingspantomime «Pantalon et Co-
lombine», bei der Mozart einst selbst als
Darsteller auftrat.

Moderator undMaskottchen


Nun bildet sie dieGrundlage für «P ùnki-
tititi!» in einer Bearbeitung des Geigers
und Arrangeurs FlorianWilleitner, der
mit seinem EnsemblePool of Invention
die Grenzen zwischen Klassik,Jazz und
Volksmusiküberschreitet. Die Inszenie-
rung von DougFitch nach einem Story-
board von Stephen Greco ist letztlich ein
grosser szenischer Scherz, der ein jünge-
res Publikum für Mozart begeistern soll,
aber auch das traditionelle Publikum der
Mozartwoche merklich amüsiert.Vor
allem entspricht er ziemlich genau dem
Mozart-Bild, dasVillazón stärker ver-

folgtals seineVorgänger: das des anar-
chischen, auch albernen Kindskopfs.
Neu oder auch nur weniger kano-
nisch als das des Meisterkomponis-
ten ist dieses Mozart-Bild nicht unbe-
dingt, hat es doch spätestens MilošFor-
man mit seinemFilm «Amadeus» im
Jahr 1984 populär gemacht. Doch es ist
woh l dasjenige, womit sich auchVilla-
zón ein Stück weit identifiziert: das des


  • manchmal auch traurigen – Clowns.
    Seit es mit der eigenen Gesangskar-
    riere nicht mehr rundläuft, hat sichVil-
    lazón unter anderem alsRegisseur und
    Romancier neu positioniert. Mit der
    Mozartwoche scheint er nun eine Platt-
    form gefunden zu haben, die er ziem-
    lich rasch auf sich selbst zugeschnitten
    hat. Gera dezu omnipräsent ist er wäh-
    rend dieserTage in Salzburg: als Super-
    visor und lebendiges Maskottchen,als
    Regisseur und Moderator, notfalls auch
    als Anklatscher beziehungsweise Anla-
    cher in den eigenen Produktionen – und
    nicht zuletzt vor jederVeranstaltung


mit seiner Stimme, die mit betont aus-
gestelltem mexikanischem Akzent zum
Ausschalten der Mobiltelefone aufruft,
worauf derAusruf folgt: «Mozart lebt.»
Dem Publikum gefällt das, Villazón ist
ein Sympathieträger.
Dabei kommt natürlich auch er nicht
um den Meisterkomponisten herum,für
den Besucher aus allerWelt nach Salz-
burg pilgern. Die Mozartwoche ist noch
immer ein Schaulaufen führender Inter-
preten, die sich momentan mit Mozart
auseinandersetzen, solistisch, kammer-
musikalisch und sinfonisch, aus traditio-
nalistischer wieaus Perspektive der his-
torischenAufführungspraxis. So haben
Daniel Barenboim und dieWiener Phil-
harmoniker in diesemJahr einen Zyk-
lus der späten Sinfonien und Klavier-
konzerte begonnen,András Schiff einen
mit konzert anten beziehungsweise halb-
szenischenAufführungen der dreiDa-
Ponte-Opern. Bei der Eröffnung mit
«Le nozze diFigaro» ist das Sänger-
ensemble bis in die kleinerenRollen

hinein exzellent besetzt. Schiff, der die
Mozartwoche als Pianist seitJahrzehn-
ten prägt, begleitet dieRezitative am
Hammerklavier und dirigiert die von
ihm gegründete CappellaAndreaBarca.
Doch was Schiff als Pianist auszeich-
net, dieFähigkeit zum Masshalten, das
Ausgewogene, Klassische der Interpre-
tation, verwandelt sich beim Dirigenten
Schiff eher in den berüchtigten Mittel-
weg, der selten zum Ziel führt: ein allzu
glatter Mozart, dem es an dramatischen
Gegensätzen und damit an dramatur-
gischer Binnenspannung fehlt. Dafür
lässt sich Schiff mit einiger Selbstironie
in dieminimalistischeInszenierungein-
beziehen, die wiederumVillazón besorgt
hat. Villazón, das wird deutlicher noch
als in seinem erstenJahr, will vor allem
die theatralenFormenstärken, auch
im Grenzgang zwischen unterschied-
lichenKunstformen. So hat er für dieses
Jahr sieben Dramolette bei bekannten
Schriftstellern inAuftrag gegeben,die er
mit Sängern undTänzern des Salzburger
Landestheatersinszeniert. Im kommen-
den Jahr – das Programm steht bereits
fest – soll es noch deutlich mehr szeni-
sche Produktionengeben.

Experimentohne Wagnis


Die Nagelprobe für dieses Konzept
müsste dabei eigentlich schon die Pro-
duktion am Eröffnungsabend stellen,auf
der von jeher die grösste medialeAuf-
merksamkeit ruht.Das Randständige
und das Kanonische, der Anarchist und
der Meisterkomponist Mozart müssten
hier zusammenfinden.Freilich hatVilla-
zón auch hier das szenische Experiment
gewagt: mit GeorgFriedrich Händels
«Messias» in der Bearbeitung Mozarts,
der vor allem den Bläsersatz erheblich
erweitert hat.Für die Inszenierung ist
der AltmeisterRobert Wilson zuständig,
der im Programmheft von vornherein
klarstellt, dass er diereligiösen Gehalte
nicht aufgreifen will, weilReligion für
ihn in die Kirche, nicht insTheater ge-
hört. Stattdessen setztWilson vor allem
auf Naturbilder, Videos vonWasser-
massen undexplodierenden Eisfeldern,
umflossen vonKunstnebeln,bestens aus-
geleuchtet – wie immer bei ihm. Doch
di e Bilder finden kaum zu einer inne-
ren Logik, welche die einzelnenTeile
des Oratoriums zu einem neuen Gan-
zen zusammenbände. Obendrein bürstet
der Dirigent Marc Minkowski Mozarts
Fassung mit den Mitteln einer etwas alt-
backen historisierendenAufführungs-
praxis entschieden in RichtungBarock
zurück: rhythmusbetont,in schnellen bis
zu schnellenTempi und mit kratzigem
Ansatz bei den Streichern der Musiciens
du Louvre. Die Originalklang-Bewegung
ist da längst weiter, und für ein Experi-
ment bleibt in dieser Produktion letzt-
lich alles zu vertraut, zu selbstbezüglich.

Wenn die Erdanziehung plötzlich ausser Kraft gesetzt wird


Die Filme in Solothurn handeln von Menschen, deren Leben aus der Bahn gerät. Wie macht man weiter, wenn nichts mehr so ist, wie es war?


LORYROEBUCK, SOLOTHURN


Es ist einRunning Gag in Solothurn.Be-
vor eineFilmvorführung beginnen kann,
wird jeder im Saal anwesende Amts-
und Würdenträger einzeln begrüsst:
«Sehr geehrter Herr Bundesrat,sehr ge-
ehrter HerrNationalrat, sehr geehrter
Herr Stadtpräsident, sehr geehrteFrau
Direktorin.. .», hört man dann. In diese
Litaneireihte sich an diesemWochen-
ende ein neuerTitel ein,da hiess es dann
plötzlich auch: «Cher monsieur lauréat
du prix Nobel.»JacquesDubochet, der
Chemie-Nobelpreisträger 2017, ist nach
Solothurn gereist, um über seinFilm-
porträt zu sprechen. «Citoyen Nobel»
heisst es, und wer es sah, kam nicht um-
hin, ein bisschen Mitleid für den heute
77-jährigenWissenschafterzu verspüren.
«Dieser Preis hat mein Leben aus der
Bahn geworfen», sagt Dubochet zu Be-
ginn desFilms. Da sehen wir die Meute


an Journalisten, die ihn auf demWeg
zur Universität abfängt: «MonsieurDu-
bochet, wie haben Sie von der Nach-
richt erfahren?», «Wie wird sich ihr Le-
ben nun verändern?», «Können Sie uns
Ihre Entdeckung in einem Satz zusam-
menfassen?»Dubochet lächelt freund-
lich, was ihm durch denKopf geht, er-
zählt er imFilm: «Ich wusste nicht, wie
ich aufDauer mit all dieserAufmerk-
samkeit umgehensollt e. Ich wollte nur
wieder ein normales Leben führen.»

Mit Filmfigur identifiziert


Zwei, drei Anfragen proTag erhältder
Nobelpreisträger seither, darunter fällt
auch jene aus Solothurn, wo er verrät,
das s er auch Zeit fand, einenFilm zu
schauen:«Moskau Einfach!», über einen
Polizisten, der eineTheatergruppe infil-
triert. «Ich habe mich mit diesem Mann
identifiziert», sagt Dubochet, «er muss

von einemTag auf den nächsten einkom-
plett anderes Leben führen.»
FändeDubochet in Solothurn die
Zeit, noch häufiger ins Kino zu gehen, er
würde sich mit einer ganzeReihe anFilm-
figuren identifizieren. Menschen, die aus
der Bahn geworfen werden – das scheint
so etwas wie das Leitmotiv im diesjähri-
gen Programm zu sein. Da ist zum Bei-
spiel Gus imFilm «Le milieu de l’hori-
zon» (Regie: Delphine Lehericey). Gus
ist 13Jahre alt und wohnt auf einem
Hof. Aufregend wird es in seinem Leben
höchstens, wenn er im Dorfladen mal ein
Pornoheft klaut.Nichts deutet darauf hin,
dass dieser Sommer anders sein wird als
frühere.Ausser vielleicht die grosse Hitze,
die in Gus’Familie allerlei Gefühle zum
Kochen bringt. DerVater bangt um das
Wohl seinerTiere, die Mutter geht eine
Affäre ein, die Schwester stiehlt sich mit
dem Austauschschüler davon. Gus ist er-
schüttert und weiss demTreiben lange

nichts anderes entgegenzusetzen als die
finsterste aller Mienen, die einen auch im
Kinosessel erschaudern lässt.

KlaustrophobischeBilder


Auch Sabine Boss erzählt in «Jagdzeit»
von einem Mann, der vor einem exis-
tenziellenTrümmerhaufen steht. Der
Film spielt im Schweizer Manager-
milieu und basiert aufrealen Ereignis-
sen: demSuizid von PierreWauthier,
Finanzchef der Zurich Insurance Group,
im Jahr 2013, der in seinem Abschieds-
brief seinen Verwaltungsratspräsiden-
ten Josef Ackermann dafür verantwort-
lich machte. Boss inszeniert dieFilm-
handlung in kalten, klaustrophobischen
Bildern, die einem den Atem zuschnü-
ren, und zeigt einen Manager, der sich
zusehends von allem abkapselt.Da ist
keine Hoffnung, nichts, was ihn aus dem
Dunkel hinausführenkönnte.

Auch JacquesDubochet sieht manch-
mal schwarz. Der Nobelpreisträger ist
seit zehnJahren imRuhestand, politi-
siert allerdings weiterhin im Gemeinde-
rat von Morges. Sein wichtigstesAnlie-
gen ist der Klimawandel, undDubochet
spricht durchaus auch Sätze wie: «Das
Ende derWelt steht uns nicht bevor, wir
stecken schon mittendrin.» DochDubo-
chet sieht auch Hoffnung. In der Klima-
jugend,inAktivisten wie GretaThunberg,
die der 77-Jährige verehrt (und in Solo-
thurn, da stutzt der Zuhörer, mit Jesus
vergleicht).«Wenn sie erfolgreich ist,wird
sie die wichtigsteWende der Mensch-
heitsgeschichte herbeiführen», sagt Du-
bochet. Mit derAufmerksamkeit um
seinePerson hat er sich inzwischen arran-
giert.Dass seine Stimme in der Öffent-
lichkeit plötzlich Gewicht hat, sieht er als
Chance. Dubochet stellt sie in den Dienst
des Klimas. Damit die Erde nicht wirklich
aus denFugen gerät.

Robert Wilson erfindet für Händels «Messias» in derBearbeitung Mozarts gewohnt suggestive Bilder. LUCI E JANSCH

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