Neue Zürcher Zeitung - 27.01.2019

(Sean Pound) #1

Montag, 27. Januar 2020 SPORT 29


Ein Tennys-Sturm


Roger Federer trifft in Melbourne auf Tennys Sandgren, der vorzwei Jahrenfür eineKontroverse sorgte


DANIEL GERMANN, MELBOURNE


Die sozialen Netzwerke sind nicht nur
eine Spielwiese für Hobbypublizisten,
sondern vor allem auch ein politisches
Minenfeld. Speziell für Sportler. Das
mussteTennys Sandgren vor zweiJah-
ren erfahren, als er amAustralian Open
nach Siegen gegen StanWawrinka und
DominicThiem überraschend in die
Viertelfinals vorstiess. Statt mit Aner-
kennung für den persönlichen Exploit
sah er sich unversehens mitFragen zu
seiner politischen Haltungkonfrontiert.
Der Amerikaner hatte auf seinemTwit-
ter-Account Beiträge der amerikani-
schen Alt-Right-Bewegungretweetet,
die rassistische und antisemitische Ideo-
logien vertritt. Unter anderen schaltete
sich SerenaWilliams in die Diskussion
ein. Sie empfahl ihrenFollowern, künf-
tig bei Spielen mit Sandgren umgehend
den TV-Kanal zu wechseln.


Spezialist gegenTop-Ten-Spieler


Sandgren distanzierte sich halbherzig von
den Beiträgen.Danach unterzog er sei-
nenAccount einerReinigung und löschte
180 Einträge aus den vergangenen einein-
halb Jahren.StattFragen zu beantworten,
verlas er an der nächsten Medienkonfe-
renz eine vorbereitete Erklärung und ver-
schwand aus dem Medienraum.Er werde
zu den Eltern nachTennessee zurückkeh-
ren und sein Mobiltelefon für ein paar
Tage abschalten.
Der Sturm umTennys Sandgren hat
sich auch darum schnell gelegt,weil er für
den Rest desJahres sportlich kaum mehr
auffiel. Doch nun ist er zurückauf der
grossen Bühne, zurück imViertelfinal.
Und er trifft dort am Dienstag aufRoger
Federer. Der Schweizer brauchte nach
demFünfsatzmatch amFreitag gegen
den AustralierJohn Millman gegen den
Ungarn MartonFucsovicseine n SatzAn-
lau f, ehe er sich mit 4:6,6:1,6:2, 6:2 relativ
einfach durchsetzte. Grösser fast als beim
Match war der Unterhaltungswert beim
Platz-Interview mitJohn McEnroe. Fede-
rer kalauerte, er habe in seinem Leben
bereits vielTennis, aber noch nie gegen
Tennys gespielt.
Tatsächlich gibt es selbst für einen
38-Jährigen wieFederer Gegner, die
bereits mitten in ihrer Karriere stehen
und die er trotzdem noch nichtkennt.
Das liegt vor allem daran,dass Sandgren
einen Grossteil der Karriere an kleine-
ren ATP-Turnieren und auf der Chal-
lenger-Tour verbracht hat. Wenn an


Sandgren etwas speziell ist, dann seine
Grand-Slam-Bilanz gegen die Besten
auf derTour: Er hat an Grand-Slam-
Turnieren vier von sechs Begegnungen
gegenTop-Ten-Spieler gewonnen.
Die Statistik erstaunt Sandgren sel-
ber. Es liege möglicherweise daran, dass
er normalerweise zum Zeitpunkt,zu dem
die Wahrscheinlichkeit steige, auf einen
Topspieler zu treffen, nicht mehr imTur-
nier sei.Wenn er dann doch einmal da-
bei sei, gebe ihm das zusätzliche Energie.
«Ich will dann Leistung zeigen, will gut
spielen. In einem grossen Stadion vor vie-
len Zuschauern anzutreten, treibt mich
zu Höchstleistungen.Ich habe in meiner
Karriere bereits genugTennis vor sehr
wenig Zuschauern gespielt.»

Federer ohne gesetzte Gegner


Am Dienstag gegenFederer ist Sand-
gren die grosse Bühne gewiss. Ob ihm
aber seine Statistik hilft,die Bilanzgegen
Spitzenspieler weiter zu verbessern, ist
fraglich.Der 28-jährigeAmerikaner sagt,

für ihn sei es möglicherweise eine ein-
zigartige Chance, in seiner Karriere an
einem grossenTurnier in einemViertel-
final gegen einen Spieler wieFederer
zu spielen. Im Sommer vor einemJahr
hat er inWimbledon gegen Sam Quer-
rey verloren und damit ein Rendez-vous
mit Rafael Nadal verpasst.
Mindestens so gross ist die Chance
allerdings fürRoger Federer. DemBasel-
bieter winkt die einzigartige Gelegenheit,
seinen 46. Grand-Slam-Halbfinal zu er-
reichen, ohne auf demWeg dorthin auch
nur einem gesetzten Spieler begegnet zu
sein. Sandgren ist die Nummer 100 im
Ranking. Federers bisher höchstklassier-
ter Gegner in Melbourne war der Kroate
Filip Krajinovic (ATP 41). Nadal hat 20 17
das US Open gewonnen, ohne gegen
einenTop-20-Spieler antreten zu müs-
sen. Sein stärkster Gegner war damals im
Halbfinal die Nummer 28, der Argenti-
nier Juan Martín DelPotro, gewesen.Auf
ähnliches Losglück darfFederer nicht
hoffen. Im Halbfinal würde wahrschein-
lich Novak Djokovic auf ihn warten.

Im politischen Minenfeld:Tennys Sandgren, der nächste GegnerRoger Federers. ANDY BROWNBIL / AP

DOWNUNDER


Eine Party mit


Ashleigh Barty


Daniel Germann · Am 26.Januarbe-
gehen dieAustralier ihren National-
feiertag, den AustraliaDay. Das Land
feiert die Ankunft derFirst Fleet 1788
bei Sydney Cove, mit der die britische
Besiedlung desKontinents begann. An
Bord der Schiffe sollen sich neben 756
Strafgefangenen und 550 Besatzungs-
mitgliedern auchreichlichTee, ein paar
Flaschen Gin und einTennisschläger
befunden haben. Dieser markierte den
Anfang der Leidenschaft,dieAustralien
bis h eute für denTennissport hegt.
Australien ist ein dünnbesiedeltes
Land.Auf einer Fläche von7, 5 Millionen
Qua dratkilometern leben knapp 26 Mil-
lionenMenschen.Das entspricht etwas
mehr als dreiPersonen pro Quadratkilo-
meter. Weshalb ausgerechnet einLand
mit so viel Platz und freier Fläche eine
derartige Begeisterung für einen Sport
entwickelt, bei dem zwei Spieler ein-
gezwängt auf nur 260 Quadratmetern
Bälle hin- und herschlagen, ist eines der
vielen Geheimnisse, die derKontinent
noch bietet.
Die Australier haben unzweifel-
haft Geschick im Umgang mitBall und
Schläger. Bis heute stellen sie 35 Grand-
Slam-Sieger; nur die Amerikaner sind
erfolgreicher (83). Doch gemessen an
der Zahl der Einwohner hatkein ande-
res Land mehr grossartige Spieler her-
vorgebracht. Ken Rosewall,Rod Laver,
Tony Roche, John Newcombe, Margaret
Court oder Evonne Goolagong waren
Meister ihrer Zeit.Pat Cash,Patrick
Rafter oder Lleyton Hewitt trugen die
Kunst in die Moderne.
Seit einiger Zeit aber sind australi-
sche Erfolge an grossenTurnieren selte-
ner geworden. Hewitts zweiter Grand-
Slam-Titel2002 in Wimbledon liegt bald
18 Jahre zurück; Sam Stosurs Sieg 2011
am US Open war einAusreisser, den die
Spielerin nie zu bestätigen vermochte.
Am diesjährigenTurnier verlor Stosur
in der erstenRunde 1:6, 4:6.
Umso inniger umarmen di e Austra-
lier ihren jüngstenTennisspross.Ashleigh
Barty gewann im letztenJuni in Roland-
Garros und wurde danach die Nummer


  1. Zuvor hatte sie eine zweijährigeAus-
    zeit genommenund sich mitrespekta-
    blem Erfolg im Cricket versucht, der
    zweiten grossenaustralischenPassion.
    Die Turnierorganisatoren bewerben das
    Australian Open mit dem Slogan «Come
    for Barty, stay for the party». Am Sonn-
    tag erreichte sie in Melbourne dieVier-
    telfinals. Wenn daskein Anlass zu einer
    rauschendenParty amAustraliaDay ist.


Vom Glück, einfach nur Spieler zu sein


Denis Hollenstein ist bei den ZSC Lions viel weniger imRampenlicht als früher in Kloten– genau das geniesst er


ULRICH PICKEL


Unter welchen Umständen einTreffe n
mit einem Spieler stattfindet, hat oft
auch mit Zufall zu tun.Oder mitTiming.
Es ist Donnerstag, Denis Hollenstein
sagt zum Gespräch zu.Am Abend steht
ein Auswärtsspiel in Genf an.Tags dar-
auf findet das Gesprächstatt – und Hol-
lenstein steht dieFreude ins Gesicht ge-
schrieben. Er schoss in Genf dreiTore,
war der Matchwinner. AberHollen-
stein bleibt Hollenstein, ob er nunkei-
nen oder dreiTreffer erzielt. «Wichtig ist,
dass wir die drei Punkte gewannen», sagt
er imTV-Interview nach dem Sieg. Es ist
die alte Schule im Eishockey:Das Team
zählt, der Einzelne ist nichtso wichtig.
Was nach Selbstdarstellung riecht, ist
verpönt. Hollenstein lebt dieses Credo
in Reinkultur vor, schon immer.
Das hat ervomVater geerbt– wie
vieles andere auch. Aber dreiTore in
einem Spiel, das gehört zum Schönsten,
was man als Stürmer erleben kann. Und
so kommt sogar Hollensteinein biss-
chen aus dem Schneckenhaus. Mit einem
leicht verlegenenLächeln sagt er: «Ja,
das gibt Selbstvertrauen.» Es sind per-
sönliche Efforts wie dieser, weswegen
die ZSC Lions ihn vor zweiJahren ver-


pflichtet haben.Hollenstein,derReisser,
der Kämpfer, der Leader. So hat er sich
in Kloten einen Namen gemacht, so soll
er auch in Zürich wirken. Ein Statement
wie in Genf darf es deshalb schon sein
ab und zu. Muss es auch sein bei einem
Spieler wie ihm. Er ist 30-jährig, im bes-
ten Alter: massenhaft Erfahrungund
immer noch voll jugendlicher Kraft.

Klartext in der Kabine


Meistens ist es ruhig um Denis Hollen-
stein, seit er bei den ZSC Lions spielt.
Ganz am Anfang, als seinWechsel vom
Lokalrivalen ins Hallenstadion mit einem
Fünfjahresvertrag bekanntwurde, gab es
vereinzelt Unmut. Die grosse Masse der
Fans aber blieb ruhig und war gespannt,
wie sich der Sohn der KlotenerReiz-
figurFelix Hollenstein machen würde. Er
machte sich von Anfang an gut. Im letz-
ten Jahr, dem ersten bei den Lions, war
er einer der wenigen Spieler, die regel-
mässig auf ansprechendem Niveau spiel-
ten. So erarbeitete er sich Akzeptanz.
Aber weil die Zürcher die Play-offs ver-
passten, ging seine Leistung unter. Im
zweitenJahr sieht alles besser aus.
«Er weichtkeinem Zweikampf aus,
arbeitet vorbildlich nach hinten und

steht auch in der Kabine auf, wenn es
sein muss.» So sprach der Sportchef
Sven Leuenberger schon vor zweiJah-
ren, als er denTransfer erklärte. Hol-
lenstein brauchte etwas Zeit, bis er dem
letztenTeil dieser Beschreibung gerecht
werdenkonnte. Im erstenJahr hatte
er sich noch Zurückhaltung auferlegt,
musste sich im neuen Umfeld zuerst fin-
den. Intern hat sich der Flügelstürmer
nun aber als eine der Leaderfiguren eta-
blie rt. Bissig und ehrgeizig auf dem Eis,
ist er einer, der keine Halbheiten duldet
und eine Niederlage nie gelassen hin-
nimmt.Läuft etwas falsch, gibt es von
ihm Klartext in der Kabine. Hollenstein
beschreibt das so:«Wir sind ehrlich zu-
einander undkönnen die Dinge anspre-
chen, ohne dass einer nachtragend ist.»
Der Unterschied zur letzten Saison
li ege in der Einstellung, sagt er: «Uns

wurde bewusst, dass nichts von allein
geht.Wir pushen uns jedenTag im Trai-
ning.» Und dass die ZSC Lions nun wie-
der ein Spitzenteam sind, hat natürlich
auch mit derFührung zu tun. Seit Ri-
kard Grönborg die Lions trainiert, sind
Konzentration und Selbstvertrauen zu-
rück. Hollenstein schwärmt: «Er ist eine
Riesenpersönlichkeit, nur schon sein
Auftreten.Jeder weiss:Wenn er etwas
sagt,hat das Hand undFuss. Er ist direkt
und spricht die Dinge sofort an.So muss
es sein.» Grönborg gibt dieKompli-
mente zurück.Für ihn ist Hollenstein
«ein Herzstück desTeams». Als Trainer
müsseman ihn einfach lieben:«In jedem
Training, in jedem Spiel gibt er immer
alle s. Und niemand spielt gerne gegen
ihn. Genau solche Spieler braucht es.
Wenn er auch noch skort, umso besser.»

Der Meistertitel fehltnoch


Hollenstein erlebt im Hallenstadion, wo-
nach er sich jahrelang vergeblich sehnte.
Er kann sein, was er seit früherJugend
am liebsten sein wollte: einfach nur Eis-
hockeyspieler. In den turbulenten Klote-
ner Jahren vor dem Abstieg 2018 war das
fast nie möglich gewesen. Besitzerwech-
sel, Beinahekonkurse, Zukunftssorgen–

und nicht zuletzt derVater, der alsTrai-
ner entlassen, wieder eingestellt und wie-
der entlassen wurde. Denis Hollenstein
war immer mittendrin, als Sohn, Captain,
Identifikationsfigur und Hoffnungsträger,
der verzweifelt versuchte, das Team und
sich selber von all diesen Geschichten ab-
zuschirmen. Er hat starke Schultern,doch
am Ende lastete zu viel auf ihnen. Den
Abstiegkonnte auch er nicht verhindern.
«Ich habe viel gelernt, das machte mich
als Person stärker», sagt er.
Jetzt gibt es nur noch den Alltag, das
nächste Spiel.SeineRolle ist weniger pro-
minent. In Kloten standen nach jedem
Spiel dieJournalistenim Halbkreis um ihn
herum. In Zürich wird er nur gelegentlich
vors Mikrofon gebeten – er geniesst das.
Hollenstein steht mit den bisher 12Toren
und 16 Assists gut da, liegt in der inter-
nen Zürcher Skorerliste auf Platz fünf. Er
spielt im zweiten Sturm. Ist dieseRolle
nicht etwas gar klein? «Sicher nicht», sagt
er vehement. «Hier ist alles breiter ver-
teilt, das braucht es auch für den Erfolg.»
Es ist klar, was mit Erfolg gemeint ist.
Hollensteinhat in seiner Karriere schon
viel erreicht, rund 500 National-League-
Spiele, 118 Länderspiele,WM-Silber 2013
in Stockholm,den Cup-Sieg 2017 mit Klo-
ten. Nur Meister war er noch nie.

«Wir sind
ehrlich
zueinander.»

Denis Hollenstein
Stürmer
PD ZSC Lions

Gauff gestoppt


gen.· Der Lauf von Coco Gauff endete
in der viertenRunde gegen SofiaKenin.
Zuvor hatte die15-jährigeAmerikanerin
mit Venus Williams und Naomi Osaka
zwei Grand-Slam-Siegerinnen aus dem
Turnier geworfen.Das Australian Open
war erst das dritte Major-Turnier für sie.
Trotzdem sagte sie: «Es überrascht mich
selber, wie ruhig ich in all diese Matchs
steige. Es macht mich zufrieden, dass ich
diese Spiele nicht wichtiger mache, als
sie sind.» Gauff darf wegen der Alters-
limite weiterhin nur einereduzierte An-
zahl Turniere bestreiten.Trotzdem hat
sie für diese Saison ein grosses Ziel: Sie
möchte sich für die Olympischen Spiele
qualifizieren. Dazu müsste sie An-
fangJuni unter den ersten 56 desRan-
kings klassiert sein. Allerdingskönnen
pro Land nur vier Spielerinnen im Ein-
zel starten. Gauff ist momentan nur die
Nummer 13 der USA.
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