Neue Zürcher Zeitung - 27.01.2019

(Sean Pound) #1

Montag, 27. Januar 2020 INTERNATIONAL 5


Rückschlag für Xi Jinpings Taiwan-Poli tik


Chinas Staatschef hat mit seiner Rhetorik den deutlichenWahlsieg der chinakritischen Kräfte auf der Insel begünstigt


PATRICK ZOLL


Die Beziehungen zurVolksrepublik
China waren ein wichtigesThema bei
denParlamentswahlen aufTaiwan von
AnfangJanuar. Entsprechend stellt sich
dieFrage, wie sich die deutlicheWieder-
wahl von Präsidentin Tsai Ing-wen und
der Sieg ihrer Demokratisch-Progressi-
venPartei (DPP) auf dasVerhältnis der
beiden Seiten an der Strasse vonTaiwan
auswirken werden.
Es ist einParadox der taiwanischen
Politik, dassder Präsident oder die Prä-
sidentin in der grossenFrage, die die
Nation bewegt, kaum Spielraum hat. Es
istPeking, das denTon angibt.Dass die
Beziehungen zwischenTaipeh undPeking
heute sehr schlecht sind, liegt in erster
Linie am hartenKurs, den Chinain den
letzten vierJahren gefahren hat. Nach
Tsais Sieg 20 16 beschlossen diekom-
munistischen Machthaber, den direkten
Kontakt abzubrechen, und sie versuchten
die – im Gegensatz zu ihnen selbst demo-
kratisch legitimierte – Präsidentin wirt-
schaftlich unter Druck zu setzen.


Xi JinpingsEigentor


Die Ansage von ChinasPartei- und
Staatschef Xi Jinping an das taiwani-
scheWahlvolk war:WennTaiwan frei-
willig in dieArme des Mutterlandes zu-
rückkehrt, erhält es nach dem Motto
«einLand, zweiSysteme» ähnlicheFrei-
heiten wie Hongkong oder Macau.Was
der allmächtige Xi wohl als grosszügi-
ges Angebot an das widerspenstigeVolk
sah, ist für die Mehrheit derTaiwanerin-
nen undTaiwaner wenig attraktiv:Wieso
sollten sie eine funktionierende Demo-
kratie für eine eng beschnitteneTeil-
autonomie innerhalb eines autoritären
Staates aufgeben?
Zum allein gültigen Credo hatte Xi
«einLand, zweiSysteme» in seinerAn-
sp rache zuJahresbeginn 20 19 erhoben.
Doch damit schoss er ein formidables
Eigentor. Tsai Ing-wen, die damals poli-
tisch schwer angeschlagen war, konnte
sich in einerReplik alsVerfechterin der
taiwanischen Demokratie präsentieren–
ihre Umfragewerte kletterten steil nach
oben. AlsMitteJahr in Hongkong die
bis heute anhaltenden Proteste losbra-
chen, wurden die engen Grenzen von
«einLand, zweiSysteme» überdeutlich.
Leicht überspitzt gesagt, war Xi Jinping
mit seinerkompromisslosen Haltung
der besteWahlkampfhelfer Tsais.
«Xi hat nun drei Möglichkeiten», sagt
Christopher Hughes, «so weitermachen
wie bisher, seinePosition ändern oder


Krieg.» Einen Krieg hält der Professor
für internationale Beziehungen an der
London School of Economics für wenig
wahrscheinlich, die Kommunistische
Partei habe genug andere Probleme –
etwa Xinjiang oder Hongkong. Daher
sei die grosseFrage, ob Xi seinePosition
anpassen und «einLand, zweiSysteme»
als Modell fürTaiwan aufgeben werde.
Einfach davon auszugehen, dass sich Xi
stur an der ursprünglich vom grossen
Reformer Deng Xiaoping entworfenen
Formel festklammere, sei einFehler.

Historischer Präzedenzfall


Hughes verweist auf einen historischen
Präzedenzfall. Nachdem die DPP 20 00
mit Chen Shui-bian zum ersten Mal das
Präsidentenamt erobert hatte, habe
der damalige starke Mann inPeking,
Hu Jintao, «einLand, zweiSysteme»
still und leise in der Schublade ver-
schwinden lassen. Mit Erfolg: 2008 ge-
wann die chinafreundlicheKuomintang
(KMT) das Präsidentenamt zurück. Ma
Ying-jeou brachte in seiner achtjähri-

gen AmtszeitTaiwan demFestland so
nahe wie nie seit Ende des chinesischen
Bürgerkriegs 1949. In denAugen vie-
ler ging Ma aber zu weit. Die stetige
Annäherung an Chinaführte 20 14 zur
Sonnenblumenbewegung, die massgeb-
lich dazu beitrug, dass 20 16 die DPP an
die Macht zurückkehrte.

Wichtige Interessengruppen


Im Moment gibt eskeine Anzeichen da-
für, dass Xi Jinping seinePosition gegen-
überTaiwan ändern wird. Es stellt sich
sogar dieFrage, ob er daskönnte, wenn
er denn wollte. Denn trotz seiner per-
sönlichen Machtfülle muss Xi auf Be-
findlichkeitenwichtiger Interessengrup-
penRücksicht nehmen, namentlich auf
die der Streitkräfte. Dadie staatlichen
Medien seitJahren die nationalistische
Tr ommel rühren undTaiwan zu einer
Frage der nationalen Ehre hochstilisiert
haben, müsste Xi eine Richtungsände-
rung auch der Bevölkerung erklären.
Verschiedene Experten rechnen
darum damit, dass China zumindest in

näherer Zukunft die Schraube gegen-
über Taiwan weiter anziehen wird.
Peking werde wohl noch mehr militäri-
sche Manöver in der Nähe vonTaiwan
abhalten und versuchen,Taipeh auchdie
letzten 15 diplomatischen Alliierten ab-
spenstig zu machen, prophezeit Nata-
sha Kassam von deraustralischen Denk-
fabrik Lowy Institute. «Der schon sehr
kleineRaum fürTaiwan in internatio-
nalen Organisationen dürfte noch ein-
mal kleiner werden», sagt Kassam, «und
eskönnte gar sein, dassTaiwan von den
Olympischen Spielen inPeking 2022
ausgeschlossen wird.»

Strafaktionen zurücknehmen


Die harte Haltung der letztenJahre er-
öffnet aber auch Möglichkeiten: Indem
sie die eine oder andere Strafaktion
gegenTaiwan zurücknähme, könnte die
Pekinger Führung eine Entspannung
signalisieren.Sokönnte sie etwa Indivi-
dualtouristen vomFestland wieder er-
lauben,Taiwan zu besuchen, was seit
Mitte letztenJahres unterbunden ist.

Dieskönnte umgesetzt werden, ohne
vielAufmerksamkeit zu erregen. Offen-
sichtlicher, aber für eine wirkliche Ent-
spannung unabdingbar wäredieWieder-
aufnahme offiziellerKontakte zwischen
Peking undTaipeh. Die nötigen Struktu-
ren bestehen bereits.
Eines ist klar:Das taiwanischeWahl-
volk hat gezeigt, dass es auf Druck von
Peking nichteinlenkt, sondern sich
diesem entgegenstellt. Dieses Problem

wird für die KP Chinas nur noch grös-
ser werden, denn die jüngeren Bevöl-
kerungsschichtenTaiwans sind china-
kritischer als die älteren. Und sie iden-
tifizieren sich vorwiegend alsTaiwa-
ner und nicht als Chinesen. Damit
schrumpft die traditionelle Wähler-
schaft derKuomintang.
SolangePeking auf Druck und Dro-
hungen setzt, wird es für eine china-
freundlichePartei aufTaiwan schwie-
rig, an dieMacht zukommen. Eine
taiwanischeRegierung, die ihmund
seinerPartei wohlgesinnt ist, kann Xi
Jinping aufabsehbare Zeit nur erhal-
ten,wenn er bereit ist, Kompromisse
einzugehen.Aus derWarte eines auto-
ritären Herrschers ist dies vielleicht
schwierig nachzuvollziehen, aber in
einer Demokratie wie aufTaiwan hat
dasVolk das Sagen.

Im Wahlkampf hat sich Präsidentin Tsai Ing-wen als Verteidigerin der taiwanischen Demokratie präsentiert. RITCHIE TONGO/EPA

Das konservative Utah verbietet die Konversionstherapie


In dem republikanischregierten Gliedstaat dürfenTherapeutenkünftig nicht mehr versuchen, Homosexuelle zu «heilen»


MARIE-ASTRID LANGER,SAN FRANCISCO


Mit Utah hat einer derkonservativsten
Gliedstaaten Amerikas ein Gesetz er-
lassen,dases lizenziertenTherapeuten
untersagt, die sexuelle Orientierung oder
Geschlechtsidentität Minderjähriger zu
«behandeln». Solche Konversionsthe-
rapien sindVersuche, Homo-, Bi- oder
Tr anssexuelle zu «konvertieren». Im
kirchlichenKontext sind sie unter dem
Spitznamen «Praythe gayaway», also
«Bete das Schwule weg», bekannt.
Die Idee dahinter ist, dass eine nicht
heterosexuelle Orientierung ein Makel
ist, der möglichst frührevidiert werden
muss. Die ersten Berichte von«T hera-
pie»-Versuchenreichen bis ins19. Jahr-
hundert zurück; man setzte auf Hypnose,
Schläge, Elektroschocks undandere ge-
waltsame «Disziplinierungsmassnah-
men». Heutzutage wird laut Experten
vor allem die Gesprächstherapie ange-
wendet, die jedoch nicht minder Scha-
den anrichten kann. Erst imJahr 2012 er-
liess Kalifornien als erster Gliedstaat ein
Verbot der umstrittenen Behandlungen.
19 Gliedstaaten sowie der District
of Columbia untersagen inzwischen die


Konversionstherapie für lizenzierteThe-
rapeuten; Utah ist jedoch der ersterepu-
blikanisch dominierte Gliedstaat, der
diesen Schritt macht.Das Gesetzkönnte
ähnlichenVorlagen, die in denkonserva-
tiven StaatenVirginia,Texas undKentu-
cky diskutiert werden, Aufwind verschaf-
fen. In einer Mehrheit der Gliedstaaten
sowie gemäss Bundesrecht ist dieKon-
versionstherapie nach wie vor legal.

Einflussreiche Mormonenkirche


Dem Gesetz war ein monatelanger Streit
imParlament vorausgegangen um die
Frage, ob solcheTherapieverfahrenauch
für Angestellte der Mormonenkirche
verboten sein sollen und diesenebenfalls
Sanktionen drohen würden. Die in Utah
sehr einflussreiche Mormonenkirche
setzte letztlich durch, dass Geistliche,
Eltern und Grosseltern von der neuen
Regelung ausgenommen sind. 63 Prozent
der 3,2 Millionen Einwohner Utahs sind
Mormonen, unter ihnenauch ein Gross-
teil derParlamentarier. Laut der mormo-
nischen Lehre sind gleichgeschlechtliche
Beziehungen und entsprechende sexuelle
Handlungen eine Sünde. Gleichzeitig er-

mahnt die Kirche ihre Mitglieder, freund-
lic h und mitfühlend gegenüber Lesben,
Schwulen, Bisexuellen undTr ansgendern
(LGBT) zu sein. Sie verurteilt dieKon-
versionstherapie.
CliffordRosky, Rechtsprofessor an
der Universität Utah und einer der
Unterstützer des neuen Gesetzes, zeigte
sich gegenüber amerikanischen Medien
optimistisch, dass die neuenVorschrif-
ten trotz dieser EinschränkungWirkung
zeigen werden.Dass ein Gliedstaat wie
Utah, der «so eng mit derRepublika-
nischenPartei undkonservativenWer-
ten verbunden ist», diese Praktiken nun
öffentlich verurteile, sei ein «extrem
wichtiger Schritt im Kampf dafür, die
Konversionstherapieganzzu verbieten».
Auch Aktivisten lobten das Gesetz
als einen Meilenstein. «Es bedeutet für
mich, dassJugendliche in unseren Ge-
meinden akzeptiert und geschützt wer-
den», sagte NathanDalley, ein 20-jähri-
ger Student an der Universityof Utah.
Dalley hatte selbst eineKonversions-
therapie durchlaufen und kämpft heute
engagiert gegen solche Praktiken.
Laut einer Studie derRechtsfakultät
der University of California Los Ange-

les aus demJahr 20 18 wurde dieKon-
versionstherapie bisher an 698 00 0 Per-
sonen in den USA praktiziert; rund die
Hälfte von ihnen war zu dem Zeitpunkt
minderjährig. Zum Zeitpunkt derVer-
öffentlichung schätzten dieAutoren, dass
in denkommendenJahren 77 00 0 wei-
tere Jugendliche zwischen 13 und 17 Jah-
ren dieKonversionstherapie durchlau-
fen würden, dreiViertel von ihnen durch
Angehörigereligiöser Institutionen.

Schädliche Behandlungsform


Führende amerikanische Gesundheits-
organisationen wie die American Psy-
chological Association verurteilen die
Behandlungsform, weil sie nicht auf wis-
senschaftlichen Erkenntnissen beruhe
undJugendlichen schade.Eine Studie
der SanFrancisco State University aus
demJahr 20 18 zeigte,dassdie Suizid-
gefahr unter LGBT-Jugendlichen, deren
Elternversuchten, ihre sexuelle Orien-
tierung umzukehren, doppelt so hoch
war wie unterJugendlichen, derenVäter
und Mütterkeine solchenVersuche
unternahmen. Die Suizidgefahr ver-
dreifachte sich sogar, wenn dieJugend-

lichen zusätzlich eineKonversionsthera-
pie durchlaufen mussten. Auch die De-
pressionsgefahr stieg gemäss der Studie
si gnifikant. Selbst wenn die Eltern wo-
möglichaus Liebe handelten und ver-
suchten, ihr Kind zu beschützen, schrie-
ben dieAutoren der Studie, unterliefen
solche Methoden das Selbstwertgefühl
derJugendlichen.
Auch der AktivistDalley unternahm
einen Suizidversuch, nachdem ein Psy-
chologe in derKonversionstherapie ihn
immer wieder kritisiert habe, dass seine
Stimme zu weiblich und seinKörper zu
schmal sei undFrauen ihn nicht attrak-
tiv finden würden, erzählt er in einemVi-
deo für denVerein Equality Utah.Dalley
schnallte sich auf Anraten desTherapeu-
ten ein Gummiband um das Handgelenk
und schnalzte jedes Mal als Bestrafung,
wenn er einen Mann attraktivfand.Eines
Abends habe er sich nicht mehr würdig
gefühlt zu leben und eine Überdosis
Tabletten geschluckt, was er jedoch über-
lebte. Das neue Gesetz werde nicht nur
dieJugendlichen schützen,sagteDalley,
sondern auch die Eltern vor einemFeh-
ler bewahren, der sie das Leben ihrer
Kinderkostenkönnte.

Hongkong undTaiwan –
Kampf um Demokratie
Donnerstag, 30.1., 23 Uhr, SRF1.
http://www.nzzformat.ch

Solange Peking auf
Druck und Drohungen
setzt, wird es für eine
chinafreundliche Partei
aufTaiwan schwierig,
an die Macht
zu kommen.
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