Neue Zürcher Zeitung - 27.01.2019

(Sean Pound) #1

6 INTERNATIONAL Montag, 27. Januar 2020


«Früher war hier Leben»


In kaum einem anderen Land schrumpft die Bevölkerung so schnell wie in Bulgarien – im Nordwesten en tvölkern sich ganze Landstriche


VOLKERPABST, BELOGRADTSCHIK


Ob ein Haus in Prolasniza noch be-
wohntist, erkennt man im Herbst auch
an denPeperoni.Wie derWein wächst
Paprika in dem kleinen Dorf im äus-
sersten Nordwesten Bulgariens in jedem
Garten. Und dort, wo sich noch jemand
um den Garten kümmert, werden die
beliebten Schoten nach der Ernte zu
grossen Bündeln zusammengebun-
den und an einenDachbalken oder ans
Scheunentor gehängt.Die tiefroteFarbe
ist schon von weitem zu sehen.
Doch in Prolasniza sieht man kaum
nochPaprikaschoten, dafür umso mehr
Todesanzeigen. In Bulgarien wird, wie
vielerorts in der orthodoxenWelt, das
Ableben eines Angehörigen nicht nur
in Zeitungen, sondern auch auf Plaka-
ten bekanntgegeben, die an der Haus-
tür desVerstorbenen, am Anschlagbrett
oder an einemLaternenpfahl ange-
bracht werden. Sie wieder abzunehmen,
macht sich kaumjemand die Mühe. Wie
in den meisten Dörfern um die Kreis-
stadt Belogradtschik stirbt in Prolasniza
die Bevölkerung weg.
Fünf ständige Bewohner gibt es noch
im Ort. Linka und BorisToschew sind
zwei davon.Das betagte, aber rüstige
Ehepaar lebt in einem Häuschen am
Dorfplatz. Solange sie die Kraft nicht
verlasse, kämen sie hier gut durch,er-
zählt Boris. «Gemüse undWein wach-
sen im Garten, und in denWäldern gibt
es vielWild.» Boris trägt eineTarnhose,
auch mit 80Jahren geht er noch auf die
Jagd. DieWildschweine kämen nachts
auch ins Dorf. «Sie helfen uns auf dem
Kartoffelacker beim Umgraben.»
Wenn man etwas aus der Stadt brau-
che, werde es aber schwierig. EineVer-
kehrsanbindung ins zehn Kilometer
entfernte Belogradtschik gibt es nicht–
wozu auch bei fünf Seelen im Dorf. Zum
Glück lebe eineTochter in der Stadt, sie
bringe Medikamente, erzählt Linka, die
keine Zähne mehr hat und an Diabe-
tes leidet. Und imWinter komme drei-
mal dieWoche jemand vom städtischen
Sozialamt und bringe Brot. «Aber ein-
sam ist es natürlich schon.»


Schlusslicht in den Statistiken


Wie in Prolasniza sieht es vielerorts aus
in derRegion und auch darüber hinaus.
Bulgarien ist neben Litauen dasLand
mit der weltweit am stärksten schrump-
fenden Bevölkerung. Von heute7, 1 Mil-
lionen wird diese laut Uno-Prognosen
bis 2050 auf 5,2Millionen abnehmen,
um mehr als 25 Prozent.1990 waren es
noch 8,7 Millionen.Bereits heute entvöl-
kern sich ganzeLandstriche. Am stärks-
ten betroffen ist der schlechtangeschlos-
sene Nordwesten an der Grenze zu Ser-
bien, drei einsame Autostunden und
eine Passüberquerung von Sofia ent-
fernt.Es ist die ärmsteRegion des ärms-
ten Mitgliedstaates der EU.
Bulgarien bildet in vielen demogra-
fischen Statistiken das Schlusslicht. In
keinem anderenLand derWelt befin-
det sich die grösste Altersgruppe (bei
den Frauen) imPensionsalter. Auch das
Durchschnittsalter steigt schneller als
fast überall sonst, und dies paradoxer-
weise bei der tiefsten Lebenserwartung
innerhalb der EU (75Jahre).
Wie eine Studie der SPD-nahen
Friedrich-Ebert-Stiftung in Sofia zeigt,
kommen in den ländlichenRegionen
Nordwestbulgariens auf 1000 Einwoh-
ner bis zu 30Todesfälle imJahr. Eine
Mortalitätsrate von 30 Promille gibt es
sonst nur in den rückständigsten Gegen-
den von Entwicklungsländern und in
Kriegsgebieten. Bei der Geburtenrate
liegt dasLand mit 1,4 Kindern proFrau
aber im europäischen Mittelfeld.Dass
die demografische Entwicklung den-
noch so extrem ungünstig ist, hat vor
allem einen Grund: die Emigration.


Symbiose von Stadtund Fabrik


Die Abwanderung begann in Prolasniza
schon zu sozialistischer Zeit,damals frei-
lich inForm von Binnenmigration. 1961
wurde in Belogradtschik ein Grosswerk


eröffnet, das anfänglich Schiffssirenen
herstellte, dann aber zur Produktion
vonTelefonapparatenüberging.Vieleder
über 2600Arbeiter kamen aus dem Um-
land in die Stadt. «UnserDorfist schon
lange tot», erklärt Bogdana Nikolowa
Todorowa, die 30Jahre in derFabrik ge-
arbeitet hat,nunaber bis zumWinterein-
bruch jeweils wieder in ihrem Geburts-
haus in Prolasniza lebt. «Doch mittler-
weile stirbt auch die Stadt aus.»
Die Schliessung des Telefonwerks
1999 hat Belogradtschik stark zuge-
setzt.«In Spitzenzeiten produzierten wir
hier 5500 Apparate amTag, vor allem
für d en sowjetischen Markt. Nach der
Wende, beimWechselauf digitaleKom-
munikationstechnologien,konnten wir
aber nicht mehr mit der internationalen
Konkurrenz mithalten», erzählt Budjoni
Todorow, der letzte Direktor des still-
gelegtenWerks. Seither geht es abwärts.
Natürlich sei man nostalgisch. «Be-
logradtschik war dieFabrik, und die
Fabrik war Belogradtschik.» Es habe
eine Berufsschule gegeben, dieTechni-

ker für dasWerk ausbildete, einen Kino-
klub, einen Chor und im Sommer verbil-
li gte Fahrten ans Schwarze Meer. Den
Wohnungsbau habe ebenfalls dieFabrik
verantwortet. «Heute ist alles weg. Seit
der Schliessung hat die Stadtkeine Neu-
bauten mehr errichtet.» Die meisten
Wohnblöcke der grauenStadt sind trist
und heruntergekommen.

Die Arbeitslosenquotesteigt


Die grossen Produktionsgebäude der
Fabrik dominieren zwar immer noch das
Stadtbild, stehen aber weitgehend leer.
Viele Fensterscheiben sind eingeschla-
ge n. Früher lebten weit mehr als 10 000
Personen im Einzugsgebiet des Städt-
chens. Heute sind es weniger als 7000.
Die Zahl der Schulkinder ging sogar auf
die Hälfte zurück.
Dafür stieg die Arbeitslosigkeit an,
zurzeit liegt sie bei über 30 Prozent.Wer
Arbeit hat, verdient selten mehr als den
Minimallohn von 560 Lewa (310Fran-

ken). Leben kann man davon kaum.
Die Arbeitslosenhilfe von 40 Lewa ist
sowieso nur symbolisch. Entsprechend
weit verbreitet ist dieArmut. Perspek-
tiven bietet nur derWegzug. Oder wie
es der stellvertretende Bürgermeister,
AntonTrifonow, ausdrückt: «Die meis-
ten steuern von hier aus denTerminal 2
am Flughafen Sofia an.»Von dort gehen
die Flüge insAusland.
Auch die Enkel von BogdanaTodo-
rowa, derRentnerin aus Prolasniza,le-
ben längst in Grossbritannien. «Sollten
sie jemals zurückkehren, dann allenfalls
nach Sofia. Hierher will niemand zu-
rück.» Die bulgarische Hauptstadt ist
seit dem Ende desKommunismus um
200 000 Ein wohner gewachsen. Es gibt
eine wachsende Mittelschicht, die IT-
Szene ist äusserst lebendig. Aber in der
Provinz sieht es düster aus.

SchwerwiegendeFolgen


Vom Phänomen der Abwanderung sind
weiteTeile nicht nur Bulgariens, son-
dern dergesamtenGrossregion betrof-
fen. Neben demSystemwechsel nach
dem Ende des Sozialismus stellt die
demografische Entwicklung der letzten
Jahrzehnte die wohl grösste Umwälzung
für dieLänder Mittel- und Osteuropas
dar. Das Wiener Institut für Demogra-
fie schätzt, dass seit derWende 12 bis 15
MillionenPersonen aus derRegion emi-
griert sind, meist nachWesteuropa.
Die Auswirkungen sind schwerwie-
gend , etwa in der Gesundheitsversor-
gung, wo die Gehälter im Osten selbst
für Ärzte oftgering sind und gleich-
zeitig imWestenein stetig wachsen-
der Bedarf an Fachkräften besteht.
Jeder sechste in Bosnien-Herzegowina
ausgebildete Arzt soll mittlerweile in
Deutschland arbeiten.
Vielen osteuropäischen Staaten geht
schlicht dasPersonal aus, um in der Flä-
che dieVersorgung aufrechtzuerhalten.
Den14 000 Ärzten, die 2017 in Rumä-
nien arbeiteten, stehen14 000 gegen-
über, die dasLand zwischen 2009 und
2015 verlassen hatten. 10 Prozent der
Bevölkerung haben deshalbkeinen Zu-
gang mehr zu adäquater medizinischer
Versorgung.
Die demografischenVerwerfungen
sindvon Land zuLand unterschied-
lich. InPolen findet gleichzeitig zur Ab-
wanderung polnischerFachkräfte eine
star ke Zuwanderung aus der Ukraine
statt,inKosovo bleibt die Gesamtbevöl-
kerung wegen einer weiterhinrelativ
hohen Geburtenrate stabil.
Für alle Staaten derRegion gilt aber,
dass der negative Effekt aufVolkswirt-
schaft und Sozialwerke dadurch ver-

stärkt wird, dass vor allemJunge und
Leistungsfähige auswandern. Dass
diese dann auch imAusland eineFami-
lie gründen, wirkt sich doppelt nachtei-
lig auf die demografische Struktur aus.
Das Thema hat mittlerweile auch die
Europäische Union erreicht. Der kroa-
tische Ministerpräsident Andrej Plen-
kovic kündigte an, die Demografie zu
einem Schwerpunkt der EU-Rats-Präsi-
dentschaft seinesLandes zu machen,die
im Januar begonnen hat.Auch Kroatien
hat mit denFolgen einer stark schrump-
fenden Bevölkerung zu kämpfen.

Fehlende Strategie


GenowewaPetrowa, die Leiterin der
Denkfabrik AlphaResearch in Sofia,
begrüsst, dass auch auf europäischer
Ebene über dasThema gesprochen wird.
«Di e bu lgarischeRegierung erkennt das
Problem zwar an. Eine Strategie zum
Umgang damit gibt es aber nicht», er-
klärt sie. Das Ziel müsse sein, den Bür-
ge rn imLand einePerspektive zu bieten
und vielleicht sogarTeile der Diaspora
zur Rückkehr zu bewegen.
Dafür brauche es gute Bildungs-
an gebote, ein vernünftiges Gesund-
heitssystem undVerdienstmöglichkei-
ten auch jenseits der IT-Branche, die ein
anständiges Leben ermöglichten. Ganz
allgemein: eine bessere Lebensquali-
tät. «Das erfordert langfristige Investi-
tionen, die vielleicht erst in einigenJah-
ren oderJahrzehnten auch politische
Dividenden abwerfen.Das ist nicht die
Stärke unsererRegierung.»
Im Stadthaus von Belogradtschik
sähe man vor allem imTourismusPoten-
zial – zuRecht, möchte man sagen. Die
landschaftlich äusserstreizvolleRegion
ist bekannt für ihre markanten Sand-
steinfelsen, die unter Kletterern beliebt
sind. Der Blick von der Stadt auf die
bewaldeten Hügel desBalkan-Haupt-
ka mms, aus denen schroffe Gesteins-

formationen emporragen, ist atem-
beraubend.Auch die mittelalterliche
Festung ist sehenswert.
«Dafür müsste aber die Anbindung
verbessert werden.Wäre der Hafen in
Widin in besserem Zustand, kämen viel-
leichtTagestouristen von den Donau-
Kreuzfahrten», erklärt der stellvertre-
tende Bürgermeister Trifonow. Das
weni ge, was es hier gebe, sei aus eige-
ner Kraft geschaffen. Nur die Oper
Sofia leiste etwas Unterstützung für das
Freiluft-Musikfestival im Sommer. «Die
RegierungistnichteinmalinderLage,die
EU-Gelderabzugreifen.Esfehltaneiner
Strategie für dasLand und vor allem für
abgehängteRegionen wie unsere.»

Populistische Stimmungsmache


Auch der in Sofia lehrende Demograf
GeorgiBardarow kannkeinen umfas-
senden Ansatz erkennen im Umgang
mit dem demografischen Problem. Der
Diskurs imLand sei stark populistisch
geprägt.«Vor allem auf derRechten gibt
es viel Gerede über das drohendeAus-
sterben der bulgarischen Nation, auch
wegen derVeränderung der ethnischen
Zusammensetzung der Bevölkerung.
Das bringt uns nicht weiter.»
Tatsächlich steige derAnteil der Min-
derheiten und vor allem derRoma, weil
ihre Geburtenrate höher und die Mobi-
lität tiefer sei.Die zentrale Herausforde-
rung sei dabei der durchschnittlich tie-
fere Bildungsstand in diesen Bevölke-
rungsgruppen, nicht allfällige kulturelle
Unterschiede. «Wir müssen in unser
völlig dysfunktionales Bildungssystem
investieren, und zwar für alle Bevölke-
rungsgruppen.»
Doch stattdessen habe esVorschläge
gegeben, die auskommunistischer Zeit
stammende Steuer auf Kinde rlose wie-
der einzuführen. Über Immigration als
Lö sung desdemografischenProblems,
wie es in vielen westlichen Staaten ge-
schieht, brauche man in diesem gesell-
schaftlichen Klima gar nicht zu sprechen.
Von keinem Gesprächspartner wird
die Personenfreizügigkeit infrage ge-
stellt. «Ohne die Möglichkeit, insAus-
land zu gehen, gingees uns ja noch
schlechter», erklärt Anton Trifonow
im Rathausvon Belogradtschik.«Viele
Menschen hier sind auf Überweisun-
gen vonVerwandten imAusland ange-
wiesen.» Rimessen machen in Bulgarien
immerhin 3,5 Prozent derWirtschafts-
leistung aus. In anderenLändern der
Region liegt derWert noch weit höher,
in Kosovo bei über15 Prozent.
Die PolitikbeobachterinPetrowa
weist ausserdem auf die politischen und
gesellschaftlichen Erfahrungen der Dia-
spora hin, die auch im HeimatlandWir-
kungentf altenkönnen. BeimWider-
stand gegen dieAushöhlung desRechts-
staats inRumänien, der letztlich zum
SturzderRegierungführte,spieltenAus-
landsrumänen eine zentraleRolle. Zu-
dem stehe diePersonenfreizügigkeitals
eine der vier Grundfreiheiten der EU
auch schlicht nicht zur Disposition.
Der frühere rumänischeFinanzminis-
ter EugenTeodorovici hatte vor andert-
halb Jahren eine Einschränkung der Be-
wegungsfreiheit innerhalb der EU ange-
regt, inForm einer einmaligen, auf fünf
Jahre beschränkten Arbeitserlaubnis.
Der Vorschlag löste einenAufschrei der
Empörung aus.

«Wir sind die Letzten»


Linka und BorisToschew wollen so-
lange wie möglich in Prolasniza bleiben.
Dass ihr Dorf eine Zukunft hat,glauben
sie nicht. «Vielleicht als Sommerfrische,
doch permanent wohnen will hier nie-
mand mehr.Wir sind die Letzten.» Und
dann überkommt Linka, derenFami-
lie seit fünf Generationen im Dorf lebt,
doch noch die Nostalgie. «Als ich noch
jung war, wohnten hierin jedem Haus
se chs oder siebenPersonen.Wenn im
Dor f einFest gefeiert wurde, kamen
die Leute aus der ganzenRegion. Stel-
len Sie sich vor, wir hatten sogar einen
Fussballklub: Gigant Prolasniza!Früher
war hier Leben.»

Wie in Krac himir stirbtin vielenDörfern um die KreisstadtBelogradtschik dieBevölkerungweg. VOLKERPABST

Eine Mortalitätsrate
wie in den Regionen
Nordwestbulgariens gibt
es sonst nur in
Entwicklungsländern
und in Kriegsgebieten.
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