Frankfurter Allgemeine Zeitung - 19.02.2020

(ff) #1
Das antikeRom is theutzutageselbstfür
sachkundige Besucher unkenntlich. Iso-
liertstehen dieResteweniger Großmonu-
menteund Ensembles herum, die Mu-
seen zeigenkontextlos einiges an Inven-
tar. Fürden Zusammenhang sind wir auf
Bücher angewiesen, in denen fünf Jahr-
hunderte gelehrte Arbeitverschiedener
Disziplinen zusammenfließen. Diekonti-
nuierliche Besiedlung des Orteser-
schwerteine archäologische Erkundung
ungemein,weil nur sehr punktuellgegra-
ben werden kann; immerhin gibt es öfters
Zufallsfunde durch moderne Baumaßnah-
men. Dennochhaben dievergangenen
Jahrzehnteeine Reihe vonhöchs tinteres-
santenÜberresten aus derFrühzeit der
Siedlung und derwerdendenStadt hervor-
gebracht,konzentriertauf derenKernge-
biet: den Palatin, dasKapitol und dieVe-
lia, die dazwischen liegende Senkedes
späterenForumRomanum sowie das Ge-
bietumdie Tiberfurt,wo sichfrüh ein
Tauschplatz zwischen den Salzhändlern
aus demWesten und den Herdenbesit-
zernimbergigen Hinterlandetablierte.
AlexandreGrandazzi erörtert zu Be-
ginn seiner breit angelegten Darstellung
eingehend, ob dietopographischeKon-
stellation aus Fluss,Übergangsstelle, Hü-
gelketten, Wasserquellen und Umland

den Ortdes späterenRoms als Siedlungs-
wie als Durchzugsplatz besondersgeeig-
neterscheinen ließ. DerAutorrückt sein
Thema in denUmkreis des sogenannten
„spatial turn“, indem er nicht allein fragt,
wie Ortund Raum im Laufeder Zeit von
den Akteurengeformtwurden; vielmehr
sucht er umgekehrtzuzeigen, inwelcher
Weise dergestalteteund sichentwickeln-
de Stadtraum alsgroße Bühne seinerseits
soziale Prozesse, politische Handlungen
und kulturelle Identität zu prägenver-
mochte.
So unterliegt der Darstellung für die
Zeit derkonsolidiertenRepublik,also ab
dem viertenvorchristlichen Jahrhundert,
eine nie erlahmende, indesrecht s chlich-
te Dynamik: Ereignissewerden in Bauten
und Neuges taltungen des urbanenRau-
mes verewigt, diesereizen wiederum zu
neuen Projekten an, die mal beinahe zu-
fällig aus demStreben voneinzelnen Aris-
tokraten umAufmerksamkeit, mal aus
Notwendigkeitenresultieren,wobei frag-
lichbleibt, werdiese feststellte. Dochrich-
tig bleibt:Der städtischeRaum „be-
schrieb und erschuf einenkomplexenpoli-
tisch-juristischen Mechanismus, der Be-
ziehungen des Mit- und des Gegeneinan-
dersunter denverschiedenen Machtin-
stanzen derStadt bestimmte“.

In derTradition der französischen und
besondersder italienischen Archäologie
erör tert Grandazzi dieFrühzeit, dievon
denersteneisenzeitlichenHüttenbisins
vierte Jahrhundertreicht, besondersenga-
giertund optimistisch.Wenn es darum
geht, die archäologischen Befundemit
den anschaulichen, dochfastdurchge-
hendfiktiven Erzählungen der antiken
Geschichtsschreiber zuverbinden, ister
nur etwa svorsichtiger als der in dieser
Hinsichtvöllig hemmungslose Großmo-
gul derrömischen Archäologie, Andrea
Carandini. Auch Grandazzi beschwört
bar jeder Kritik eine ungebrocheneKette
des kollektiven Gedächtnissesvomach-
tenJahrhundertbis zum Geschichtswerk
des Livius, um die dürrenund strittigen
Grabungsfunde aus derKönigszeit mit er-
zählerischem Fleischversehen zukön-
nen. Lapidar identifizierterden Poplios
Valesios auf demStein vonSatricum mit
dem legendenhaftenKonsu lPubliusVale-
rius Poblicola im ersten Jahr derRepu-
blik,was schlicht hanebüchen is t. Gene-
rell erhalten instrittigenFällen dieFrüh-
datierung und diegrößereVarianteden
Vorzug. So wirddie er stedurchgehende,
knapp elf KilometerlangeBefestigungs-
mauerRoms mit der literarischen Überlie-
ferung ins sechste Jahrhundertgesetzt, ob-

wohl dieÜberresteallenfalls einigeStre-
cken der ‚Servianischen Mauer‘ aus so frü-
her Zeit belegen und ihreExistenz mit
der kurzzeitigen BesetzungRoms durch
keltische Krieger um 390 nicht zusam-
menzubringen ist. Tatsächlichdürftedie
Anlageindie Mittedes viertenJahrhun-
derts gehören.Auch für den postulierten
königlichenPalastamForum gibt eskei-
ne hinreichenden Belege.
Zu überzeugenvermögen vorallem die
ersten siebzig Seiten über dievorurbane
Phase.Aucheinigeder Vorschlägezur an-
schließendenEpoche,etwahinsichtlich
des begrenztenetruskischen Einflusses
auf dierömischeUrbanität, sind durchaus
spannend undverdienen eine Diskussion,
dochfür ein besser abgesichertesBild ist
nach wie vordie gediegeneStadtgeschich-
te vonFrank Kolb (1995/2002) die erste
Wahl. Sie hat zudem denVorzug, bis in
die Spätantikezureichen,während Gran-
dazzi mit der „urbanenRevo lution“ unter
Augustus endet.
Paradoxerweise verliertdie zunächstso
pointierte Darstellung anKontur,jebes-
ser sichvom ausgehenden dritten Jahr-
hundertandie Quellenlage darstellt und
je größer dieZahl der interessanten Orte
wird. Selbstein einigermaßen orientier-
terLeser wäre hier dankbar,wenn wichti-

ge Phänomene und Probleme,etwa die
nicht seltenen Epidemien,Versorgungs-
krisen und Brände oder die Einwohner-
zahl und die damit engverknüpfte Frage
nachMortalität undZuwanderung, ein-
mal systematischimZusammenhang dar-
gelegt würden; das gilt auchfür dieWirt-
schaftsentwicklung oder dieKosten für
den Betrieb und die Aufwertung der
Urbs.
Das antikeRom wareine vormoderne
Großstadt, die man erhellend mit Lon-
don oderParisinder Frühen Neuzeit ver-
gleichenkann, und zu all dengenannten
Themen gibt esForschung. Lassen sich
für Tempel, Siegesmonumenteund Infra-
strukturbauten jeweils Konjunkturen
identifizieren?Wann undwarumlösten
größereEnsembles den Einzelbau ab?
Wiegestalt eten Akteureunterhalb der Eli-
te die Urbs mit? Sicher,diese Dingekom-

men immerwieder vor, dochdie großen
Linienwerden hinter den atemlos durch-
eilten Einzelmomenten und -monumen-
tenfastunkenntlich. Immerhin kann
Grandazzi deutlichmachen, wiedie Topo-
graphie Roms vonAnfang an die politi-
sche undreligiöse Integration neuer Be-
völkerungen erleichterte–es wardann Sa-
cheder Feste, Prozessionen und Gedächt-
nisorte,die Bürgerschaftzueiner Einheit
zu formen, ohne den Kraftquell ihrer Of-
fenheitversiegen zu lassen.
Auchdie Gestaltung des Buches unter-
stützt dessen Ziel nicht immer. Dabeistö-
renweniger die aufgesetztenBedeutsam-
keitssignale wieAusrufezeichen und un-
vollständige Sätze; dieUnsitte, Nebensät-
ze zu Hauptsätzen zu machen, mag der (an-
sonstenmeistsattelfesten)Übersetzungge-
schuldetsein. Dochdie dar gebotene Blei-
wüste strapaziertdie Spannkraft selbstge-
duldiger Leser.Zwarfinden sichimAn-
hang Karten und Grundrissegrößerer
Areale, die aberkaum Anschauungbieten.
Dabeigibt es inzwischen wissenschaftlich
verlässliche digitale Rekonstruktionen
etwa des Forums in seinenPhasen.Und
Grandazzi beschreibt zwar,wie ein itali-
scherTempel oder eine Basilikaaussah,
dochwer Hilfedurch Bilder sucht, mussan-
dereWerke konsultieren. UWE WALTER

Sizilien istein Or tder radikalen Gegen-
sätze, und auchdie Bilder,die durchdie
deutsche Öffentlichkeitgeistern,könn-
tenwidersprüchlicher kaum sein:Natur-
schönheit,Kulturschatz, beliebtesReise-
ziel auf der einen Seite, rückständiger
Süden,Raubbau,Ausbeutung, Armut
und Mafia auf der anderen. Darüberge-
rät rasch in Vergessenheit, dassinlitera-
rischen Dingen Siziliens Lageerfreulich
klar ist: Es istein Hortder Weltliteratur.
Der größten Mittelmeerinselverdanken
wir das Sonett, und sie hat über dieZeit,
besondersabdem späten 19. Jahrhun-
dert, mehrgroße Schriftsteller hervorge-
bracht als so mancherNationalstaat.
Giovanni Verga, Luigi Pirandello, Salva-
tore Quasimodo, Leonardo Sciascia,
GiuseppeTomasi di Lampedusa,Ste fa-
no D’Ar rigo, Andrea Camilleri–schon
die bekanntestenunter ihnenstell en ei-
nen beeindruckenden Trupp.
Es verwundertalso kaum, dassMaike
Albath sichnachBänden zuTurinund
Romnun Sizilienzuwendet. Die Litera-
turkritikerin undKulturjournalistin, Trä-
gerindes Alfred-Kerr-Preises 2003, ist
eine ausgewieseneKennerin der italieni-
schen Literatur undKultur.IhreBücher
zu literarischen Orten Italiensverfolgen
einen originellen Ansatz, der Geistesge-
schichte, AnschauungvorOrt,Zeitzeu-
gengesprächund Werkanalysegeschickt
verquickt .Esgibt allerdings auchdeutli-
cheUnterschiede in der Anlageder zu-
nehmend dickerwerdenden Werke.
Während derTurin-Band über denFo-
kusdes Einaudi-Verlags eine Gruppe
vonSchriftstellernund Intellektuellen
der modernistischenitalienischen Nach-
kriegszeit erschließt, ist„Trauer und
Licht. Lampedusa, Sciascia, Camilleri
und die Literatur Siziliens“breit ange-
legt:Ernimmt sichgrossomodo die letz-
ten150 Jahrevor,Gemeinsamkeitstif-
tetnur der Genius Loci.
Albathprivilegiertdabeidie drei im
Untertitel genanntenAuto ren. Zu den
ersterenbeidenbefragt sie TexteundZeit-
zeugen, Camilleri, der am 17. Juli 2019
verstorben ist, hat sie persönlic htreffen
können. DenRaubkatzenanteil ergattert
natur gemäß Lampedusa (1896 bis 1957):
Diese Entscheidung liegtnahe,schließ-
lichist sein Leben selbstromanesk,etwa
die Liebe zu und Ehe mit Alexandravon
Wolff-S tomersee,genannt Licy,lettische
Baronesse und Psychoanalytikerin, oder
dieVeröffentlichungsgeschichtedes„Leo-
parden“; Albathversteht es, einfühlsam
und spannendzuberichten, Gioacchino
LanzaTomasi,Cousin undAdoptivsohn
des Auto rs,liefer timGesprächHinter-
gründe und Anekdoten.
Die Hinwendung zum Proust-Leser
Lampedusa istverständlich,weil er ver-
gangener Größe nachtrauert–der des si-
zilianischen Adels,versteht sich–und
damit der Melancholie einer ehemals
reichenRegion zur Sprache zuverhelfen
scheint.Dazu setzt Leonardo Sciascia
(1921 bis 1989) denKontrapunkt.Zwar
vertritt er eineAuffassung des Metiers,
die demFürstenhättegefallenkönnen:
„Und schließlich,wasist die Literatur
schon anderes als eineriesigeSamm-
lung vonBösartigkeiten?“ Allerdings
idealisiert Sciascia nicht dieVergangen-
heit, sondernzeigt politische Prozesse
auf, welche auchdie Gegenwart prägen,
die Spuren jener Sizilianität, die Albath
wie folgt resümiert: „Ein jederversteht
sichauf Bestechung und alle treiben
doppeltes Spiel.“Sciasciageht es dar-
um, eine „gegenläufigeGeschichts-
schreibung“ zu betreiben, die den partei-
übergreifenden Klüngel enttarnt.
Wirwären also beimThemaMafia,
demHauptproblem derWeltgegend.Al-
bath sArgumentationsgang markiert
abermals eine Gegenposition. Sciascias
SuchenacheinemsizilianischenWesen

lässt ihnhistorische Prozesse und Chan-
cen unterschätzen–das zeigtseineKri-
tik amsogenanntenMaxi-Prozessder
achtziger Jahre, in demGiovanniFalco-
neundPaolo Borsellino Hunderte Mafio-
si anklagten.Der Schriftsteller beschul-
digte die Richter, selbs tdie Machtan
sichreißen zuwollen,und wolltereale
Chancen derVeränderungnicht erken-
nen. „Trauer undLicht“ schließtelegant
mitAndreaCamilleri(1925 bis2019),
der si ch an demselben Phänomen abgear-
beitethat,in denKrimisumseinenKom-
missar Montalbano,aus denen aller Insti-
tutionenkritik zumTrotz eingewisses
Vertraueninden Staat spricht.
Alle dreiAutoren stellendie Frage
nachderVerände rung undVeränderbar-
keit sizilianischerVerhältnisse. Sie eint,
dasssie his torische Romaneverfasst ha-
ben: Albath widmetSciascias „Das ägyp-
tischeKonzil“ (1963)erhellendeZeilen
und sieht zuRechtdie MeritenvonCa-
milleris historischenWerken. Gemein
istdem Trio weiterhin der leichthändi-
ge,jamitunterfarcenhafte Zugriff auf
die Geschichte. Albathstifte tweitere
Schnittstellen, indem sie sichLiteratur
gern über Verfilmungen nähert.
Entstanden istsoein runderBand,
reich, elegantgeschrieben, eine sinnvolle
Kombination auskanonischemWissen
und eigenenRecherchen, ausReflexion
und Anekdote.Ererhellt kulturell eHin-
tergründe und Muster, wie jenes der me-
diterranen Mutter und der daraus folgen-
den ambivalenten Männerrolle,wie sie
„DerschöneAntonio“(1949)vonVitalia-
no Brancatiexemplarischverkörpert.

Vordiesem Hintergrund istjeder Ein-
wand relativ,selbstwenn er so Grund-
sätzliches wie die Anlagebetrifft. Der
Schwerpunkt auf Lampedusa –zählt
man die DarstellungvonViscontis „Leo-
pard“-Verfilmung hinzu, nähertsich
sein Anteil der Hälfte–ist zu hinterfra-
gen: So spannend Leben undWerk sind,
sie privilegieren einen Blickauf Sizilien,
den bereits das süffig-sepiafarbeneUm-
schlagbildundde rTitel andeuten. Ande-
re,sperrigere Autorenwerden an den
Rand gedrängt.ZuQuasimodo wirdwe-
nig gesagt, hermetischeLyriklässt sich
weniger gut erzählen; aber auchVerga
und D’Ar rigo, Autor desUngetüms
„Horcynus Orca“ (1975),kommen zu
knapp, Letzterer teilt sichein Kapitel
mit derFotografin Letizia Battaglia und
der Verlegerin ElviraSellerio.Vorallem
Pirandello hätte einen anderen Platzver-
dient:Dafür sprechen seinRang als Be-
gründer der italienischen Moderne in
Roman und Drama, seine Bedeutung
fürdie DebatteumSizilianität und seine
Stellung im personellen Geflecht (sogar
mit Camilleriist er verwandt).
Schließlichführtder Weitwinkel auf
eine ganze Region dazu, dassnach dem
Typischengesucht wird–ein Vorgehen,
das sichinden Kulturwissenschaften
großer Beliebtheit erfreut, aberriskiert,
sehr unterschiedlicheWerkeund Auto-
renüber einenKamm zu scheren. Das
alles sind freilichauchinsofernrelative
Kritikpunkte, als Albath sie oftvorweg-
nimmt, reflektiert, mitunter entkräftet.
Denn das istdie letztegroße Qualität
dieses s chönenBuches: eine klugeAuto-
rin, die untergründig ein stummes und
anregendes Zwiegesprächmit ihrem Le-
ser führt. NIKLAS BENDER

W


enn schon, denn schon.
Wenn Puschkin 1820 auf
der Reise nachOdessa
schon als „künftiger Mozart
der russischenPoesie“ eingeführtwird,
dann,voilà, bitteebenso überspannt und
exaltiertwie der ProtagonistinMiloš For-
mansFilm„Amadeus“. Derrussische Sa-
lieri–wenn man so will–, NikolaiKaram-
sin, hat indesweniger Probleme mit dem
eigenen Geniedefizit und schickt sichge-
nügsam in dieRolle des Mentorsund För-
derer sdes künftigenNationalliteraten: Er
setzt sichdafür ein, dassdie Verbannung
des DichtersnachSibirien in einenAuf-
enthalt an der Schwarzmeerküsteumge-
wandelt wird.
Bei einemAufenthalt in Saporoschje –
heuteSaporischschja und imText auf-
grund der englischenVorlageetwas un-
glücklichals Zaporoschje wiedergegeben
–erkrankt der Dichter.Der innigen Pfle-
ge seiner jüdischenWirtin is tnicht nur

die Genesung, sondernwohl auchein
Erbe zuverdanken.
Rund einhundertfünfzig Jahrespäter
verfällt derRuss ischlehrer JosikWinter
der fixenIdee, einNach fahredes verehr-
tenPoetenzusein. Immerhin hat er ein
Schriftstückgefunden, bei dem es sichum
eine Originalhandschrifthandelnkönn-
te.Dochwährend er seingenealogisches
Glückmehr oderwenigergeheim hält,
posaunt die in Moskau lebende Cousine
seinerFrau, AlkaKatz, lauthals heraus,
wassie sic hinzunehmendemWahn zu-
sammenfabulierthat: Hemingway ist
nicht nur ihr Dissertationsthema, son-
dernauchihr Vater.
Svetlana Lavochkina, eine Ukrainerin,
die heuteinLeipzig lebt und auf Englisch
schreibt, spürtinihremRoman „Pusch-
kins Erben“ derAtmosphärewährend der
Breschnew-Zeit nach. Schauplatz isteben
Saporoschje, gelegen am Dnepr, eine
Fahrtmit demNach tzug vonMoskau und
quasi einenKatzensprung vonOdessa
entfernt.Jüdische,russische und ukraini-
sche Menschen,Kosakenund Zigeuner le-
benhier zusammen,einträchtig schon,
aber mit allerleiverbalenKatzbalgereien,
die auchimFlirtoder der Anmache derb
sind. Dakann eineRussin in die Silvester-
feier einer jüdischenFamilie platzen und
erklären: „‚So trinken wir ehrlichenRus-
sen‘, sagteSwetka, ihr Glas hochhaltend,
‚in einemZug. Nicht wie ihr Juden mit eu-
renTricks. Ihr trinkt, ohne betrunken zu
werden. Ichwette, ihrgießt euchden
Wodka in die Ärmel, nichtwahr,Josik?‘“

Eine Stimmung, wie vielleicht eingefan-
genvon Repin in seinem Gemälde der
SaporogerKosaken, die dem türkischen
Sultan schreiben. Deftig und zotig. Bei
Schmerzen oder Nebenwirkungen lese
man daher die Seitedes Impressums –
„Die Verwendung einiger Begriffeim
Text spiegelt nicht die Haltung desVerla-
geswider“ –oder begebe sichdirekt zur
Buchhandlung desVertrauens.
Nacheinerkurz en Phase desTauwet-
ters leitet Breschnewdie tris te Ödnis der
Stagnation und Gerontokratie ein.Visu-
ell is terbis heutepräsent, als Mann,der
mal mit einem ostdeutschenPolitiker den
sozialistischen Bruderkusstausc ht, mal
mit einemwestdeutschen in Brauenkon-
kurrenz treten könnte. Dochsonst? Der
„aktiveWortschatz der Schaffnerin bein-
haltete,bitte‘ und ,selbstverständlich‘“ –
aber nurweil sie in der ersten Klasse der
Bahn eingesetzt wurde. Niemand istin
dieserZeit besonderszimperlich. Die Mit-
glieder der jüdischen FamilienWinter,
Knoblauchund Katz wärensoschreckli ch
gern mondän und promiskuitiv,aber am
Ende landen immer wieder alle in einer

höchstüberschaubarenZahl vonBetten.
EinReigen, wie er piefigerkaum sein
könnte. Um angesichts derTristessenicht
eine „komplexe subkutaneAbfolgevon
Stimmungen“ zu durchleiden, gibt es ein
paar probateMittel: in einen „wirklich-
keitsabweisenden Taucheranzug“zu
schlüpfen, sichdie Realität durch etliche
Botschaftsangehörige, die an jeder Ecke
beharrlichauf das begehrte Stelldichein
warten, schönzureden oder am Ende aus-
zuwandern, nachIsrael oder Amerika.
Lavochkina zieht die Nomenklatura
der damaligenZeit treffsicher durch den
Kaka o–Schuhfabriksdirektorentöchter-
chen Alkaaus Moskau hältKapern für
zappligeFische und Anchovis für Bee-
renaus dem Mittelmeerraum –und
fängt dieAtmosphäre mit ihrer Defizit-
wirtschaftund dem dauerhaftenSchie-
lennachdem Westenbei gleichzeitiger
offizieller Arroganz gegenüber demKapi-
talismusmit viel Phantasie ein.Das ist
guteUnterhaltung.Gelegentlichgerät ihr
ein Dialogetwas hölzern, gelegentlich
gestattet sie sicheine Zote zu viel, am
Ende entwirft sie unter dem Grau jedoch
ein farbenreiches Bild.Antisemitismus,
Frauen verachtung, dasgroße Schweigen
überdie Stalin-Zeitunddie Herabset-
zungder Pr ovinz –all da sfängt sie ein.
UndamEnde zeigt sich,dassdieser Ro-
man sämtlichen derbenZotenzum Trotz
sehr ern sthaftauchvon geplatztenTräu-
men und Lebensentwürfen spricht und
dass unter derrohen Oberfläche etwas
Zartes liegt. CHRISTIANE PÖHLMANN

MaikeAlbath:
„Trauer und Licht“.
Lampedusa, Sciascia,
Camilleriund die
Literatur Siziliens.
BerenbergVerlag, Berlin


  1. 352 S.,geb., 25,– €.


AlexandreGrandazzi:
„Urbs“.RomsWeg
zurWeltmetropole.
Ausdem Französischenvon
N. Lemmens, R. Schmidt,
M. Schubert, C. Klünemann.
WBG/PhilippvonZabern
Verlag, Darmstadt 2019.
720 S.,geb., 80,– €.

Svetlana Lavochkina:
„Puschkins Erben“.Roman.
Ausdem Englischenvon
DianaFeuerbach.
Verlag Voland &Quist,
Berlin/Dresden /Leipzig


  1. 368 S.,geb., 24,– €.


DieStadt, in der sichSchicksale kreuzen: Saporoschje aus derLuft. FotoGetty

Zur großen Bühne wirdder Raum der Stadt


Zwischen Momenten und Monumenten: AlexandreGrandazzi beschreibt denWegRoms zurWeltmetropole der Antike


Ein Taucheranzuggegen die Welt


Beimschönen Antonio


Jeder besticht, und alle treiben doppeltes Spiel:


MaikeAlbath besichtigt Sizilien und seine Literatur


Svetlana Lavochkina


zieht in ihremRoman


„Puschkins Erben“


die Breschnew-Zeit


durch den Kakao.


SEITE 10·MITTWOCH,19. FEBRUAR2020·NR.42 Literatur und Sachbuch FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

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