Frankfurter Allgemeine Zeitung - 19.02.2020

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NR.42·SEITEN1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Natur und Wissenschaft MITTWOCH, 19.FEBRUAR2020


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GroßeVerunsicherung bei Schwangeren: DerWirkstoff


Misoprostol, der oftzur Einleitung der Geburtgenutzt


wird, istzuUnrecht in die Schlagzeilengeraten.


Gibt esForscher,die sic hihren Gegenständen


anverwandeln? BeiStreitgegenständen istdas häufig


der Fall. EineTagung zur polemischen Öffentlichkeit.


Langewar Nürnbergdie einzigeHalbmillionenstadt in


Deutschland ohne eigeneUniversität.Jetzt will es die


Hochschule des 21. Jahrhunderts neu definieren.


EINWEHENMITTEL IMFADENKREUZ GEPFEFFERTE METHODEN SIND IHNEN DIE LIEBSTEN


E


sgibt nicht vieleInsekten, die
wir Menschen ins Herzge-
schlossen haben.Viele Sechs-
beiner kreuchen undfleuchen meist
genau da,wo wir sie nicht habenwol-
len; im schlimmstenFall stechen sie
sogar .Aber werkönnte dem gemütli-
chen Charme einer Hummel widerste-
hen? Dieflauschigen Insektengehö-
renzur großen Bienen-Familie, erin-
nernaber eher anWinnie thePooh,
der seinenTaggernmit einemgroßen
Topf Honig beginnt.IhreKörperfülle
führte ehedemsogar zu einem My-
thos, dem Hummel-Paradoxon: Nach
den Gesetzender Aerodynamik
reicht ihreFlügelfläche eigentlich
nicht aus, um die Brummer in der
Luft zu halten. Langekursierte daher
der Scherz, dassHummeln sichdieser
Gesetze nicht bewusst sind und daher
trotzdemfliegen. Mittlerweile is tbe-
kannt, dassHummeln ihreFlügel
kreisförmig bewegenund so erheblich
mehrAufwind erzeugen als diestar-
renFlügel eines Flugzeugs. Dassauch
heutenochnicht alle Geheimnisse
der Hummelngelüftetsind,zeigt eine
in „ScienceAdv ances“erschienene
Studie.Das ForschungsteamumSta-
ceyCombes untersuchte, wiedie Men-
ge an Nektar undPollen, die Hum-
meln sammeln, mit deren Energiever-
brauc hzusammenhängt.Langewur-
de angenommen, dassdie Beziehung
linear ist: je mehr Gepäck, destogrö-
ßer der Energiebedarf. Docheszeigte
sich, dasssichhier einweiteres Hum-
mel-Paradoxonverbirgt. Um mehr
Kraf tzuerzeugen,vergrößernInsek-
tenmeistdie Amplitude ihres Flügel-
schlags oder erhöhen die Schlagfre-
quenz. DieWissenschaftler beobach-
tete ndreißig Hummeln bei derFutter-
suche und ermittelten Grundumsatz,
Gewicht, Schlagamplitude und -fre-
quenz. Dabeifanden sie heraus,dass
Tiere mit leichtem Gepäckzwarihre
Schlagfrequenz und damitauchlinear
ihren Grundumsatz erhöhen.Tragen
sie jedochschweresGepäck,erhöhen
sie ihreSchlagamplitude,wasnicht in
linearem Zusammenhangmit ihrem
Grundumsatz steht.Die Hummeln
verbrauchen ihreEnergie also effi-
zienter,wenn sie schwer beladen sind.
Warumsie sic hbei leichtem Gepäck
gegenEffizienzentscheiden, bleibt
vorerstein Rätselund erinnerteinmal
mehr an einen Gedanken, derWinnie
the Pooh zuzuschreiben ist: „Die Leu-
te sagen, nichts istunmöglich, aber
ichtue denganzen Tagnichts.“

NÜRNBERGERZUKUNFTSMODELL

G


las istein uralter
Werkst off. Schon
im alten Ägypten
vor4000Jahren
wussteman,Kalk,
Sand undNatronzu
einemfesten, tr ans-
paren tenMaterial
zu verschmelzen.Undnochheute werden
Fenstergläser und Glasgefäßenachähnli-
chenRezepturenhergestellt.Indemman
diechemischeZusammensetzungvarii ert
undder Schmelzeweiter eStoffebeimischt,
könnenFarbe, Härtegrad,thermische und
chemische Beständig keitsowie Brechungs-
index oderTranspar enzgezieltverändert
werden.Allein für optische Anwendun gen
existieren mehrerehunde rt Spezialgläser.
Zwar istGlas auchinder Mikrooptikge-
fragt. Weil man kleine Gläsergewöhnlich
aber nur durch Ätzen oder Schleifen er-
hält, stößt man bei derFormgebung und
Strukturierung des Materials schnell an
Grenzen.Deshalb gibt man in vielenAn-
wendungenKunsts toffen denVorzug, ob-
wohl Glas die bessereWahl wäre.Sobe-
stehen die Linsen vieler Smartphone-Ka-
meras ausKunsts toffstatt aus Quarzglas.
Dochdas dürftesichbald ändern.
DennWissenschaftler und Ingenieureha-
ben gelernt, Glas trotzdes hohen
Schmelzpunkts und seiner besonderen
Materialeigenschaftenfür die additive
Fertigung–auch3D-Druckgenannt –
nutzbar zu machen. Dadurch haben sich
für das Design und dieStrukturierung
vonGlas völlig neue Möglichkeiten eröff-
net. Wasfür Kunsts toffeund viele Metal-
le längstgängigePraxis ist, hat sichfür
Glas als schwierigesUnterfangen erwie-
sen. Glas lässt sichnicht ohneweiteres
als selbsthärtende Pasteoder inflüssiger
Form auf eine Oberfläche sprühen und
mit einem Laserstrahl lithographischmo-
dellieren. Zwargabesind er Vergangen-
heit immer wieder Ansätze, Glas in Pul-
verformoder imgeschmolzenenZustand
zu drucken. Das führte aber meistdazu,
dassdas Glas porös und trüb wurde.
WissenschaftlervomMedia Lab des
Massachusetts Institute of Technology
(MIT) in Cambridgewaren die ersten, die
es schafften, transparentes Glas additiv
zu verarbeiten.NeriOxman und ihreKol-
legen schmolzen Glaspulver mit niedri-
gemSchmelzpunkt in einem Ofen und
pres sten das zähflüssigeMaterial durch
eine dünne Düse auf eine heiße Oberflä-
che. Nach einemvorgegebenen Computer-
modellformte sichSchicht für Schicht
das gewünschteGlasobjekt. Die auf diese
Weise erreichbaren Schichtdickenund
Detailgrößen belaufen sichauf wenige
Millimeter. Das Verfahren nutzen Oxman
und ihreKollegenvorallem zur Herstel-
lung kunstvoll geformterGefäße und
jüngstauchfür größereLampenschirme,
jedoch weniger fürtechnische Anwendun-
gen. KleinereDetails erreicht man mit ei-
nem intensiven Infrarotlaser,der auf das
Ende einer dünnen Glasfaser gerichtet
wird. Das aufgeschmolzeneGlas tropft
auf eineUnterlageund er starrt.Dieses
Verfahren ermöglicht zwar eineAuflö-
sung vongut einem halben Millimeter. Im
Zuge des Schmelzprozessesverlaufen je-
dochhäufig diefeinen Konturen.
Deutlichfiligraner sind dagegen die Ob-
jekteaus Quarzglas, dieWissenschaftler
um BastianRapp undFrederikKotz vom
NeptunLab derUniversitätFreiburgdru-
cken können. DerWegüber eine Glas-
schmelze entfällt.Möglic hist das dank ei-
nes lichtempfindlichenKompositmateri-
als, in dem winzigeQuarzglaskügelchen
gleichmäßigverteilt sind. Das Material
lässt sichwie einKunstharzadditivverar-
beiten. „Unser Kompositmaterialkann
schon mit einemgewöhnlichen 3D-Dru-
cker in jede beliebigeFormgebrachtwer-
den, und das beiRaumtemperatur“, sagt
FrederikKotz. Er hat dieRezeptur maß-
geblichentwickelt und wurde dafür im
vergangenen Jahr mit demStudienpreis
der Körber-Stifung ausgezeichnet.
ZumDrucken wirddas flüssig eKunst-
stoff-Quarzglas-Gemisch–die Forscher
habe neswegen seiner polymerartigen Ei-
genschaftenGlassomergetauft–mit ul-
traviolettem Licht bestrahlt.Dort, wo das
Licht auftrifft,werdenchemischeReaktio-
nen ausgelöst, diezum Aushärtendes Ma-
terials führen. Eine Plattformzieht den
gedrucktenRohling Schicht für Schicht
aus derWanne mitflüssigemKunsts toff
heraus. Istder Rohling belichtet,wirdder
nochflüssig eKunsts toffentfernt.Danach
kommt derRohling in den Ofen. Bei 600
Grad zersetzt sichder Kunsts toff,und das
verbliebene Quarzglaspulverwirdbei
1300 Gradgleichmäßigverbacken. Das
Ergebnis istein transparentes Objekt aus
reinem Quarzglas.
Im Zuge des Sinterns istdas Bauteil um
etwa 15 Prozentgeschrumpft. Weil das in
alle Raumrichtungen gleichmäßig er-
folgt, bleibt die ursprüngliche Statur erhal-
ten. „Das Defizit beheben wir dadurch,
dasswir unsereGlassomer-Modellevon
Anfang an entsprechendgrößer skalie-
ren“, sagtKotz. DasVerfahren istbeson-
dersfür die Herstellung kleiner Glasob-
jektegeeignet, die wenigeZentimeter
oder Millimetermessen. Im Prinzip lie-
ßen sichauchgrößere Gläser produzie-
ren. Dochdas Brennen würde dann unver-
hältnismäßig vielZeit benötigen.Vonder
Qualitätdes3D-Druckers hängt es ab,
wie fein dieStrukturen der Glasteile wer-

den. „Mit unserem DruckerMarkeEigen-
bau erreichen wir derzeit eineAuflösung
vonknapp einem Mikrometer“, sagtKotz.
Dienten die ersten Objekte–eine glä-
serneBurgund eineBretzel–zu Demons-
trationszwecken, so stehen heute Bautei-
le für die Mikrotechnik imFokus: Linsen,
Lichtwellenleiteroder mitfeinen Kanä-
len strukturierte Gläser für die Mikroflui-
dik.Die Forscher legen jetzt bereits beim
Druc kenfest, wo in ihrem Quarzglas die
Kanäle verlaufen sollen, in denen später
Chemiker und Biologen ihrewinzigen
Flüssigkeitsmengen dosieren,vermischen
und analysieren. Dazu betten sie einzelne

Polymerfäden in das Glassomer ein. Die-
se verflüchtigen sichbeim Brennen zu-
sammen mit demKompositmaterial.Zu-
rückbleibenfeine Kanäle imgesinter ten
Glasbauteil („NatureCommunication“,
doi:10.1038/ s41467-019- 09497). Durch
gezielteStrukturierung derPolymerfäden
mit einem Laserstrahl können meandern-
de und spiralförmigeKanäle erzeugtwer-
den mit Linienbreitenvonbis zu sieben
Mikrometern.Bislangwaresnur über
Ätzver fahren möglich, winzigeHohlräu-
me undfeine Kanäle dieser Größenord-
nung in Quarzgläsernzuerzeugen. Die
Forscher können ihreausgehärtete nGlas-
somer-Rohlingezudem mechanischbear-
beiten, per Hand oder mit einer CNCMa-
schine.Nachdem Fräsen, Drehen oder
Schneiden wirddas Werkstück gesinter t.
So entstehen Schrauben oder Mutternaus
Quarzglas, aber auchHochleistungslin-
sen für Smartphones(„Advanced Materi-
als“, doi: 10.1002/ adma.20170 7100).
„Uns warschnell klar,welchesPotenti-
al in unsererTechniksteckt“, sagtKotz.
Schonkurz nachdem dieForscher ihre
Technik publizierthatten, seien viele An-
fragen aus der Industriegekommen.Ne-
ben Hersteller nvon Schmuck und Glasge-
fäßen zeigten insbesondereOptikfirmen
undProduzentenvonSystemen für dieMi-
krosy stemtechnikgroßes Interesse.„Wir
ließen unserVerfahren patentieren und
gründetendas Start-up-Unternehmen
Glassomer.“ Damitvermarkten dieFor-
scher derzeitvorallem ihre Glassomere.
Daneben loten dieForscher an derUni-
versität Freiburgdie Möglichkeiten ihres
Verfahrensweiter aus. Sogeben sie dem
flüssigen GlassomerSubstanzen hinzu,
um die Eigenschafteneines Glasesgezielt
zu verändern. DieWissenschaftlerkön-
nen schnell sehen, ob eine bestimmte
Glasmischung zumgewünschten Ergeb-
nis geführthat.Die Entwicklungund Her-
stellungvonSpezialgläsernüber klassi-
sche Schmelzprozesse istnochimmer ein
langwierigerund mühsamerVorgang.

Inzwischenis tesa uchanderenForscher-
gruppen gelungen, stabile transparente
Gläse rmit komplexenFormen zu drucken.
Forscher um AndréStudar tvon der ETH-
Zürich e twavermischen ein spezielles
Kunstharzmit einer organischen Silizium-
verbindung. Beim Aushärten mit UV-Licht
bilden sichPorenimMaterial, in denen
sich die Siloxan-Moleküle einnisten.Die
Porengrößelässt sichüber dieeingestrahlte
Lichtintensität einstellen. Je intensiver das
Lichtist,dest okleine rwerden diePoren,
undumsofiligraneristspäterdasGlasbau-
teil, nachdem dasPolymergerüst in einem
Ofe nverbrannt und dasSiloxanverdichtet
undinGlas verwandeltwurde .Allerdings
hatdas Verfahren der SchweizerForscher
einenNachteil.Beim Sinter nschrumpfen
die Bauteile um bis zu 90 Prozent.Deshalb
sind die 3D-Glasobjektenicht vielgrößer
als ei nSpielwürfel. GroßeGlaskörperwie
Fensterscheiben, Spiegeloder Gefäßekön-
nendie SchweizerForscher nicht additiv
fertigen .Das bleibtwohlweiter das Privi-
leg de rGlashütten undGlashe rsteller.
Acht MeterimDurchmesser misst bei-
spielsweise dergrößtejemals in einem
Stück gefertigteSpiegel derWelt.Inge-
nieur eder GlaswerkeSchottinMainz hat-
tenihn für das„VeryLarge Telescope“
der europäischen Südsternwartegegos-
sen, das in derchilenischenAtacama-
Wüsteseinen Sitz hat.Aber auchbeim
Weltmarktführer für Spezialglas und Glas-
keramikenverfolgt man die jüngstenEnt-
wicklungen beim 3D-Drucksehr genau
und arbeitet auf dem Gebietseit einiger
Zeit mit diversen Forschungsinstituten
und Unternehmen zusammen.InMainz
stehen die additivenFertigungstechnol o-
gien zur Herstellung eigener Produkte
oder Komponenten jedochnicht auf der
Agenda. „In erster Linie sehen wir uns als
LieferantvonSpezialmaterialien mit den
für Glas typischen EigenschafteninPul-
ver-,Stab- und Plattenform, die sichfür
den 3D-Druckeignen, aber auchdafür an-
gepasst werden können“, sagt Bernd Hop-
pe, Leiter für Laser-und Weiterbearbei-
tung in derForschungs- und Entwick-
lungsabteilungvonSchott.
Wasdas technis cheund wirtschaftliche
Potential betrifft,betracht et man bei
Schott das Druckenvon Glas mittelfristig
eher als Ergänzung für diekonv entionel-
len Produktionstechni ken, nicht als Er-
satz. „Dabeimuss auchein Umdenken
beim DesignvonGlasprodukten erfol-
gen, um der beim 3D-Drucktypischen ad-
ditivenFertigung mit ihren Möglichkei-
tengerecht zuwerden.“ Dassman bei
Schott durchaus auchGläser fertigen
kann, die Anforderungen der Mikrotech-
nik erfüllen, zeigt das dünnste gefertigte
Glas:Esi st dünner als ein menschliches
Haar und lässt sichwie eineFolie rollen.
Ob klassischals Schmelze oder per Knopf-
druc kineinem 3D-Drucker–dank ausge-
klügelterTechnikensteht aucheinem der
ältes tenWerkstoffedas Torins 21. Jahr-
hundertweit of fen.

Die Nasa-Sonde „New Horizons“ hat
mit ihremVorbeiflug an demKuiper-
gürtelobjekt Arrokoth,auch„Ultima
Thule“genannt, neue Einsichten in
die Natur des aus zwei Klumpen zu-
sammengesetzten, 36 Kilometerlan-
genKörper sgeliefert.Das Objekt be-
findetsichjenseits derNeptunbahn,
gut 44-mal soweit vonder Sonne ent-
ferntwie der mittlereAbstand zwi-
schen Sonne und Erde, undgehörtei-
ner Population eisiger und sonnenfer-
ner Gesteinsb rocken an, deren Materi-
al seit der Entstehung des Sonnensys-
tems fast unverändertgeblieben ist. In
drei neuenStudien in „Science“ sind
jetzt die chemische Zusammenset-
zung, seine Entstehung und seine
Geologie diskutiertworden. Auf der
Oberfläche desKörperskonnteMe-
thanoleis zusammen mit organischen
Molekülen nachgewiesen werden,
während überraschenderweise Was-
sereis zufehlen scheint.Erklärtwer-
den könntedieser Mangel,wenn das
Methanol auf der Oberfläche che-
mischaus Wassereis und Methan ent-
standenwäre.Die Form lässt wieder-
um darauf schließen, dassdie beiden
Körper,aus denen er zusammenge-
setzt ist, sichmit geringer Geschwin-
digkeitvereinigt haben, nachdem sie
zuvor ein Binär-System gebildethat-
ten. Die Beobachtungen zeigtenwe-
der Ringenochgrößer eSatelliten und
einevonnur wenigen Kraterngezeich-
nete Oberfläche. Insgesamt erscheine
Arrokoth als typischerVertreter der
Klasse sogenannter „kalteklassische
Kuipergürtel-Objekte“. sian

Flugparadox


VonJohanna Michaels

Glas aus


dem Druc ker


Am Rande des


Sonnensystems


Die Vorschusslorbeeren der Bundes-
kanzlerinkamen früh.Früh genug,
um wichtig zu wirken. Morgenerst
wirddie Kanzlerin Gerald Haug, dem
Paläoklimatologen und Direktor des
Mainzer Max-Planck-Instituts für Che-
mie, zu seinem neuen Amt als Präsi-
dent derNationalakademie Leopoldi-
na gratulieren. Dochschon vorTagen,
das BerlinerParteiengewitter tobteda
längstüber ihr,ließ Frau Merkelöf-
fentlich wissen, wie willkommen ein
Klimaforscher an der Spitze der nomi-
nell wichtigstenPolitikberatungsinsti-
tution im Land sei.
Ehrensache für Haug. Die Physike-
rinhat verstanden. Sie und er,zweiin
einem Boot.Wieträlle rtedereinstPe-
terMaffay: „Und derWind weht in
die Segel...“Die Sache hat nur einen,
nein zwei Haken: Haugkommt, sie
geht.Und sowenig wie sie schon Kli-
makanzlerin ist, will er Klimapräsi-
dent werden. Als Präsident derNatio-
nalakademie Leopoldina und damit
als „Integral“ (eines seiner Lieblings-
wörter) von1600 Akademiemitglie-
dern–exzellentenWissenschaftlern
diverser Disziplinen–musserjede As-
soziationzueinem möglichen Durch-
marschdes Klimathemasvonsichwei-
sen: „Ichsehe vieleRevolutionen,die
uns wichtig sein müssen, die Digitali-
sierungetwa oderdie neuenKrebsthe-
rapien.“ Haug sagt, erwollteursprüng-
lichArztwerden, erkonntenur kein
Blut sehen. Stattdessen segelt er jetzt
auf der MS Eugen Seibold, theore-
tischzumindest, de mhochgerüsteten
Forschungsschiffseines Instituts, das
für die Klimaforschung auf den Mee-
renunter wegs ist.Vorerstallerdings
braucht er in Halle und Berlinvoral-
lem festen Boden unter seinenFüßen.
Mit 51 Jahren istereine andereGe-
neration, siebzehn Jahreunter dem
Akademieschnitt und vierzehn jünger
als dieKanzlerin. Genau deshalb aber
will er in Berlin nun hartamWind se-
geln. „Die Verrohung der Gesell-
schaf tdurch den Populismus istein
Riesenproblem“, sagt er,und deshalb
soll dergroße alteKahn Leopoldina
beweglicherwerden: „BrisanteThe-
men besser antizipieren“ und „punkt-
genau sprechfähig sein“, mehr Dyna-
mik also in derPolitikberatung. Sein
Vorgänger ,der MikrobiologeJörgHa-
cker,hat in zehn Jahrenstolze 280
Stellungnahmen auf den Wegge-
bracht.Erh at di e„Wissenschaftskom-
ponente“ in die G-20- und G-7-Ver-
handlungen eingebracht, die Akade-
mien haben denFußindie Türder
großenPolitik gesetzt, daswarauch
„Völker verständigung“, wie Hacker
sichzugutehält.„Wissenschaftmüss-
te aber nochmehr eine globalekultu-
relle Be wegung werden“ –wie Musik
oder Literatur zum Alltaggehören.
Vielleicht wäre GretaThunberg
dann ja ein Maßstab. Ihr Motto „Uni-
te behind science“, sichhinter derWis-
senschaftversammeln, sichtbarerwer-
den, das will Haug „unterschreiben,
unbedingt sogar“. Gleichzeitigwarnt
er:„Wirmüssen als Akademie unauf-
geregt reagieren,vornehm bleiben.“
Sätze wie diese mussersagen. Mittei-
len will eretwasanderes: Bullshit
muss wie Bullshit behandeltwerden.
Die Lungenärzte, die mit wissen-
schaftlichunhaltbaren Behauptungen
die Schadstoffe verharmlostenund
die Grenzwerte attackierten, hat man
zu langegewährenlassen. „Manch-
mal pressierteseben“, sagt er.Des-
halb sollen Ad-hoc-Stellungnahmen,
dreißigseitigeAnalysen und Empfeh-
lungen der thematischjeweils zustän-
digen Leopoldina-Arbeitsgruppen
zum Standardverfahrenwerden.
Das hörtsichauchanwie eine
Machtprobe. Herausgefordertist die
BerlinerRepublik,oder vielmehr all
die, die als Lobbyisten hinter derPoli-
tik lauertund es mit den Fakten
manchmal nicht sogenau nehmen. In
Washington istdie Nationale Akade-
mie politischkaltgestellt, vielen ande-
renLänderakademiengeht es ähn-
lich, Haugglaubt, dieVernunftkönne
siegen.„Wir wollen international die
treibende Kraftsein“, das klingt ein
wenig wie die Europa-Euphorie der
Kanzlerin, auf deren Einlösung viele
bis heutewarten.
Haug nimmt trotzdemFahrtauf
Richtung Europa: Im Mai,kurz vor
der deutschenRatspräsidentschaftin
Brüssel, wirddie Akademie dieStel-
lungnahme „Energiewende 2030“vor-
legen.WieKlimapolitikgelingt, soll
da drinstehen, und zwar schnell. „Die
nächsten fünf Jahresind allesent-
scheidend, in fünfzehn Jahren jeden-
falls is tdas Zwei-Grad-Zielweg.“ So
klingt ein Präsident, der den Klima-
kapitän gibt. JOACHIM MÜLLER-JUNG


Wasmit Kunst stoffen, Me tallenund Zellen


geht, lässt sichnun auch fürGlas nutzen.Wie


die additi ve Fertigun gdie Verarbeitungdes


uraltenWerkstoffs revolutioniert.


VonManfred Lindinger


Manchmal


pressiert es


Die Nationalakademie


segelt hochamWind


Farbenreich,formvollendet
und aus einem Guss:
Dieser Kelchwurde mit
geschmolzenen Glasfäden
gedruckt.
FotoChikar aInamura, MIT Media Lab

Druc ken, Fräsen, Drehen und Sintern:
Linsen und Schrauben aus Quarzglas
(oben)und winzigeKanäle für das
Miniatur-Chemielabor Fotos F. Kotz, NeptunLab
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