Frankfurter Allgemeine Zeitung - 19.02.2020

(ff) #1

I


hr Fahrer hatKatharinaFegebank
weit hinausgebracht aus der Ham-
burgerInnenstadt, wegvon den ho-
hen Alt- und nochhöherenNeubau-
tenund entlang der Elbchaussee in die
Elbvororte, wo prächtigeHäuserauf sorg-
fältigeingezäunten Grundstückenste-
hen.Die Spitzenkandidatin der Grünen
istimRotaryClub Elbeeingeladen, ein
Abendessen mit Diskussion in einem no-
blen Restaurant:Aus denFenstern geht
der Blickauf die Elbe, hin und wieder
schiebt sichein Frachtervorbei. Die Ham-
burgerWirtschaftselitetrifftsich, man
kennt sich. Der Club istklein, aber wich-
tig: VorFegebankwarenschon dieKandi-
datenvonCDU und FDP da, und der Ers-
te Bürgermeister kommt noch.Fegebank
geht hinein, sagt „hallo“ und „Moin“ und
lacht .Sie wirdfreundlichbegrüßt.Erst
späterwirdes unangenehmer für sie.
Nach dem Hauptgang unter Kronleuch-
tern nimmtFegebank das Mikrofon in
die Hand undspricht frei. Sie istals Zwei-
te Bürgermeisterinschon öfterbei Rota-
ry Clubs aufgetreten,später wirdsie sa-
gen, dassdies bislang die herausfor-
derndste Runde war. Zwischen zwei gut
gefüllten Sälengeht sie hin und her,gut
hundertGäste sind gekommen.Fege-
banksprichtvoneinem„mutigenVerän-
derungsimpuls“, mit dem ihrePartei an-
trete ,von de rMobilitätswende, die es zu
schaf fengelte, vonall denneuen Woh-
nungen, die man bauen,obwohl man den
grünen Charakter Hamburgsbewahren
wolle. Sie spricht davon, einfachmal et-
wasauszuprobieren, auchwenn man
scheiternkönne.„Wir haben uns manch-
mal schonetwaseingerichtet und sagen:
Es läuftdoch.“ Dannkommen dieFra-
gen. Manchemit einer SpitzegegenFege-
bank oder ihre Partei. Bei den Antworten
werden hin und wieder Augenverdreht,
oder wirdUnmutgemurmelt.Esgeht um
Verbrennungsmotoren, autofreie Innen-
städteund Gefahren für Infrastrukturpro-
jekte.Esgeht um alles,wasAbwehrrefle-
xe gegendie Grünen auslösenkann –die
Partei, die entweder blockiereoder alles
überstürzt mache, je nachdem.Fegebank
beginnt in ihren Antwortenimmerwei-
terzukreisen. EinFrau fragt, wie sie das
gesellschaftliche Klimaverbessern, was
sie den „Klimaterroristen“ entgegenset-
zen wolle. FegebanksLächeln wirkt
nicht mehrganz so entspannt.
Wenn die HamburgeramSonntag ihre
Bürgerschaftwählen,stehtmit Kathari-
na Fegebank zum erstenMal eine Grü-
nen-Bürgermeisterkandidatin zurWahl.

Zumzweiten Malüberhauptwolltendie
Grünen in Deutschland eine Landesregie-
rung führen.Zeigen, dassman nachall
den guten Umfrag ewerten auch die
Machtgewinnenkann. So wirdeswohl
nicht kommen. Langesah es zwar nachei-
nem spannendenDuell mitPeterTschent-
scher vonder SPD aus.Nur in denvergan-
genen Wochen, nachdem sie lange im
grellenWahlkampflichtgestanden hat-
ten, haben die Grünen denAnschlussver-
loren: Sie dürften deutlichzulegen, aber
die SPD bleibtwohl inFührung.Wenn
sichinden vergangenenWochen dieFra-
ge gestellt hat, wieweit die Grünen in die
bürgerliche Mittevordringenkönnen in
der Hansestadt, scheint die Antwortzu
sein: nichtweit genug. Nureine gerade
hitzig diskutierte Cum-Ex-Affärekönnte
die SPD auf den letzten Metern nochein-
mal in Bedrängnis bringen–und die
Wahl vielleicht doch nochetwas spannen-
der machen.
Begonnen hattealles mit Begeisterung
bei den Grünen.Als er stePartei hatten
sie schon Ende 2018 die Spitzenkandida-
tenfrag efür die Bürgerschaftswahlge-
klärt: Hochschwangerstand Fegebank da-
mals auf einer Bühne,begeisterteden
Saal und wurde mit gut 90 Prozent der
Stimmengewählt.Wenigspäter bekam
sie ihreZwillingeund berichtetekurzdar-
auf den lokalen Medien über ihr neues
Lebensamt Foto mit Babys im Rathaus.
Der Wahlkampf nahmFahrtauf, die Aus-
gangslagefür die Grünen schien ideal.
Sie flogen inUmfragen immer höher,
und die SPD im Bund immer tiefer in die
Krise. Olaf Scholz, der die Grünen nach
der Wahl 2015,dahatten sie 12,3 Pro-
zent erhalten, nochals „Anbau“ an sei-
nen Senat bezeichnetund ähnlichbehan-
delt hatte,warschon in Berlin, und sein
Nachfolger PeterTschentscher musste
sichnocheinfinden. Als die Grünen
dann im Mai bei Bezirkswahlen hamburg-
weit die stärksteKraft wurden, schien al-
les möglichzusein. DieStadt dis kutierte
übe rden Stau, der alle nervt, überFahr-
radwegeund über den Klimaschutz. Es
sind zusammen mit demWohnungsbau
die Themender Wahl. BeimNeujahrs-
empfang der Grünen-Fraktion imFest-
saal desRathausesschäumtedie Stim-
mung dann auch über.Brechend voll war
der Saal,RobertHabeck, der Bundesvor-
sitzende, priesKatharinaFegebank.Die
strahlte undrief in den Saal,sie spiele
auf Sieg und nicht auf Platz. Jetzt dürfte
es tr otzdem nur Platzwerden,der zweite
immerhin.

Fegebank istseit 2015Wissenschafts-
senatorin, sie hat ihr Büroineinemtris-
tenHochhaus. „Die ganze Stadt im
Blick“ istder Wahlkampfspruchder SPD,
und schon der zieltgewissermaßen auf
die Grünen, legt er dochnahe: Die ande-
renhabenesnicht .Fegebank blickt aus
ihrem Bürojedenfalls auf eineLüftungs-
anlageund gesichtsloseHausriegel. Als
der Wahlkampf langsamFahrtaufnahm,
schienen die Grünen fastüberrascht zu
sein, dassihr Koalitionspartner so
schnell die Gangartwechselnkonnte –
und zustichel nbegann. „Unswarklar,
dassder Wahlkampfkein Spaziergang
werden würde“, sagt sie.Aber es seiet-
wasanderes,das dann zu erleben.Wenn
man all dieVorhaltungen höre, die alten
Klischeesüber die Grünen.Sie sagt:
„Das beschäftigt mich, damitringeich je-
den Tagein bisschen.“

F


egebank wirdindiesenTagen
Jahrealt, sie istimHamburger
Speckgürtelgeboren und aufge-
wachsen. Mit 31 Jahren wurde
sie 2008 die jüngste Landeschefin der
Grünen, daregierte die Partei mit der
CDU.Das endete im Desaster, aber Fege-
bank konntesichander Spitze derPartei
halten. Sie isteine offensiv freundliche
Frau, selbstPolitiker aus anderenPartei-
en loben ihre offene Art, dieFähigkeit, an-
dereeinzubeziehen. Sie hat auchschon
politischeUnebenheit überstanden. Als
die Grünen 2015 nicht übermäßigglück-
lichwaren mit den Ergebnissen derKoali-

tionsverhandlungen,konnte sie trotzdem
eine Zustimmung zumVertragdurchset-
zen. Auchals sierund um den G-20-Gip-
felins Schlingerngeriet, überstand sie es.
Stattdessen rückten die Grünen mit der
Aussicht auf den möglichenWahlerfolg
immer näher zusammen. DiePartei blieb
ruhig. DochespassiertenFehler:Inzwei
Bezirkengerie tsie tr otzneu gewonnener
Macht insStraucheln. Als dieVorlesung
des früheren AfD-Vorsitzenden Bernd
Luckeander Universität blockiertwur-
den, wurde ihreerste Reaktion nichtvon
allen als souveränwahrgenommen.Und
dannwabertendiese Fragen durch die
Stadt:Können die das mit dem Hafen, der
Wirtschaft, der inneren Sicherheit?Wie
viel Veränderung will dieStadt tatsäch-
lich?
FürFegebank istdas mühsam.Wie im
Rotary Club versucht siegegenzuhalten,
meist bleibt sie freundlich.Nurmanch-
mal wirkt sie wie bei einerKandidaten-
runde in derHandelskammeretwasange-
fasst, wenn es zum Beispiel mal wieder
um den Hafengeht.Die Grünen hatten
lange die Elbvertiefung bekämpft.Ini h-
remBürosagt sie:„Wir sindstolz auf un-
seren Hafen.Aber der musssich genau
wie unsere Wirtschaf tweiterentwickeln
und neu erfinden, um weiter wettbe-
werbsfähigzus ein.“Dawerde zu vielver-
schenkt, manruhe sich auf den Erfolgen
der Vergangenheitaus undverspieleso
„ein Stückweit die Zukunft der Stadt“.
„Undweil ic hdas so langeschon predige,
ärgere ichmichnatürlich,wenn da wie-

der die alteVorwurfskeule rausgeholt
wird, dassder Hafen mit unsverödet
oder wir diegroße Infrastrukturverhin-
dern. Das istnicht derFall.“
Dochlos wirddie Parteidas Thema
trotzdem nicht.Manchmal machen die
Grünen es ihren Gegneraber auchleicht,
die Keule zu schwingen. In ihremWahl-
programm istForderung nacheiner Ab-
schwächung desVermummungsverbots
auf Demonstrationen gelandet, schon
beim ersten Duell zwischenFegebank
und Tschentscher wurde es zum Thema.
WenigeTagespäter räumteFegebank das
Thema ab.„Wir können nur stärkste
Kraftwerden,wenn wir inhaltlichund
auchpersönlichinalle gesellschaftlichen
Lager hineinwirkenund anschlussfähig
sind“, sagtsie. „Wenn man sichnicht in-
tensiv mit demVermummungsverbotaus-
einandersetzt, löstessoemotionaleRe-
flexeaus,dassgleichdie Scheuklappen
runter gehen.“Also habeman gehandelt.
Natürlic hbirgt das Risiken. Nicht nur,
weil dieKonkurrenz einen Zickzackkurs
kritisierenkann.EsbleibtdieFrage,wie
hochdie Kosten sind,wenn Fegebank in
die Mittedrängt.Allenrecht machen
kann sie es nicht.Fegebankgehörtzu
den Realos in derPartei. VonWinfried
Kretschmann, dembislang einzigen Mi-
nisterpräsidenten der Grünen, habe sie
gelernt, „geerdetund mitgesundem Men-
schen verstandandie Sache zugehen“.
Nach pragmatischen Lösungen zu su-
chen und viele an Bordzuholen. „Und
natürlichnicht zuvergessen ,woman her-

kommt –aber gleichzeitig immer dieRea-
lität vorAugen zu haben. Nicht alles,was
vermeintlichgrün ist, mussdeshalb auch
so umgesetztwerden.“ Sie sagt:„Da darf
man nicht dogmatischsein.“ Ob das alle
Anhängerder Grünen so sehen wie sie,
istoffen. Jedenfalls gibt es Gruppen in
der Stadt, die sich mehrvonden Grünen
erhof fen. Fridays forFuturewirdkurz
vorder Wahl eingroße Demonstration
veranstalten. Mit dem Klimaplan, den
Rot-Grün nochschnell verabschiedetha-
ben, sindsie garnicht zufrieden. AlsFe-
gebankdas Konzeptihrer Partei für eine
autoarme Innenstadt bei einerDiskussi-
onsrundeverteidigte, bezeichnete sie die
weiter gehendeForderung einerVolksini-
tiative nacheiner autofreien Innenstadt
als „irre“. Das machte Schlagzeilen.Inei-
nerUmfragevon InfratestDimap sagen
86 Prozent der SPD-Anhänger, sie wür-
den bei einer DirektwahlTschentscher
ihreStimmegeben. Nur58Prozent der
Grünen-Anhänger sagten das überFege-
bank.

L


angsam zog die SPDinden Um-
fragen davon. Er steGrüne gifte-
tengegen denKoalitionspart-
ner,bezeichnetendie SPD als
„arrog ant“ .Fegebank hielt sich freund-
lichzurück. Vieles spricht dafür,dassdie
beiden auchnachder Wahl zusammenar-
beiten müssen. Erst jetzt ,kurzvor der
Wahl, bo tsichauch den Grünen die Mög-
lichkeit, die Sozialdemokraten frontal an-
zugreifen. Die Medienberichte, dassim
Zuge des Cum-Ex-Skandals Ende 2016 –
ScholzwarBürgermeiste rund Tschent-
scherFinanzsenator–die Stadt nicht nur
eine Steuerrückforderungvonetwa
Millionen Euroaneine Bankverjähren
ließ, sonderndie HamburgerSPD im
Jahr darauf Spendenvonmit der Bank
verbundenenUnte rnehmen erhalten ha-
ben soll, habenFragenaufgeworfen. Und
Aufregungprovoziert. A uchFegebank
hat energischAufklärung gefordert.
Tschentscher bestreitet, das seseine poli-
tische Einflussnahmegegeben habe. In
der SenatssitzungamDienstaggerieten
die beidenParteien bei dem Thema an-
einander,wirdberichtet.Zuletztstand
die SPD bei 37 Prozent.
VoreinigenTagen stand Fegebank mal
wieder mitten unter ihren Anhängerninei-

ner Konzerthalle und durftesich wohl-
fühlen.Eine Wahlkampfveranstaltung,
auf einer Leinwand zugeschaltetwar die
ParteivorsitzendeAnnalena Baerbock.
Das Chaos in Thüringen bewege sie sehr,
„ehrlichbesorgtuns Hamburg nichtganz
so“,sagtesie. Fege bank stand allein an ei-
nem kleinenTischund sagte, da sei siebe-
ruhigt.Eswurde geschmunzelt.Umfragen
sehen die Grünenbei etwa 25 Prozent.
Das wäre ein Erfolg. Auch wenn es sich
für diePartei nicht so anfühlendürfte.

Der Applaus, mit dem OsmanKavala am
DienstagmorgenimGerichtssaal des
Hochsicherheitsgefängnisses Silivri von
vielen Zuschauernempfangen wurde,
mag nocheiner trotzigenAufmunterung
des bekanntenKulturmäzensgedient ha-
ben. An einenFreispruchKavalas, des
Hauptangeklagten im sogenannten Gezi-
Prozess, haben viele zu diesemZeitpunkt
wohl kaum geglaubt –zuoft hatteder tür-
kischeStaat in denvergangenen Jahren de-
monstriert, wie wenig rechtsstaatliche
Standards imUmgang mit Oppositionel-
len für ihn zählen.
An diesemTagkam es jedochanders:
Am frühenNachmittagverkündete der
Richter,dassKavala vonallen Vorwürfen
freigesprochen sei–eslägen keine ausrei-
chendenBeweisefür denVorwurfvor,er
habe einen „Umsturzversuch“geplant .Im
Gerichtssaal, berichteten Prozessbeobach-
ter, sei daraufhinlauter Jubel ausgebro-
chen. Das Gericht ordnete die sofortige
Freilassung des 62 Jahrealten Mannes an,
der sichseit 28 Monaten in Haftbefand.
Zusammenmit Kavala wurden achtwei-
tere Angeklagtefreigesprochen.Zugleich
entschied das Gericht, dasVerfahrenge-
gendie restlichen sieben Angeklagtenab-
zutrennen–also gege njene, gege ndie in
Abwesenheitverhandelt wurde,weil sie
sichwie der in Deutschland lebende Jour-
nalistCan Dündar imAusland aufhalten.
Auch hat dieStaatsanwaltschaftdie Mög-
lichkeit, Berufung einzulegen. Dennoch
kanndie EntscheidungvomDienstagals
spektakuläreWendung in einem der aufse-
henerregendstenGerichtsverfahren der
vergangenen Jahregelten.
In dem Prozessging es um die Anschul-
digung, die 16 Angeklagten hätten die
Gezi-Proteste im Frühsommer 2013 orga-
nisiertund, teils mit ausländischer Hilfe,
finanziert, um in einer angeblichgewalt-
samenRebellion dieRegierung zustür-
zen. Die Angeklagten wiesen diese An-
schuldigungenstetsentschieden zurück;
Kavala bezeichnetsie in der Erklärung,
die er am DienstagimGerichtssaalvor-
trug, als„Verschwörungsfiktion“.

Die Gezi-Protestehattensichandem ge-
plantenBau eines Einkaufszentrums in
dem gleichnamigenPark im Zentrum Is-
tanbuls entzündet. Sie breiteten sich lan-
desweit aus undware nmit mehr als vier
Millionen Demonstranten dergrößtePro-
test gegendie Herrschaftdes heutigenPrä-
sidentenRecep Tayyip Erdogan. DieRegie-
rung schlug die Proteste schließlichgewalt-
sam nieder;dabei kamen 22 Menschen
um, mehrere tausend wurdenverletzt.
Danachvergingen Jahre, bis imStaats-
apparatErmittlungen aufgenommen wur-
den –anfangs offenbar vonPersonen, die
der damals mit Erdoganverbündeten, seit
dem Putschversuchvon 2016 aberverfem-
tenGülen-Bewegung angehören. Am 18.
Oktober 2017 wurdeKavala bei der Ein-
reise auf dem Flughafen Istanbul festge-
nommen und inUntersuchungshaftge-
steckt .Esdauerte fa st eineinhalb Jahre,
bis das HoheStrafgericht in Istanbul im
März2019 die 657 Seiten langeAnklage-
schrif tder Staatsanwaltschaftannahm,
der Prozessbegann drei Monatespäter.

Mit Kavala angeklagt wurden 15 Akade-
miker ,Schauspieler und Journalisten. Für
Kavala, Yigit Aksakoglu sowie Mücella
Yapici forderte der Staatsanwalt Anfang
Februar lebenslangeHaftstrafen, für
sechs weiter eAngeklagteHaftstrafen zwi-
schen 15 und 20 Jahren. Bis aufKavala
und den Sozialwissenschaftler Aksakoglu
befanden die Angeklagten sichwährend
des Prozesses auf freiemFuß oder waren
ins Auslandgeflohen.Kavala und Aksak-
oglu dagegenwarenimHochsicherheits-
gefängnis Silivrisiebzig Kilometerwest-
lichvon Is tanbul inhaftiert, das für Mas-
senprozessegebaut worden war. Dortfan-
den in einemtausend Quadratmetergro-
ßen Saal die Gerichtsverhandlungen
statt. Dazu wurdeKavala aus seiner zehn
Quadratmetergroßen Zelle, in der er seit
dem 1.November 2017 in Einzelhaftein-
gesperrt war, über einen unterirdischen
Zugang in den Saalgebracht und später
wieder abgeführt.
Die Anklagebestand aus einem Sam-
melsuriumvermeintlicher Beweise. Dar-

in fanden sichabgehörte Gespräche, auch
mit einem deutschen Diplomaten, sowie
Bankauszüge, Handyfotos, Flugdaten und
Mitteilungen aufFacebook.Sosollteeine
auf Kavalas MobiltelefongefundeneKar-
te über dieVerbreitungvonBienenarten
im Nahen Ostenbelegen, dasserdie Gren-
zen derTürkei habe verändernwollen.
Kavala warf der Staatsanwaltschaft
vor, sie habe ihn nicht einmal befragt.
Zweifel an den Behauptungen der Anklä-
gerwarfenauchdie vorGerichtvernom-
menenZeugen auf. EinPolizist, den die
Anklageaufgerufen hatte, sagte, er sehe
Kavala im Gerichtssaal zum ersten Mal.
Zuletzt hattedas Gericht im Dezember
unterAusschlussder Öf fentlichkeit einen
angeblichen Kronzeugen vernommen,
der anonym blieb. Als sichder Richter da-
gegenaussprach, denZeugen im Gerichts-
saal auftreten zu lassen,verließ dieVertei-
digung aus Protestden Saal. Der Prozess
wurde dennochfortgesetzt.
Der Europäische Gerichtshof für Men-
schenrechteurteilteam10. Dezember
2019, dassdie Türkei den willkürlichinhaf-
tiertenKavala umgehend freizulassen
habe,daesinder Anklageschriftkeine Be-
legefür diegegenihn erhobenenVorwürfe
gebe.Offenbarsollten mit demProzess, so
die StraßburgerRichter ,Kavala undande-
re türkische Menschenrechtler zumSchwei-
gengebrachtwerden. Selbstder t ürkis che
JustizministerAbdülhamitGül er wartete
offenbar,dassKavaladaraufhin freigelas-
sen würde. Schließlich sei dieTürkeijaver-
pflichtet,die Urteiledes Menschenrechts-
gerichtshof sumzusetzen, sagteer.
Dies geschah aber nicht.Die Richter
ignorierten das Urteil un dverlängertenim
Gegenteil am 26.Dezemberdie da schon
mehr als zwei JahreandauerndeUntersu-
chungshaftKavalas.Bei den ersten drei
Verhandlungen hatte esje weilseinenande-
renRichtergege ben. Einerwarersetzt wor-
den, weil er für eineFreilassungKavalas
plädierthatte. Es istkein Geheimnis, dass
sichinder politisiertenJustiz derTürkei
Richter undStaatsanwältefreiwillig auf un-
bedeutendePosten versetzenlassen ,um

sichdem Druckzuentziehen, ein politi-
schesUrteil fordernund sprechen zu müs-
sen.
WasKavala und den übrigen Angeklag-
tenindieser Zeit Hoffnunggegeben ha-
ben mag,warder Umstand, dasssie be-
trächtlicheUnterstützung aus der Zivilge-
sellschaftund aus demAusland erhiel-
ten. Amnesty International erklärte,die
Anklageschriftenthaltenicht den ge-
ringste nBeweis für die Behauptung, dass
die 16 Angeklagten inkriminelle Aktivi-
täte nverstricktgewesen seien,geschwei-
ge denn in eineVerschwörung mit dem
Ziel,die Regierung zustürzen. Die An-
schuldigungen entbehrtenjeglicher
Grundlage. Die Menschenrechtsbeauf-
tragt eder Bundesregierung, BärbelKof-
ler,sagte, der Prozess sei „überdie Tür-
keihinaus zum Symbol für dasVorgehen
gegeneine unabhängigeZivilgesellschaft
geworden“.
OsmanKavala gilt seit Jahren als einer
der wichtigsten Vertreterund Förderer die-
ser Zivilgesellschaft. SeineFamilie war
mit Tabakhandel, Bergwerkenund Immo-
bilienreichgeworden. Als seinVater
starb,übernahm OsmanKavala die Unter-
nehmen. ZwanzigJahrespäter zog er sich
aus dem operativen Geschäftzurückund
gründetedie Stiftung AnadoluKültür.Sie
unterstützt seither in derTürkei eine brei-
te Pa lett evon Kulturprojekten,etwa im
kurdischen Südosten. Siefinanziertein ar-
menisch-türkisches Jugendorchester, orga-
nisier tAusstellungen, Film-und Literatur-
veranstaltungenund fördertKunstprojek-
te für Flüchtlingskinder aus Syrien.
Seit derVerhaftung des Philanthropen
Kavala führte Asena Günal die Geschäfte
der Stiftung. Sie besuchte ihnregelmäßig
im Gefängnis und besprachmit ihm die
Projektarbeit, derzeitetwa den Bauvon
Spielplätzen in Istanbul. Die Projektar-
beit fand jedoch unter erschwertenBedin-
gungenstatt, seit eine Bank ausFurcht
vorstaatlichenRepressionen ihreZusam-
menarbeit mit derStiftung aufgekündigt
hatte, nachdem sie in der Anklageschrift
genanntworden war.

Am 17. Dezember 2019 überreichten
die BotschafterDeutschlands undFrank-
reichs in Ankaraden seit 2016 jedes Jahr
vergebenen deutsch-französischen Preis
für Menschenrechteund Rechtsstaatlich-
keit an Asena Günal. Damit sei die türki-
sche Zivilgesellschaftals ganze ausge-
zeichnetworden, sagten die beiden. In
der Türkeisind seit dem Putschversuch
vom15. Juli 2016 mehr als 1300 Nichtre-
gierungsorganisationengeschlossen und
mehr als 180 Medienverbotenworden.
Etwa130 000Personen wurden aus dem
öffentlichen Dienstentlassen.
Die Stiftung AnadoluKültür tueweiter
das, wassie am bestenkönne,sagteGünal
bei derVerleihungdes Preises.Sie unter-
stütze lokale Initiativen,förderekulturelle
Vielfalt ,stärke eine interregionale Zusam-
menarbeit und baue Brücken, die unter-
schiedliche Gruppenverbänden. Dasgröß-
te Problem für AnadoluKültür ist, dassdie
Personen, mit denen dieStiftun gzusam-
menarbeitet,überwiegend in Opposition
zur Regierung Erdogansstehen.Nach der
InhaftierungKavalas wurden vier Mitglie-
der desVorstands bei einer morgendli-
chen Razziafestgenommen, Günal wurde
mit einer Ausreisesperre belegt.
Ob dieStiftung nun wiedernormal ar-
beitenkann, bleibt abzuwarten–ebenso,
ob dasUrteil vomDienstag Gutes fürwei-
tere Angeklagteverheißt.Andiesem Mitt-
woch werden in Istanbul dieUrteile in ei-
nem weiteren umstrittenenVerfahren er-
wartet.ImNovember 2019 hatte der
Staatsanwalt für sechs Menschenrechtler,
unter ihnenTaner Kilicund Idil Eservon
AmnestyInternationalTürkei, wegenTer-
rorismusvorwürfenjeweils bis zu 15 Jahre
Haftgefordert. Fürden deutschen Men-
schenrechtsaktivistenPeter Steudtner und
vierweiter eAngeklagtebeantragteerFrei-
sprüche. Amnesty International nenntdas
Verfahren „eindeutig politisch motiviert“.
Obwohl diekonstruiertenVorwürfe wider-
legt worden seien, hättendie Angeklagten
monatelang im Gefängnisgesessen und
würden in einem absurdenVerfahrenwei-
Unerwartet:Yapici freut sichamDienstaginSilivriüber ihrenFreispruch. FotoAFP terstrafrechtlichverfolgt.

Bildungswelten:
Die bayerischen Grundschullehrer
sehen die Schulwirklichkeit nicht
so rosig wie dasKultusministerium,
das ihnen Mehrarbeit abverlangt.

Nicht alles im


grünen Bereich


GrünerFrohsinn:Kath arina Fegebank und dieFraktionsvorsitzende im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt FotoDaniel Pilar

Als aus trotzigem Applaus erleichterterJubel wurde


Ein Is tanbuler Gericht spricht überraschend die meistenAngeklagten im Gezi-Prozessfrei/VonRainerHermann,Istanbul,undChristianMeier


Morgen


Katharina Fegebank möchteErste Bürgermeisterin


Hamburgswerden. Warumdas schwierigwerden


dürfte.VonMatthias Wyssuwa, Hamburg


FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Politik MITTWOCH, 19.FEBRUAR2020·NR.42·SEITE 3

Free download pdf