Frankfurter Allgemeine Zeitung - 19.02.2020

(ff) #1

H


emdsärmeligkeitkann man
nicht vorwerfen. Aufdie
Frage, waszur Aufnahme
an dieStaatliche Ballettschule Berlin
und zurAusbildungzum Bühnentän-
zer qualifiziere, antwortete der sus-
pendierte LeiterRalf Stabel einmal
der „Berliner Morgenpost“, man dür-
fe kein Kind sein, das schon beim
Aufsagen einesWeihnachtsgedichtes
anfangezuweinen. Daskann man
hemdsärmelig finden.Esist aber
nicht nursehr schli cht. Es stimmtein-
fach nicht .Soviele Menschen, die als
Kinder schüchternsind, werden groß-
artig eBühnenkünstler.Soviele Men-
schen blühen auf,wenn man ihnen
das Passende abverlangt,etwas, das
Neigung undTalent nahelegen. Es
kann dannruhig das Schwerstesein
–eine körperlic hfordernde Berufs-
ausbildung, die im Kindesalter begon-
nen wirdund mitsiebzehn, achtzehn
Jahren nachneunjähriger Schulung
ins Arbeitsleben entlässt.AmMon-
tagabendwurdebekannt,dassder
Leiter derStaatlichen Ballettschule
Berlin,Ralf Stabel,vom Dienstan
diesem Institut suspendiertist, wie
auchder Künstlerische Leiter des In-
stituts, Gregor Seyffert.Ende letzten
Jahres anonymeingereichteBe-
schwerden werden derzeit unter-
sucht .Esbesteht Verdacht auf Kin-
deswohlgefährdung, dieRede is tvon
Überlastung der Kinder,von zuviel
Druc k, der ausgeübt würde,von
Angst, die herrsche. Gerade erst war
eine Kommission zurUntersuchung
derVorwürfe eingesetzt worden. Un-
glücklicherweise hattedas Land Ber-
lin, also die Senatorin für Bildung, Ju-
gend undFamilie, SandraScheeres,
SPD, die Vorgängerin Stabels als
Schulleiterin in dieKommission be-
rufen. Keine guteIdee. Entstanden
istsie of fenbar aus dem Gefühl her-
aus, eine Ballettschulesei etwasBe-
sonderesundman brauche jeman-
den in derKommission, der dieseBe-
sonderheitenverstehe. DieStaatli-
cheBallettschule Berlin istdoch
nicht das einzigeInstitutdieser Art
auf Erden. Einen Expertenvon au-
ßen zufindenwäre ganz einfachge-
wesen. Nun gibt es eine neueKom-
mission. Die Schulleitung wurde ab-
gesetzt,weil Teile der Elternschaft,
der Schülerschaftund des Lehrerkol-
legiumsVorwürfe direktgegenSeyf-
fert und Stabel erheben. Das Beispiel
anderer Schulen zeigt, dassinder Tat
die Direktion in der Pflichtsteht,
wenn es um den Geist, der an einer
Schule herrscht, geht, um ihrenUn-
terrichts stil un ddie Umgangsformen
aller miteinander. Vondem däni-
schen Familientherapeuten Jesper
Juul stammt dieFormulierung, damit
ein Menschsichentwickele, benötige
es einenSog, keinen Druck. Seyf fert,
Choreograph einesTanzspektakels
über den „Marquis de Sade“, undSta-
bel, Biograph der unter zwei Diktatu-
renerfolgreichenAusdruckstänzerin
Palucca,stehen offenbar nicht für die-
sen Paradigmenwechsel. Tänzer,so
Stabelanerkennend in der „Mopo“,
liefer tenimmer „beste Qualität“,
egal, ob „die Hüfte zieht oder die
Oma gerade einenVerkehrsunfall
hatte“. Das istschlimmer als hemds-
ärmelig, es isteinegrote skeVerzer-
rung und Banalisierung. So darfman
über Tanz, überTänzer,nicht reden,
schongarnicht als ihrAusbilder.

Falsche Härte


VonWiebkeHüster

E


rwollteBahnhöfeversetzen und
Bäume pflanzen. Die„Garede
l’Est“sollt eindie Banlieueverlegt
werden und einem drittenStadtwald, fast
so groß wie der Bois deBoulogne,wei-
chen. BeimKaufeiner Wohnungver-
sprach er 10 0000 Euround an denUfern
derSeine blühendeStrände:„Gras anstelle
vonBeton“.AmFreitag warf Benjamin
Griveaux,Kandida tvon Macrons „Républi-
queenMarche“ für das Amtdes B ürger-
meistersvonParis, das Handtuch.ZumVer-
hängniswurdeihmein selbstgedrehtes Sex-
video,vondem erglaubte,eswerde auto-
matischgelöscht.Der russische Agitations-
künstle rund politischeFlüchtling Pjotr
Pawlenski jhatte es in sInternetgestellt.
Lang eZeit erschien die Eroberung des
PariserRathauses für MacronsPartei als
Sonntagsspaziergang. Parislag Macron
zu Füßen. Mit neunzig Prozentder Stim-
men warerhier ins Élysée gewählt wor-
den.Und auch anlässlichder Wahl des
Europaparlaments, bei der seine „Repu-
blik“ landesweit vonMarine Le Pens
„RassemblementNational“ überholt wur-
de, gabesfür seine Liste „Renaissance“
in der Hauptstadt immer noch33Pro-
zent. Kein Mensch hätt edamals einen
Euroauf dieWiederwahl de rsozialisti-
schen BürgermeisterinAnne Hidalgo
oder dieRepubli kaner gesetzt :beidePar-
teien blieben unter zehn Prozent. Das
hat sich inzwischen umgedreht.
Bis 1977 wurdeParisvom Staat regiert,
dannkamJacques Chirac als erster Bür-
germeisterins Amt.Gewählt werden die
Gemeinderäteund „Maires“ der zwanzig
Arrondissements, die dann das Ober-
haup tder Hauptstadt bes timm en. FürChi-
rac wardas Rathaus mit seiner Machtfülle
das Zentrum und wichtigeEtappe auf
dem Wegins Él ysée. Mit den prestigeträch-
tigen PfründenglaubteMacron, Benjamin
Griveaux belohnen zukönnen. Griveaux
gehörtzuden Begründernder Be wegung
„En Marche“. Erwarein Überläufer und
seine Karrierenachdem Fall seines frühe-
renMentor sDominique Strauss-Kahn,
der wegender Vergew altigung eines
schwarzen Zimmermädchens inNewYork

nicht Staatspräsidentwerden konnte, vor-
übergehend insStockengeraten. Macron
machte ihn zu seinemRegierungsspre-
cher,der die „Gelbwesten“ als „Kettenrau-
cher und Dieselfahrer“verhöhnte.
DassseineKampagne für dasRathaus
nierichtig in Gangkam, hat nicht nur
mit seinem arroganten Auftreten undsei-
nernotorischenUnbeliebtheitzu tun: Er
hatt eesmit einem Rivalen aus dereige-
nenParte izutun. Cédric Villani,Kultfi-
gur vonMacrons „Republik“,hat die eige-
ne Niederlage in de rwenig transparen-
tenVorwahl ni eakzeptiert. Denexzentri-
sche nAbgeordneten und Träger der
Fields-Medaille, die demNobelpreis ent-
spricht, denesfür Mathematikernicht
gibt, ließMacronwochenlanggewähren,
erstEndeJanuar zitierteeri hn ins Ély-
sée–dochder regelmäßigals Autistpor-
trätie rteKandidatbliebstur.
„In Parishabe ichzumir selbstgefun-
den“, schreibtVillanijetzt in seinem Buch
zur Wahl: „Paris hat den Introvertier ten,
der ic hwar,ineinenExtrovertier tenver-
wandelt.“Griveaux hielt mit Sacha Guitry
entgegen: „Ichbin nicht inParisgeboren –
aberwiedergeboren.“Di eKandidaten pfei-
fenauf ih re ideologische Herkunft, lieber
bekämpfen sie sichmit lyrischen Liebeser-
klärungenandieStadt undutopischenPro-
grammen zurRettung derWelt.Villani
will die Züge, dieaus Brüssel, London
oder Frankfurtinder GareduNordankom-
men, schonin der Banlieuestoppen. Dass
die Fahrpläneund Bahnverbindungenkei-
neswegsinden Zuständigkeitsbereichder
Stadt Parisgehören, spielt für ihnkeine
Rolle. Ein andererKandidat–nicht der
Grünen–versprichtgleichdie Schließung

des „Boulevard périphérique“, derachtspu-
rigenAutobahnrund umParis.
Seit dem Brexit, derParisTausende neu-
er Arbeitsplätze beschert,strotzt dieStadt
vorSelbstvertrauen: „Ichwill einegrüne
Finanzpolitik,Leute, die uns beim ökologi-
schenUmbau helfen und sichnicht wie
Raubtiere verhalten“, begrüßt Anne Hidal-
go die Banker aus London. ImFalle ihrer
Wiederwahl wirdsie 60 000von130 000
Parkplätzen in derStadt streichen.Über al-
len U-Bahn-Linien sollen Radfahr wege
und Fußgängerzonen entstehen, eine„Vé-
lopolitain“ will Hidalgo errichten und spä-
tes tens zur Eröffnung der Olympischen
SpieleKopenhagen und Amsterdam als
„Hauptstadt des Fahrrads“ überholen.
Wenn es nachihr geht, wirdRadfahren ob-
ligatorisches Schulfach.
Ín „König Ubu“, einem Klassiker der
Surrealistenund Dadaisten, hattedessen
AutorAlfred Jarry einstempfohlen, zur
Lösung ihrer Probleme die Städteaufs
Land zuverlegen. Nichts schien dem ab-
surden Theater des irrenPariserWahl-
kampfs ohne ideologischesKoordinaten-
system ein Ende bereiten zukönnen. Bis
sichplötzlichinmitten des Chaos die uner-
warteteRückkehr der altenWelt abzeich-
nete,die Macron eigentlich überwinden
wollte. Die Meinungsumfragen prophezei-
tenein anachronistisches Duell zweier
Frauen: mit der Sozialistin Hidalgo alsFa-
voritin gegendie RepublikanerinRachida
Dati. Wird aber Paris, das Macron zuFü-
ßen lag, wieder linksoder rechts, istdas
Ende seiner „Republik“ nah.
AusAngstvor einer landesweiten Nie-
derlagewurden die Präfektevom Innen-
ministerbereits angewiesen, dieResultate

in Kommunen mitweniger als neuntau-
send Einwohnernohne politische Zuord-
nung zuveröffentlichen. Angesichts der
drohenden Pariser Schlappe wurde zudem
in der Provinz ein spektakulärerNeben-
schauplatz eröffnet: In Le Havretritt Pre-
mierministerEdouardPhilippe zum
Heim- und Scheinwahlkampf an. Denn
wenn er siegt,womit gerechnetwird, kann
er als Premier das Amt nicht antreten. Im
Falle einer Niederlageaber is terals von
den WählerndesavouierterRegierungs-
chef untragbar und musszurücktreten.
Noch sind solcheMachenschaften derRe-
gierenden für die Demokratie schädlicher
als die Angriffeauf ihr ePrivatsphäre.
Drahtzieher des Skandals um Benjamin
Griveaux istder linksextreme Anwalt
Juan Branco. (F.A.Z.vom18. Februar).
Branco hat nicht nur ein obszönesPam-
phletgeht Macrongeschrieben, das in ei-
nerAuflag evon mehr als200 00 0Stücker-
schienen ist.Dieser Tage veröffentlicht
derAnwalteine fünfhundertSeiten umfas-
sende BiographievonJulian Assange, den
er juristischvertr eten hat.Das Bucher-
scheint bei Editions du Cerf, demrenom-
miertenVerlag der Jesuiten. Auchzahlrei-
che„Gelbwesten“ hat BrancovorGericht
verteidigt .Und erwarder Or ganisator je-
ner Silvesterfeier in einerPariser Woh-
nung über dem „CafédeFlore“, bei der
Pawlenskijmit einem Messer zustachund
eine Champagnerflasche auf denKopf ab-
bekam. Zusammen mit seinerPartnerin
AlexandradeTaddeowarPawlenskijvor
dem Eintreffender Polizei entkommen.
An ebendiese Alexandra deTaddeo wa-
rennun auchdie Griveaux-Videosge-
schicktworden. Sie arbeitet als Journalis-

tinfür eineRundfunksendung mit Schwer-
punktRussland. „Möglicherweise arbeitet
sie für einen Auftraggeber“ ,spekuliert
nun dieRussland-Expertin Galia Acker-
man. Sie hat ein Buchvon Pawlenskijüber-
setzt undvermutet, dasserals „nützlicher
Idiot“ manipuliertwurde. DasVorgehen
entsprechekeineswegs seinen bisherigen
Aktionen.Ackerman fühlt sichvielmehr
an „sowjetische Methoden“ erinnert. An
der Sicherheitskonferenz in München hat
auchMacron am Samstag wiederholt auf
die Einmischungen Putinsverwiesen. Sein
Sender „RT“warSprachrohr der französi-
schen „Gelbwesten“.
Die öffentliche Empörung inFrank-
reichgilt dieserTage Juan Branco.Auch
bei der Mehrzahl der Links- undRechtsex-
tremisten, die Macron hassen, herrscht
die Ansichtvor, dassdie Privatsphäreder
Politiker zu schützen sei. DerFanatiker
Branco droht derweil mit weiterenVideos
vonGriveaux. Seine Familie wolle er
schützen, begründete derPolitiker seinen
Rücktritt .Kein Politiker,kein Medium,
kein Menschhattedas vonihm gefordert.
Während seiner Erklärung wirkteererst-
mals menschlich,verletzlich,getrof fen–
fast schon sympathisch. Als Opfer einer
Erpressung undTwitter-Märtyrer hätteer
jetzt wohl er stmals Aussichte nauf einen
Einzug insPariser Rathaus.
„Crépuscule“,Abenddämmerung,so
laut et derTitel vonBrancosPamphletge-
genMacron. Dochinder Hauptstadt zeich-
netsichlängsteine neue,unerwartete
Wendung ab. Macron schickt seineGe-
sundheitsministerinAgnèsBuzyn in die
Arena.VonGriveaux’ Programm hat sie
sich bereits distanzier tund eineVersöh-
nungmit Villani istbereit sabsehbar.Nicht
der charismatischeAutistund Mathemati-
kerscheint nunmehrdie Fehlbesetzung
auf dem Pariser Boulevardgewesen zu
sein, sondernder tragischeHeld Griveaux.
DasStückgehtjetzt so: DieGesundheits-
mini sterin heiltdieKandidatenallerPartei-
envonihrenirrenWahlversprechen. Putins
verrückter politischer Flüchtlingbringt Vil-
lani,Macrons erstenDissidenten, an die
Macht inParisund rettetdamit dieRepu-
blik vonKönig Emmanuel dem Ersten.

D


er Todist mir verhältnismäßig
gleichgültig,ich glaub enicht an
den Tod, jedenfalls nicht an ei-
nen mich betreffenden Tod.
UnddenLesernist esvermutlichgleichgül-
tig,was ic hglaube .Eshat als okeinen
Sinn, sichüber denTod Gedanken zu ma-
chen.“ Sostehtesunter demLemma„Tod“
in RorWolfs„RaoulTranchirersNotizen
aus dem zerschnetzelte nLeben“, dem sieb-
tenund letzten Band seiner einzigartigen
„Enzyklopädiefür unerschrockene Leser“.
Am 17.Februar istRor Wolf gestorben.
Über denToddieses großenKünstlers
und Freundes mache ichmir weniger Ge-
danken, als dassermichinmeinen Grund-
festen trifft.Dochist diesemTodein Werk
vonüberragender Schönheit, Grandezza
und ästhetischerRaffinesse entgegenzu-
halten, das inRomanen, Gedichten, Hör-
spielen, Prosatextenvon aphoristischerPa-
radoxie und Bild-Collagen Seh-und Lese-
stoffbis ans Endedes eigenen Lebens be-
reithält.Ror Wolfs Gesamtwerkerscheint
im Verlag Schöffling &Co.
Mit VeröffentlichungenvonCollagenin
derFrankfurterStudentenzeitschrift„Dis-
kus“ fing es für den 1932 im thüringischen
SaalfeldgeborenenWolf 1958 an. Bis zu
seinemTodhat er Collagengebastelt,die
ihmaber als alleiniges Medium derWelter-
kundung bald schon nicht mehrgenügten,
denn mit einem Mal holteergroßaus und
schenkte uns in neobarock-idealistischer
Titulier-und enzyklopädischer Aufklä-
rungsmanier die Sammlung „DemWah-
renSchönenGuten allerleiNuetzliches
fuer all- und sonntags mit kleinenWinken
die große Kosten ersparensowie Erbauli-
ches fuerfestlich eStunden unserer hoch-
verehrtenLeserschaftausgewaehltund zu-
sammengestellt vonRaul Tranchirer“. Da
warerzum ersten Mal,der Collagen-Pro-
saistund Prosa-Collagist,wenn auchnoch
ohne „o“ nach dem „a“:Raoul Tranchirer,
RorWolfs unermüdlichaus derWelt be-
richtendes Alter Ego,das unsvon da an
mit allerlei nützlichen undrettenden Bild-
und Textmaßnahmenversorgte.
In Anbetracht des mit derNagelschere
feinsäuberlich und die Schnittkantenver-
bergend au sgroßenmedizinischen, geolo-
gischen odertechnischen Enzyklopädien
des18., 19.und20.JahrhundertsHerausge-
schnittenen undvonRor Wolf aliasRaoul
Tranchirer zu Collagen neuAngeo rdneten
wirddie FragenachTeil und Ganzem auf
besondere Weise vi rulent. Der besondere
Reiz besteht ja darin,dassdie Bild- und
Text-Collagen als Ganzes funktionieren,
obwohl sie physikalischunwahrscheinlich
sind. Funktionierensollauchheißen, sie
wirkenattraktiv oder schönauf uns, auch
wenn si eabstoßend seinkönnen .Zusehen
sindbloßgestellte Körper und ihreinneren
Organe, die auchschon mal alleininder

Welt unterwegs sind, wie dasHerzinvulka-
nöser Landschaft, undein Gewichtheber
wirdesbald zustemmen haben, oder der
Mundmit Zunge, Lippenund Zähnen, den
es in eineWelt vielgestaltiger Korallen ver-
setz that, oder die botanischeVulvaimbe-
ziehungsweise als Gesicht einerfedertier-
geschmücktenFrauenfigur.Das Wolf’sche
Tier-und Menschenleben istein solches
der Hybride,der Mischwesen.
„Wirkli chkeitsfabrik“ heißt das ästheti-
sche Schlüsselwort dieser Artder Bild-
undText- alsWeltproduktion.Wirkli ch-
keit wir dhiermit den Mitteln der Collage
in Text un dBildhergestellt.Die „Wirkli ch-
keitsfabrik“ hält derWelt ihr eeigenen Bil-
dervor.IneinerFabrik sollteesgeordnet
zugehen,und das tut esind er „Enzyklopä-
diefür unerschrockene Leser“auch, die
vonden antiken und bürgerliche nEnzyklo-
pädien dieWissensordnung undvonder Li-
teraturdes 18. Jahrhundertsund der bil-
dendenKunstinAnalogie zurbürgerli-

chen Pädagogik und Ästhetik des Guckkas-
tens und desFensterblic ks die Rahmung
des Ausschnitthaftenmit ih renMaßgaben
des begrenztenUmfangs, derÜbersi cht-
lichkeitund de rgeschlossenenForm über-
nommen hat. Diestabile Instabilität, die
aus demWechselspielder Stabilität histo-
rischetablier terFormgebungenund medi-
al präfigurierterWahrnehmungensowie
der Instabilität physikalisch, geologisch
oderbiologischunmöglicherWirklichkeits-
gefügeresultiert,macht das Vertraute un-
heimlich und dasUnheimli chevertraut.
Ordnung istein instabilerZustand, den
Unordnung stetsbedroht.Ununterbro-
chen verweisen diese Zustände aufeinan-
der,jeder alsAbweichungvomanderen.
Undsonimmt es nicht wunder,dassRor
Wolf sic hfür Bücher undFilme mitVampi-
renund Zombies genauso interessierte
wie fürWesternund Krimissowie ver-
schiedeneandereGenres, deren zumTeil
gutbürgerliche Welt plötzlichineine an-
sprechende Schieflagegerät.
Das große Thema desWolf’schenKos-
mos istdas Zerfallen derWelt mitsamt der
in ihr befindlichenKörper und ihreschein-
bar übergangsloseNeubegründung. In sei-
ner Kunsthat RorWolf denTodüberwun-
den, erkann seinenFiguren nichts anha-

ben, die plötzlichverschwinden und an an-
deren Ortenwieder auftauchen.Waswäre
dieWelt ohneHansWaldmann,Doktor Pfei-
fer, Pilzer undPelzer,Herrn Q, Collunder,
Klomm, Krogge, Lemm, Masal, Mauch,
Moll, Nagelschmitz, Ramm, Scheizhofer
oder Wobser? Siewäre um ein apokalypti-
schesKuriositätenkabinett ärmer,das uns
überdie MedienWortundBild eineDistanz
zu den dargestellten Ereignissen ermög-
licht, die uns denAbgrund ertragen lässt in
der Annahme, uns aufgesicher temGelän-
dezu befinden.RorWolfsKunstschafftdie-
ses Distanzierungsmoment der „Selbst-Ent-
lastung“ (Hans Blumenberg)vonexisten-
tieller Angst, indem sie dasUnbegreifliche
und Enigmatische erzählbar macht, ihm ei-
nen Namen gibt.Solchermaßen liegtRor
WolfsLiteratureinmythopoetischesVerfah-
renzugrunde,dasFurc htundSchreckenper
distans in Genusswandelnkann.
Seine Erzählwelten machen dasKon-
tingente, denZufall, dasUnwahrscheinli-
che, aber auchdas völlig Belanglose zum
Fundament einer imaginären Seins- als
Lese-, Seh- und Hörerfahrung. Diegewal-
tigen Potentialeund diePotentiale der Ge-
walt vonRor WolfsKunstdes versetzten
Realismus lassen sehr traurig viel lachen.
Weil dieKunstRor Wolfsuns phänome-

nologischzurückwirft auf unsereeigene
Defizienz.Weil unser Lebenverrauscht,
ob wir träumen oderwach en. Weil wir
ständig in irgendwas hängenbleiben.Wir
sind nun mal in derWelt, undRorWolf
zeigt uns dieKonsequenzen. Dawäre es
nur konsequent,gleichmit dem Lesen
und NeulesenvonRor WolfsBücher nzu
beginnen–und zwar mit „Fortsetzung
des Berichts“, dem 1964 erschieneneners-
tenRoman desAutors,der eine im deut-
schen Sprachraumbis dahin nichtgekann-
te metaleptischverschlungene Erzähl-
kunstpräsentiert,voller gewaltiger Be-
schreibungen und Beschreibungenvon
Gewalt, einVaterbuchauch, dasRorWolf
bereits auf der Höhe seiner nicht nur für
die deutschsprachigeLiteratur so unab-
dingbaren Erzählkunstzeigt.
Warernicht selbstdieser HansWald-
mann aus dessenAbenteuer-Gedichten?
Dann lesen sichdie Schlusszeilen des Ge-
dichtes „gesang“ aus „HansWaldmanns
Abenteuer.Erste Folge“ hoffnungsschim-
mernd mit einem Malganz anders: „wald-
mann sagt:hier sieht man michnicht wie-
der./ und er singtwoandersseine lieder.“

Michael LentzistSchriftsteller und lehrtam
Deutschen Literaturinstitut Leipzig.

So geht versetzter Realismus:
RorWolf im Jahr 2003 beim
Anfertigen einer Collage
Foto BarbaraKlemm

Die BerlinerFilmfestspiele beauftra-
gendas Institut für Zeitgeschichte
(IfZ) in München mit derAufarbei-
tung ihrer Vergangenheit.Das Institut
solle eineexterneExpertise zurFesti-
valgeschichte „imKontextvon Alfred
BauersFunktion in der NS-Zeit“ er-
stellen, teiltedie Berlinale mit.Vor
drei Wochen warbekanntgeworden,
dassBauer,der Gründungsdirektor
und langjährigeLeiter desFestivals,
seine führendePosition in der natio-
nalsozialistischen Reichsfilminten-
danzvon 1942 an in derNachkriegs-
zeit weitgehend verschwiegen hat
(F.A.Z.vom31. Januar). Daraufhin
hatte die Festivalleitung dieVergabe
des 1986gestif teten Alfred-Bauer-
Preises ausgesetzt .Indiesem Jahr soll
stattdessen ein Preis zum siebzigjähri-
genJubiläum desFestivals verliehen
werden. Das IfZ wurde1949 zur Erfor-
schungder deutschen Geschichte im
Nationalsozialismusgegründet. kil

Die spinnen, die Gallier


Sexund Verrat,tragische Helden und späte Profiteure:Der Wahlkampfumdie


französischeHauptstadt istBoule vardtheater/VonJü rgAltweg g,Paris


Expertise


zur Berlinale


Der Direktor der Wirklichkeitsfabrik


ZumTod desAutors,


Enzyklopädistenund


Collagenkünstlers


RorWolf.


VonMichael Lentz


FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MITTWOCH,19. FEBRUAR2020·NR.42·SEITE 9

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