Ist Familie
der Inbegriff
von Heimat?
Seine Familie kann man sich
nicht aussuchen. Trotzdem
ist sie für viele die wichtigste
Konstante des Lebens
DIE BESTE FRAGE AM SCHLUSS
Text Jakob Wittmann Foto Zhou Dainan
B
ei Max Frisch heißt es: »Hei-
mat ist der Mensch, dessen
Wesen wir vernehmen und
erreichen.« Für den Schweizer
Schriftsteller war Heimat kein
Ort, sondern die Menschen,
die uns verstehen und die uns nah sind.
Ganz ähnlich denken heute auch die Deut-
schen, stellte 2019 die von der ZEIT, infas
und dem Wissenschaftszentrum Berlin für
So zial for schung durchgeführte Vermächt-
nis-Studie fest: Für ihr Heimatgefühl ist die
Beziehung zu Familie und Freunden wich-
tiger als Staats- und Kulturzugehörigkeit.
Nur 59 Prozent der Befragten denken vor-
rangig an Deutschland, knapp die Hälfte an
ihren kulturellen Hintergrund. Acht von
zehn knüpfen ihr Verständnis von Heimat
hingegen an Familie und Lebenspartner.
Ja, Familie scheint für viele der Inbe-
griff von Heimat zu sein – auch wenn das
Verständnis von Familie durchaus unter-
schiedlich sein kann. Egal, ob klassische
Kernfamilie, Patchwork oder alleinerzie-
hend, »die zentrale Voraussetzung scheint
eine dauerhafte, enge Beziehung zwischen
mindestens zwei Generationen zu sein«,
erklärt Martin Bujard vom Bundesinstitut
für Bevölkerungsforschung.
Die Verbindung zwischen den Genera-
tionen, auch das ist Heimat. Kaum ver-
wunderlich, denn in der Familie werden wir
sozialisiert, sie beeinflusst schon früh unsere
grundlegenden Wertvorstellungen. Fa mi-
lien ritua le, -marotten und -traditionen
begleiten uns oft ein Leben lang, ob be-
wusst oder unbewusst. In der Familie ent-
scheidet sich, welche Bildungschancen wir
haben, welcher Religion wir angehören und
welche kulturelle Prägung wir erfahren. Das
gemeinsame Schicksal schweißt zusammen.
Besonders bei Biografien mit Mi gra tions-
und Fluchtgeschichte: »In einer neuen
Heimat bietet die Familie Halt und Orien-
tie rung und ist deshalb als Bezugskonstante
enorm wichtig«, sagt Bujard. Weggezogene
fahren »in die Heimat«, wenn sie ihre Fami-
lien besuchen. »Heimat ist, wo ich mich
geborgen fühle«, diese Aussage erzielte in der
Vermächtnis-Studie die höchste Zustim-
mung. Deren Mitinitiatorin Jutta Allmen-
dinger warnt trotzdem: »Die Gesellschaft
zerbröckelt im Inneren.« Sie meint damit,
dass der Rückzug in die private Heimat, in
Familien- und Freundeskreise, den gesell-
schaftlichen Zusammenhalt schwäche.
Und nimmt die Politik in die Pflicht: gute
Bildung für alle, mehr Orte der Begegnung.
Die Studie zeigt: Viele Deutsche wünschen
sich mehr »Wir-Gefühl«.
Vielleicht auch, weil Familie allein
nicht immer eine Garantie für Glück ist.
Auch da gibt es Streit, Verletzungen, Unaus-
gesprochenes. Der Drehbuchautor und Re-
gisseur Alfred Hitch cock sagte einst: »Alle
schlechten Eigenschaften entwickeln sich in
der Familie.« Milder fällt da das Sprichwort
aus: »Unter jedem Dach ein Ach.«
Familie kann man sich eben nicht aus-
suchen, Heimat hingegen schon. »Der FC
Bayern ist meine Familie«, sagte einst der
französische Fußballspieler Franck Ribéry.
Und spielt heute für den AC Florenz. —
Im vorigen Heft fragten wir Sie,
liebe Leser und Leserinnen, welche
Frage Ihnen zu diesem Bild einfällt.
Hier beantworten wir nun die
Frage von Nadja Hoyer
Foto
(Ausschnitt) »City Camping« von Zhou Dainan, China, Shortlist, Open Competition, Street Photography, 2019 Sony World Photography Awards