Die Zeit Wissen - 01.2020 - 02.2020

(Barry) #1

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ch kann es nicht mehr hören, dieses
blöde Lied! »Ich wollt’, ich wär ein
Huhn. Ich hätt’ nicht viel zu tun.
Ich legte vormittags ein Ei, und
abends wär ich frei.« Was denken
sich die Comedian Harmonists da-
bei? Haben sie ein einziges Mal im Leben
ein Ei gebaut? Ich benötige dafür 25 Stun-
den. Und was dann dabei herauskommt,
ist nicht nur von der Form her perfekt,
sondern auch in der Zusammensetzung
seiner Inhaltsstoffe einfach genial. Mein
Eigelb enthält Folsäure, Kalzium, Phosphor
und Eisen, das Eiweiß noch dazu Natrium
und Kalium. So unverbesserlich ist das Ei in
seinem Design, dass es in der Werbung als
Vergleichsmaterial herangezogen wird. Als
Beispiel für eine vollkommene Form. Aber
trägt das zu unserer Wertschätzung bei?
Leider nein. Vielleicht liegt es daran, dass es
so viele von uns gibt. 20 Mil liar den auf der
ganzen Welt. Mehr als Menschen. Kein
Haustier ist ähnlich weit verbreitet.
Es ging uns so gut, als wir noch als
Mist krat zer auf jedem Bauernhof lebten.
Damals war ich, das Haushuhn, Gallus gallus
domesticus, frei! Den ganzen Tag hier ge-
pickt, dort gescharrt, Würmer, Engerlinge,
Kräuter einverleibt, dazu mein geradezu
philosophisches »tok tok tok«, einen Schluck
Wasser und ein Sandbad, um die Milben aus
dem Gefieder zu schütteln. Morgens, mit-
tags, abends krähte der Hahn, wie schon im
alten Rom und wie in der Bibel. Mit einem
Wort: Wir brauchten nicht viel, um es uns
gut gehen zu lassen. »Anspruchslos« nannte

man das. Und genau das ist uns zum Ver-
hängnis geworden. Kein anderes Tier musste
sich solche Gemeinheiten gefallen lassen wie
wir. Erst seit 2012 ist es verboten, uns in
enge Einzelkäfige zu sperren. Wie viele
Nächte haben die in Brüssel hin und her
beraten, bis mir in Hühnerfarmen mit
»Bodenhaltung« ein Minimum an Platz
zugestanden wurde: Pro Huhn 800 Qua-
dratzentimeter, das ist in etwa die Fläche
von anderthalb DIN-A4-Blättern.
Wenig genug. Und weil Hähne keine
Eier legen, werden sie in der Massentierhal-
tung sofort aussortiert. Genauer gesagt: als
Eintagsküken geschreddert oder vergast. Es
sei zu teuer, schon vor dem Schlüpfen fest-
zustellen, ob ein weibliches oder männliches
Tier heranwachse. Daher setzt man auf die
brutale Methode. Tok tok tok?
Königin Viktoria von England ver-
stand mehr von uns, sie züchtete Geflügel
und zeigte ihre Musterexemplare auf Leis-
tungsschauen. Ob sie allerdings täglich die
noch warmen Eier einsammelte, davon weiß
ich nichts. Heute nehmt ihr Menschen uns
hingegen für ganz schön selbstverständlich!
Das Frühstücksei exakt viereinhalb Minuten
gekocht, wachsweich. Von Chicken-Nuggets
und Maispoularde ganz zu schweigen.
Tok tok tok! Wenn jetzt in den Städten
nach der Imkerei auch die Hühnerhaltung
Mode wird, dann hoffe ich, dass sich herum-
spricht, was für großartige, nützliche, ge-
mütliche Tiere wir sind. Ein kleiner Stall,
etwas Körnerfutter und Platz zum Scharren
und zum Picken, das reicht mir schon. —

DIE WELT


AUS DE R


SICHT EINES


HAUSHUHNS


Immer dreht sich alles um
den Menschen. Höchste Zeit,
die Perspektive zu wechseln

Text Anna von Münchhausen Illustration Matthew C. Kramer
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