Die Zeit Wissen - 01.2020 - 02.2020

(Barry) #1

AM ANFANG DREI FRAGEN 



  1. Welche Waffen


haben Blumen?


Viele Pflanzen haben eine gut bestückte Rüstkammer,
selten verlassen sie sich auf eine einzige Abwehr strategie.
Doch ihr Erfolgsgeheimnis liegt woanders

den bedrohten Teilen. Die Pflanze muss abwägen: Gift
oder Samen, Verteidigung oder Wachstum?
Zur konstitutiven Abwehr – Waffen, die immer da
sind – gehören Schutzschichten wie Baumrinde, Wachs
auf Seerosenblättern, harte Nussschalen, borstige Wider-
haken beim Feigenkaktus oder rasiermesserscharfe
Zahnreihen auf Palmenblättern. »Pflanzen sind aber
auch Meister im Produzieren von Giftstoffen«, sagt van
Dam. Nicht nur Nikotin, Morphin und Koffein ver-
graulen Feinde, sogar Blausäure kommt zum Einsatz,
indem getrennt gelagerte Stoffe erst dann mit ein an der
reagieren, wenn Zellen verletzt werden. Die Mixturen
sind tückisch: Die toxischen Verbindungen von Weide,
Silber- und Weißpappel sind nicht tödlich, sondern
hemmen das Wachstum der Schädlinge. Ähnlich raffiniert
agieren Meeresalgen: Diatomeen produzieren Chemie,
die zwar nicht die angreifenden Krebse vergiftet, aber
dafür sorgt, dass sich deren Nachwuchs nicht optimal
entwickelt. Die Kommunikationskünstler unter den
Pflanzen locken Hilfsarmeen an: Akazien produzieren
Nektare, mit denen sie Ameisen versorgen, die gegen
Kost und Logis den Gegner bekämpfen. Um die Wirts-
pflanze legen Ameisen sogenannte Teufelsgärten an, in
denen sie alle anderen Pflanzen vernichten. »Ihre Ko-
operation ist spektakulär«, sagt van Dam, doch die
Strategie der Akazie ist spektakulärer: Sie macht die
Ameisen von ihrem Nektar abhängig – den Zucker
anderer Pflanzen können sie nicht mehr verdauen.
Der Wilde Tabak wartet übrigens mit seiner Gift-
attacke: Der Hunger der Raupe, man kennt das von der
Raupe Nimmersatt, wächst mit ihrem Alter exponentiell.
Erst wenn das große Fressen loszugehen droht, startet
die Tabakpflanze ihr Chemielabor. Die Raupe flüchtet
dann zur Nachbarpflanze. Der Feind ist weg, und der
Nachbar nimmt Schaden. Hier kämpft jeder für sich. —

P


flanzen scheinen von Natur aus die per-
fekten Opfer zu sein: Sie können nicht
flüchten, reagieren langsam und wirken
wehrlos. Aber sind sie es auch? Pflanzen
sind modular gebaut, das heißt, alle Funk-
tionen sind auf den gesamten Körper ver-
teilt: Jeder Teil ist wichtig, keiner unverzichtbar. Sie
überleben selbst massive Schädigungen, weil sie alle
Teile nachwachsen lassen können – ein Körper mit Er-
satzteillager. Außerdem verfügen sie mit mindestens
zwanzig Sinnen über ein außergewöhnliches Wahrneh-
mungsvermögen, ihnen entgeht nichts: Wer knabbert
da am Blatt? Welche Waffe muss geladen werden?
Frisst eine Raupe des Tabakschwärmers eine Ta-
bakpflanze an, beschädigt sie dabei Zellen. Ihr Speichel
kommt in Kontakt mit Rezeptoren, die prüfen, wer der
Aggressor ist. Hunderte von Genen werden aktiviert,
das Immunsystem der Pflanze springt an. Verantwort-
lich dafür ist die Jasmonsäure, ein Si gnal stoff, der die
Pflanze in Alarmbereitschaft versetzt: Attacke – Gift
zum angegriffenen Blatt! Für ihre erste Re ak tion braucht
die Pflanze nur wenige Minuten, ein weiteres Abwehrset
dauert länger, manchmal bis zu 72 Stunden.
Droht ein größerer Schaden, greift die Pflanze des-
halb auf die schnellere olfaktorische Kommunikation
zurück: Flüchtige chemische Substanzen informieren
über die Luft auch weiter entfernt liegende Blätter – und
die Nachbarschaft. Je nach Art des Fraßfeindes ändert
sich die Zusammensetzung des Geruchs. »Wir ver-
gleichen das mit dem menschlichen Immunsystem«,
sagt die Molekularökologin Nicole van Dam vom Deut-
schen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung,
»die Abwehr ist flexibel.« Weil Verteidigung aber an-
strengend ist, verschwenden Pflanzen keine Energie und
produzieren abschreckende Substanzen zunächst nur in


Text Hella Kemper Foto Suzanne Saroff
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