Die Zeit Wissen - 01.2020 - 02.2020

(Barry) #1
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G


las und Wasser sind sich
ähnlich: Beide sind trans-
parent und flüssig. Erst im
kalten Zustand als Eis und
abgekühltes Glas werden
sie fest, und man kann sie
halten; vielleicht suche ich deshalb die
Nähe von Gewässern. Kaum ein anderes
Material ist so zerbrechlich und zugleich so
widerstandsfähig. Vor 6000 Jahren haben
die Menschen in der Wüste am Lagerfeuer
entdeckt, dass durch die Hitze der Glut der
Sand schmolz und zu Glas wurde.
Aber Glas ist mehr als Sand. Auf einer
Tontafel aus der Zeit um 650 vor Christus
steht geschrieben: »Nimm 60 Teile Sand,
180 Teile Asche aus Meerespflanzen, 5 Teile
Kreide – und du erhältst Glas.« Auch heute
gehören zur Rezeptur Kalk, Soda und Pott-
asche. Schon während meiner Lehre zum


Glasapparatebläser, als ich Laborgeräte wie
Gährrohre und Reagenzgläser hergestellt
habe, haben mich andere Formen interes-
siert. In der spielerischen Aus ein an der set-
zung mit dem Laborglas entstanden erste
Trinkgefäße und Schmuck. Mit Laborglas
arbeite ich heute noch. Durch seine gerin-
gere Wärmedehnung ist es leicht handhab-
bar. Außerdem ist es sehr haltbar, und es hat
eine perfekte Oberfläche, die sich geradezu
weich anfühlt, sodass es ein sinnliches Erleb-
nis ist, aus einem solchen Glas zu trinken.
Glasblasen vor der Flamme erfordert
alle Aufmerksamkeit – Glas verzeiht nicht:
Zerbricht es, lässt es sich nicht einfach wie-
der einschmelzen. Bei 1265 Grad kann ich
das weiche Glas drücken, ziehen, an ihm
zupfen, es blasen und mit der Schere zer-
schneiden. Vorsichtig nähere ich mich so der
gewünschten Form. Meistens weiß ich, wer

aus dem Glas trinken wird – das hilft mir,
die richtige Form zu finden. Anfangs machte
das Glas nicht immer, was ich wollte, aber
mehr und mehr habe ich es verstehen und
beherrschen gelernt – und nun schenkt es
mir oft eine schöne Form. Da ich ohne
Formwerkzeuge arbeite, sind die Gläser
niemals identisch, sondern nur annähernd
gleich, jedes ist einzigartig. Für einen zarten
Wein sollte die Form klein und geschlossen
sein, damit der Duft nicht verloren geht.
Das perfekte Wasserglas ist zylindrisch.
Um Glasbilder und Reliefs herzustellen,
zerschneide ich farbige Glasscheiben,
zerbrösle sie und schichte die Teile auf ein-
an der, erst im Schmelz ofen erlangen diese
Objekte ihr endgültiges Aussehen – mit allen
Lichtspielen und Spiegelungen, Schatten
und Transparenz. Das Ungewisse des Glases
ist Teil seines Wesens. —

Aufgezeichnet von
Hella Kemper
Fotos
Franziska Gilli,
Robert Fischer

Unser Experte:
Hans-Jürgen
Westphal, 67,
arbeitet seit mehr
als 50 Jahren mit
Glas. Seine Bilder
und Skulpturen
aus Glas finden
sich in zahlreichen
Sammlungen. Er
lebt am Ammersee


ALTES WISSEN

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